Ich glaubte immer an die Kraft in mir. Bianca Sissing

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Ich glaubte immer an die Kraft in mir - Bianca Sissing


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mich niemand belästigt. Ich musste stark sein, um diese Nacht zu überstehen. Ich durfte nicht traurig oder unsicher wirken, damit mich niemand belästigt. Ich musste so ruhig und gesammelt bleiben wie möglich, um nicht bemerkt zu werden, musste mir den Anschein geben, dass alles so war, wie es sein sollte, um so wenig Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen wie möglich. Ein 12-jähriges Mädchen allein, mitten in der Nacht, mitten in der Stadt. Das war keine schöne Situation. Ich musste wach bleiben. Ich musste ruhig bleiben. Ich musste das Pokergesicht aufsetzen und so wirken, als ob alles in Ordnung wäre. Aber innerlich war ich ein hundemüdes junges Mädchen, das nur ihre Mom sehen und zu Hause ins Bett gehen wollte.

      Nach diesem Vorfall bekam ich einen Wohnungsschlüssel und wir einen automatischen Anrufbeantworter.

      Ich fuhr diese Strecke zwischen Ottawa und Toronto hin und her, bis ich mit 18 Jahren das Gymnasium verließ und zur Universität ging.

      Obdachlose

       »Das Leben ist wie ein Wassertropfen. Es bewegt sich, es verändert sich und transformiert. So wie wir ohne Wasser nicht leben können, so können wir nicht ohne Veränderung leben.«

      Manchmal kann etwas, das süß beginnt, sich allmählich zu etwas Saurem entwickeln. So etwas passierte traurigerweise, als wir mit meinem Onkel und seiner Frau zusammenlebten. Am Anfang war es richtig schön, wie in einer kleinen Familie.

      Wir genossen zusammen den Sommer. Ich versuchte ein paar Mal, mit meinem Onkel zu joggen. Manchmal haben wir zusammen gekocht, machten Popcorn oder schauten uns Filme an. Mein Onkel fing sogar an, mir zu zeigen, wie man elektrische Gitarre spielt. Im Herbst ging ich wieder zur Schule, die ziemlich weit von unserem Wohnort entfernt auf dem Land lag. Der Schulbus holte mich morgens ab und brachte mich nach der Schule wieder nach Hause.

      Aber manchmal war es nicht mehr schön, dann hatten Mom und mein Onkel Unstimmigkeiten. Ich erinnere mich daran, dass sich mein Onkel eines Tages in der Einfahrt in Moms Auto setzte und das Auto in seiner eigenen Garage zerdepperte. Frag mich nicht, wie und warum das passiert ist. Es ist passiert. Unser kleiner Frosch lag in Trümmern. Das Auto war so alt und verrostet, dass es sich nicht mehr lohnte, es zu reparieren. Die Reparatur hätte zu viel gekostet, sodass es billiger gewesen wäre, ein »neues« gebrauchtes Auto zu kaufen, wenn man das Geld gehabt hätte. Das hieß also, dass Mom nicht einmal mehr ein Auto hatte.

      Ich weiß, ein Auto ist nur ein Auto, ein materieller Besitz. Aber wenn du arm bist, ist ein Auto viel mehr als eine Metallkiste auf Rädern. Für uns war unser Datsun ein Symbol von Freiheit, ein Vergnügungsobjekt und Teil unserer kleinen Familie. Wir konnten uns jederzeit ins Auto setzen und fahren, wohin wir wollten. Wir wussten, dass es immer für uns da war, um uns dahin zu bringen, wo auch immer wir hinmussten. Das war wie ein Stück Freiheit. Manchmal haben wir uns ins Auto gesetzt und sind einfach drauflos gefahren. Wir unternahmen Abenteuerfahrten und erkundeten neue Nachbarschaften. Wir konnten unsere Freunde besuchen, wenn wir uns nicht wohl dabei fühlten, dass sie zu uns kamen. Unser Auto war unsere Unterhaltung und unser Vergnügen.

      So ging die Stimmung hoch und runter. Alle haben sich sehr bemüht, es vor mir zu verstecken. Doch ich konnte fühlen, wie sich die Spannung aufbaute. Eines Nachts war es, als wenn eine Bombe explodierte.

      Und dann erlebte ich eine der dramatischsten Erfahrungen in Bezug auf Wohnsituationen – wir hatten ganz plötzlich keine Unterkunft mehr.

      Mom war seelisch immer noch instabil und nicht in der Lage zu arbeiten. Also lebten wir von ein paar Dollar pro Tag vom Amt. Wir wohnten jetzt seit etwa fünf Monaten bei Tom und Nancy. Es hatte bereits ein paar unangenehme Zusammenstöße gegeben, und in dieser besonderen Nacht explodierte alles, und die Milch wurde sauer. Ich kann mich nicht daran erinnern, was genau in dieser Nacht passierte. Ich war erst neun Jahre alt und sehr schüchtern. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, dass Mom und ihr Bruder eine Auseinandersetzung hatten und sehr aufgebracht waren. Mom fühlte sich in dem Haus nicht mehr sicher und hatte das Gefühl, dass sie es sofort mit mir verlassen müsste. Wir hatten kein Auto. Wir hatten kein Geld für ein Taxi, für ein Hotel oder für irgendetwas anderes, und trotzdem wollte Mom nur weg.

      Mom rief die Polizei an, die auch sofort kam. Sie versuchte, die Situation für uns alle zu bereinigen. Doch diese war zu verfahren und konnte nicht gerettet werden. Der Polizist fragte Mom, was sie tun wolle. Sie wollte diesen Ort noch in der Nacht verlassen. Er telefonierte ein paar Mal und sagte uns, dass wir unsere Sachen packen sollten, eine Tasche für die Nacht mit ein paar persönlichen Dingen und Kleidung für ein paar Tage. Also packten wir das Nötigste zusammen und verließen das Haus meines Onkels auf dem Rücksitz eines Polizeiautos. Es war mitten in der Nacht und stockdunkel. Mom und ich fuhren durch diese für uns immer noch neue Stadt. Wir hatten keine Ahnung, wohin die Reise ging. Alles, was wir hatten, waren wir beide, und jeder von uns trug einen kleinen Rucksack. Dann sagte der Polizist, dass er uns eine Unterkunft besorgen würde, eine Herberge, in der Leute unterkamen, die kein Zuhause hatten. Er meinte, dass dies wohl nicht die beste Lösung sei, doch jetzt, mitten in der Nacht, könne er nichts weiter für uns tun. Er sagte, es wäre nicht schön da, doch wenigstens hätten wir einen eigenen Raum und ein Bett, in dem wir schlafen könnten.

      Wir kamen an der Schlafstelle an. Sie lag mitten in der Stadt, in der Nähe eines Parks. Draußen hingen ein paar einsame Leute herum. Sie rauchten und ein paar Bierflaschen und -dosen flogen da herum. Wir gingen hinein. Der Polizist brachte uns zur Aufnahmetheke und sagte, dass er angerufen hätte, um ein Zimmer zu bestellen. Er wandte sich an uns, wünschte uns alles Gute und ging. Jetzt waren wir Obdachlose.

      Wir gingen in das Zimmer. Es war klein und einfach, hatte nur die nötigsten Möbel, die aussahen wie aus den Fünfzigerjahren. Da standen zwei einzelne Betten. Ich weiß noch, dass ich gefroren habe, obwohl der Raum warm war. Was kann man anderes erwarten, es war mitten in der Nacht, ich war müde und verwirrt und an einem sonderbaren Ort.

      Am nächsten Morgen haben wir lange geschlafen und kamen daher leider zu spät zum Frühstück. Das Frühstück in dem Obdachlosenheim kostete nur ein paar Dollar, ein Sonderpreis für arme heimatlose Menschen. Jetzt, nachdem wir das Frühstück verpasst hatten, mussten wir etwas anderes finden, wo wir einen Teller voll Essen für ein paar Dollar bekommen konnten. Fast unmöglich! Wir gingen durch die Straßen der Stadt und schauten uns nach einem kleinen, aber sauber aussehenden Restaurant um. Glücklicherweise brauchten wir nicht allzu weit gehen, bis wir etwas fanden, das wie ein sicherer Ort aussah, an dem wir unsere Zeit verbringen und ein einfaches, preiswertes Essen bekommen konnten. Es war ein kleines, amerikanisch aussehendes Restaurant, wie man es öfter in Filmen sieht. Wir gingen hinein und setzten uns auf die einzigen beiden freien Plätze, zwei Barhocker an der Theke. Der Raum war voller Bauarbeiter, Rentner und Leuten, die so aussahen, als wenn sie keinen anderen Platz hätten, wohin sie hätten gehen können, so ungefähr wie wir. Wir fielen auf wie zwei Tomaten in einem Gurkensalat – eine junge Mutter und ihre Tochter. Ich war neun Jahre alt, als wir in diesem Restaurant saßen, und man sah einfach durch die Art und Weise, wie wir uns bewegten und redeten, dass Orte wie dieser nicht unsere gewohnte Umgebung waren. Der Kellner war freundlich und bediente uns genauso wie jeden anderen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was wir bestellten, aber es war bescheiden. Als wir bezahlen mussten, fehlten uns drei oder vier Dollar. Der Kellner hatte sofort erkannt, dass wir gute Menschen waren, aber in einer schwierigen Situation, er machte daher kein großes Theater wegen der paar fehlenden Dollar.

      Wir lebten ungefähr zwei Wochen in dieser Unterkunft. Die ersten paar Tage waren schwierig. Das Haus war voller seltsamer Menschen, die Art von Leuten, bei denen du dir nicht sicher bist, ob du »Guten Tag« sagen sollst oder nicht. Die haben einen Ausdruck im Gesicht, der dich vermuten lässt, dass zwei Dinge passieren könnten. Wenn du »Hallo« sagst, reißen sie dir den Kopf ab, weil sie nicht gestört werden wollen. Oder, wenn du nicht »Hallo« sagst, reißen sie dir den Kopf ab, weil du ihnen nicht den Respekt entgegengebracht hast. Nach den ersten paar schrecklichen Tagen gewöhnt man sich daran, in so einem Haus gelandet zu sein. Wir hatten ein Zimmer, ein Bett und ein Badezimmer. Doch das Wichtigste war, dass wir einander hatten.

      Durch das Leben in dieser Herberge habe ich viel gelernt. Eines der wichtigsten Dinge war, dass wir Menschen gegenüber immer freundlich sein sollten. Nur weil uns jemand fremd ist und wir ihn nicht kennen, heißt das


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