PLATON - Gesammelte Werke. Platon
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Sokrates: Wie weiter? Gibst du nicht doch auch eine Erinnerung zu?
Theaitetos: O ja.
Sokrates: An nichts oder an etwas?
Theaitetos: An etwas, versteht sich.
Sokrates: Wohl, was einer erfahren und wahrgenommen hat, an etwas davon?
Theaitetos: Woran sonst?
Sokrates: Und was Jemand gesehen hat, dessen erinnert er sich doch bisweilen?
Theaitetos: Gewiß erinnert er sich.
Sokrates: Auch indem er die Augen verschließt? oder hat er es, sobald er dies tut, vergessen?
Theaitetos: Das wäre ja arg, o Sokrates, das zu behaupten.
(164) Sokrates: Und doch müssen wir es, wenn wir nämlich den vorigen Satz retten wollen; wo nicht, so ist es vorbei mit ihm.
Theaitetos: Auch ich, beim Zeus, merke so etwas, noch begreife ich es aber nicht ganz genau. Sage mir also wie?
Sokrates: So. Wer sieht, sagen wir, hat Erkenntnis bekommen davon, was er sieht. Denn Gesicht und Wahrnehmung und Erkenntnis haben wir zugegeben ist einerlei.
Theaitetos: Nun ja.
Sokrates: Wer nun gesehn und Erkenntnis dessen was er sah bekommen hat, erinnert sich dessen zwar, wenn er auch die Augen verschließt, sieht es aber dann nicht. Nicht so?
Theaitetos: Ganz recht.
Sokrates: Dies Er sieht nicht, heißt aber soviel als Er erkennt nicht, wenn doch Er sieht eben soviel ist als Er erkennt.
Theaitetos: Das ist richtig.
Sokrates: Es folgt also, daß Jemand das, wovon er Erkenntnis bekommen hat, indem er sich dessen erinnert, doch nicht erkennt, weil er es nicht sieht, eben das, Wovon wir gesagt haben, es würde ein Wunder sein, wenn es geschähe.
Theaitetos: Vollkommen recht.
Sokrates: Etwas unmögliches scheint also zu erfolgen, wenn Jemand sagt, Erkenntnis und Wahrnehmung sei dasselbe.
Theaitetos: So scheint es.
Sokrates: Man muß also sagen, Jedes von beiden sei ein anderes.
Theaitetos: So wird es sein müssen.
Sokrates: Was ist also wohl die Erkenntnis? wir müssen es wie es scheint noch einmal von vorne an erklären.
Allein Theaitetos, was sind wir doch im Begriff zu tun?
Theaitetos: Wie so?
Sokrates: Es kommt mir vor, als ob wir nach Art eines schlechten Hahns, ehe wir noch gesiegt haben, und von der Sache abspringend unser Siegsgeschrei anstimmten.
Theaitetos: Wie so denn?
Sokrates: Grade als ob es uns nur um des Widerspruchs halber wäre, scheinen wir bloß den Worten nachgehend unsere Gegenbehauptung aufgestellt zu haben, und indem wir durch solche Mittel den Satz überwunden ganz zufrieden zu sein; und da wir doch behaupten keine Kunstfechter zu sein, sondern Weisheitsfreunde, tun wir dennoch unvermerkt grade dasselbe wie jene gewaltigen Männer.
Theaitetos: Ich verstehe noch immer nicht wie du es meinst.
Sokrates: So will ich denn versuchen, dir deutlich zu machen, was ich doch von der Sache merke. Wir fragten, ob wohl, wenn Jemand etwas erfahren hat, und sich dessen erinnert, er es doch nicht erkenne; und nachdem wir gezeigt hatten, daß wer etwas gesehen hat und dann die Augen verschließt, sich nun dessen erinnert, es aber nicht mehr sieht, zeigten wir, daß er sich erinnere, aber nicht mehr erkenne; dieses aber sei unmöglich, und so ging die Sache verloren, die Protagoreische sowohl als auch zugleich die deinige von Erkenntnis und Wahrnehmung, daß beides einerlei ist.
Theaitetos: Offenbar.
Sokrates: Wäre aber, glaube ich, nicht verloren gegangen, Lieber, wenn nur der Vater der andern Lehre noch lebte, sondern dieser würde ihr noch auf vielerlei Art zu Hülfe gekommen sein. Nun aber, da sie verwaiset ist, mißhandeln wir sie, zumal auch nicht einmal die Vormünder, welchen Protagoras sie übergeben hat, ihr zu Hülfe kommen wollen, von denen auch Theodoros hier einer ist. Sondern es scheint, wir selbst werden ihr der Billigkeit wegen beistehen müssen.
Theodoros: Nicht ich, o Sokrates, sondern vielmehr Kallias, der Sohn des Hipponikos, ist Vormund für seine Angelegenheiten. Ich aber habe mich ziemlich bald aus dem bloßen (165) Denken in die Meßkunst gerettet. Dennoch aber werde ich es dir Dank wissen, wenn du ihm beistehst.
Sokrates: Wohl gesprochen, Theodoros. So betrachte nun meine Hülfleistung. Nämlich es muß Jemand noch viel gewaltigere Dinge zugestehen als die vorigen, wenn er nicht genau auf die Worte Acht hat, so wie wir gewöhnlich pflegen zu bejahen oder zu verneinen. Soll ich dir sagen Wie, oder dem Theaitetos?
Theodoros: Beiden gemeinschaftlich, Sokrates. Antworten aber mag dir der jüngere; denn wenn er fehlt, wird es ihm weniger übel stehn.
Sokrates: So will ich denn gleich die gewaltigste Frage vorbringen. Das ist aber, glaube ich, eine solche: Ist es wohl möglich, daß derselbe Mensch, der etwas weiß, das was er weiß zugleich auch nicht wisse?
Theodoros: Was wollen wir hierauf antworten, Theaitetos?
Theaitetos: Ich meines Teils halte es für unmöglich.
Sokrates: Keinesweges, wenn du nämlich sagst, das Sehen sei Erkennen. Denn was willst du mit der verfänglichen Frage machen, wenn du einmal, wie man sagt, in die Falle gegangen bist, und ein zudringlicher Mensch dir mit der Hand das eine Auge zuhält, und dich fragt, ob du mit dem zugehaltenen den Mantel sähest?
Theaitetos: Ich werde sagen, mit diesem zwar nicht, wohl aber mit dem andern.
Sokrates: Also siehst du doch zu gleicher Zeit dasselbe, und siehst es auch nicht.
Theaitetos: Auf gewisse Weise wohl.
Sokrates: Ich begehre ja gar nichts, sagt er alsdann, von der Art und Weise, habe auch darnach gar nicht gefragt, sondern nur, ob was du erkennst, du dieses auch nicht erkennst? Nun aber zeigt sich, daß du siehst, was du auch nicht siehst. Und eingestanden hast du vorher, das Sehen sei Erkennen, und das Nichtsehen Nichterkennen. So berechne nun selbst, was dir hieraus entsteht.
Theaitetos: Ich berechne schon, das Gegenteil dessen was ich vorausgesetzt.
Sokrates: Wahrscheinlich, du Wunderbarer, würde dir noch mehr dergleichen begegnen, wenn dich Jemand noch außerdem fragte, ob man wohl auch könne scharf erkennen und auch stumpf, oder von nahebei zwar erkennen, von weitem aber nicht, und eben so laut und leise, und tausend dergleichen, was ein leichtbewaffneter Mann, ein Söldner in Reden in den Hinterhalt legen, und wenn du Erkenntnis und Wahrnehmung als dasselbe gesetzt hast, auf das Hören und Riechen und diese Arten von Wahrnehmungen losgehend dich widerlegen würde, nicht nachlassend sondern immer eindringend, bis du in Bewunderung seiner verwünschten Weisheit ganz verstrickt würdest, wodurch er dich in seine Gewalt und Gewahrsam bekäme, und dich dann loslassen würde nur für soviel Geld, als du mit ihm übereinkommen könntest. Was für eine hülfreiche Rede würde also wohl, fragst du vielleicht, Protagoras für seine Lehre herbeibringen? Sollen wir nicht versuchen, sie vorzutragen?
Theaitetos: Auf alle Weise.
Sokrates: