Ich glaubte immer an die Kraft in mir. Bianca Sissing

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Ich glaubte immer an die Kraft in mir - Bianca Sissing


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weiter entwickelt war als andere neunjährige Mädchen, obendrein seelisch schon viel erlebt hatte, sah ich älter aus und verhielt mich auch dementsprechend, sodass die meisten Leute dachten, dass ich etwa 13 Jahre alt wäre. Ich war meistens einer der ersten Fahrgäste im Bus und setzte mich ganz nach vorn in die Nähe des Fahrers, sodass er, falls nötig, jemanden davon abhalten könnte, mich zu belästigen. Dadurch fühlte ich mich etwas sicherer. Manchmal versuchte die Person neben mir, sich mit mir zu unterhalten. Aber ich antwortete nur ganz knapp, bis sie es schließlich jeweils aufgaben. Im Bus habe ich gelesen, Schularbeiten gemacht, Musik gehört oder manchmal einfach nur aus dem Fenster geschaut. Ich erinnere mich, dass ich, auch wenn es draußen dunkel war, zuweilen nur in die Dunkelheit starrte und meinen Gedanken erlaubte, mich davonzutragen. Ich dachte viel über mein Leben nach, über meine Erlebnisse. Ich malte mir aus, was ich verändern würde, wenn ich könnte, wie ich meine Kindheit ganz neu gestalten würde, und wie meine Zukunft aussehen könnte. Ich hatte Tagträume darüber, was ich tun und kaufen würde, wenn ich viel Geld hätte, und vieles mehr. Dann schlief ich meistens irgendwann ein.

      Oft passierte es, dass Mom nicht da war, wenn ich in Ottawa im Busbahnhof ankam. Wenn ich sie innerhalb von zehn Minuten nicht finden konnte, rief ich zu Hause an. Manchmal schlief sie und wurde erst durch das Läuten des Telefons geweckt. Dann war sie nachmittags eingeschlafen, ohne den Wecker gestellt zu haben, weil sie dachte, dass sie rechtzeitig aufwachen würde, oder sie schlief so fest, dass sie den Wecker nicht hörte. Wenn das passierte, nahm ich meistens ein Taxi, und sie bezahlte es, wenn ich nach Hause kam, oder ich bezahlte es mit dem Geld, das Dad mir gegeben hatte.

      War ich verärgert, wenn Mom nicht da war? Die ersten paar Male war ich enttäuscht, weil ich dachte, dass sie sich mehr bemühen könnte, für mich da zu sein. Irgendwann gewöhnte ich mich daran, mit einer chronisch depressiven Mutter zu leben; ich begann, die Krankheit besser zu verstehen, und versuchte, verständnisvoll zu sein und mich nicht zu ärgern. Ich verstand, dass es nichts damit zu tun hatte, dass sie faul war oder nicht aufstehen wollte. Natürlich wollte sie kommen, um mich abzuholen. Es waren die komplexen Funktionen im Gehirn, die bei einem Menschen mit einer schweren Depression anders ablaufen. Es war nicht meine Mutter, die nicht konnte. Es waren die nicht funktionierenden Gehirnrezeptoren und das Ungleichgewicht der Hormone, die sie sozusagen über ihre eigenen Möglichkeiten hinaus, sich zu kontrollieren, manipulierten. Für viele mag das schwer zu verstehen sein, insbesondere, wenn sie mit schwer depressiven Menschen keine Erfahrungen haben. Doch als ich erst einmal verstanden hatte, dass das Gehirn und die Hormone in einem Menschen mit dieser Krankheit anders funktionieren, war es für mich leichter zu verstehen, warum meine Mom bestimmte Dinge tat oder eben nicht tat.

      Damit möchte ich nicht alles entschuldigen oder sagen, dass wir einfach jegliches Verhalten, das uns begegnet, akzeptieren sollten. Natürlich haben wir ein Recht auf unsere Gefühle, Emotionen, Gedanken und Meinungen. Wenn wir es jedoch mit schwer depressiven Menschen zu tun haben oder mit denen, die in der Vergangenheit schwere Depressionen hatten, dann sollten wir unser Ego beiseiteschieben (was wir ohnehin tun sollten!), und uns der Tatsache bewusst sein, dass deren chemische Konstitution, ihre Gehirnfunktionen und ihre Gedankenmuster anders ablaufen. Ich möchte dieses Thema hier nicht ausweiten. Interessiert dich das Thema, dann kannst du mehr darüber in dem Kapitel Was kann ich tun und wie? lesen.

      Manchmal, wenn Mom nicht am Busbahnhof war, hörte ich die Ansage durch den Lautsprecher: »Bianca Sissing, Sie haben eine Nachricht erhalten. Bitte kommen Sie zur Information.« Ich wusste, was das hieß, Mom war zu spät, aber auf dem Weg. Also wartete ich. Das wurden dann jeweils lange Nächte. Die Fahrt nach Hause vom Busbahnhof dauerte etwa eine Stunde, wenn wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln fuhren, was wir meistens taten, weil Taxis zu teuer waren.

      An einen Sonntag kann ich mich besonders gut erinnern. Mom oder Dad wussten die Zeit, zu der ich jeweils ankommen sollte und sie würden am Busbahnhof warten, um mich abzuholen. Meistens war meine Ankunftszeit dieselbe, trotzdem riefen sie sicherheitshalber immer noch einmal an, bevor ich abfuhr. An diesem besonderen Sonntag konnte Dad Mom nicht erreichen, bevor ich in den Bus einstieg. Dad und ich entschieden, dass ich in den Bus einsteigen sollte, er hätte ja noch fünfeinhalb Stunden Zeit, Mom zur Sicherheit anzurufen. Das sollte eigentlich genug Zeit sein. Es war Sonntagabend und ich sollte zwischen 21.30 Uhr und 22.00 Uhr in Ottawa ankommen.

      Der Bus fuhr in den Busbahnhof, aber ich konnte Mom nirgends entdecken. Ich nahm meine Sachen, verließ den Bus und ging in die Wartehalle. Mom war nicht zu sehen. Ich dachte, vielleicht ist sie in der Toilette oder kauft etwas zu trinken. Ich ging in die Toiletten. Keine Mom! Ich ging ins Restaurant und schaute an jedem Tisch nach. Keine Mom! Ich dachte, vielleicht hat sie mir eine Nachricht hinterlassen, aber sie haben vergessen, es auszurufen. Ich ging zum Fahrkartenschalter, sagte meinen Namen und fragte, ob dort eine Nachricht für mich hinterlegt wäre. Keine Nachricht! Ich rief zu Hause an. Vielleicht war sie eingeschlafen und das Telefon würde sie aufwecken. Das Telefon klingelt und klingelte und klingelte … keine Mom! Der Busbahnhof war wirklich nicht groß, weniger als ein halbes Fußballfeld, und es wäre schon schwierig gewesen, jemanden nicht zu sehen oder zu finden, wenn sie da gewesen wäre. Trotzdem dachte ich, dass vielleicht doch die Möglichkeit bestand, dass wir bei all diesem hin und her laufen irgendwo aneinander vorbeigelaufen wären. Also setzte ich mich mitten im Busbahnhof auf eine Bank und wartete.

      Später rief ich Dad an und schilderte ihm die Situation. Er meinte, dass es auch ihm nicht möglich gewesen wäre, Mom zu erreichen, und weil wir damals noch keinen Anrufbeantworter hatten, konnte er auch keine Nachricht hinterlassen. Doch er meinte, dass sie eigentlich wissen müsste, wann ich ankomme, weil ich meistens zur selben Zeit ankam. Ich verließ Toronto immer um 16.00 Uhr und kam gegen 21.30 Uhr in Ottawa an. Vielleicht war sie zu spät los und auf dem Weg. Damals gab es keine Möglichkeit, Mom zu erreichen. Ich wartete eine weitere halbe Stunde. Keine Mom! Ich rief Dad wieder an. Inzwischen war es etwa 22.30 Uhr. Ich war zwölf Jahre alt und Sonntagnacht allein mitten in der Stadt im Busbahnhof. Ein paar Nachzügler schwirrten herum, aber das waren keine Leute, mit denen ich allein in einem Busbahnhof hätte sein wollen. Wir mussten eine Entscheidung treffen. Ich konnte hier nicht so lange allein sitzen. Das war zu gefährlich. Dad und ich entschieden dann, dass es das Sicherste wäre, wenn ich nach Toronto zurückkehren würde. Der nächste Bus fuhr in zwei Stunden, eine halbe Stunde nach Mitternacht. Und es war ein regionaler Bus, das hieß, dass er auf dem Weg in vielen Städten halten und sieben Stunden brauchen würde. Das wäre nicht sehr angenehm. Doch es war das Einzige, was ich tun konnte.

      Während der nächsten zwei Stunden versuchten wir beide, Mom zu Hause anzurufen. Keine Mom. Um 0.30 Uhr bestieg ich den Bus zurück nach Toronto. Ich schlief im Bus so gut und so viel ich konnte. Doch jedes Mal, wenn er anhielt, wachte ich auf, und er hielt etwa alle vierzig Minuten. Ich war also sehr erschöpft, als ich in Toronto ankam. Es war 7.30 Uhr. Dad holte mich ab und nahm mich mit in sein Haus. Ich ging schlafen und er ging arbeiten. Als ich etwa zur Mittagszeit aufwachte und mit Dad sprach, sagte er, dass er endlich mit Mom telefoniert hätte und dass ich sie zu Hause anrufen solle. »Hallo?«

      »Ja, ich bin’s.«

      »Schatz, ist alles in Ordnung? Es tut mir sooo unendlich leid! Ich war …«

      Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Ich war enttäuscht, traurig, wütend und auch froh, dass es ihr gut ging. Ich wusste nicht, ob etwas Schlimmes mit Mom passiert war und warum wir sie nicht hatten erreichen können. Dieses Verhalten war nicht typisch für sie und dann denkt man automatisch an das Schlimmste. Vielleicht hatte sie irgendwo eine Panikattacke oder einen psychischen Zusammenbruch und brauchte Hilfe? Gedanken wie diese waren immer in meinem Kopf. Ich antwortete halb besorgt und halb abrupt: »Wo warst du? Ich dachte schon, es sei dir etwas zugestoßen.«

      Es war ein langes Wochenende gewesen, Montag war ein Feiertag. Ich hatte keine Schule, aber Dad musste arbeiten. In Toronto hatten Dad und ich gedacht, es sei logisch, dass ich Sonntag zurückfahren würde, weil er am Montag ohnehin arbeiten musste. In Ottawa dachte Mom, dass ich einen Tag länger bleiben würde, weil es ein langes Wochenende war. Sie war mit Freunden zusammen gewesen. Am späten Montagnachmittag bestieg ich in Toronto erneut den Bus und fuhr wieder nach Ottawa zurück.

      Dieses Erlebnis ließ mich psychisch etwa drei Jahre älter werden. In diesen Stunden lernte


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