Soziale Arbeit. Johannes Schilling

Читать онлайн книгу.

Soziale Arbeit - Johannes Schilling


Скачать книгу
Erste Weltkrieg bedeutete einen zentralen Einschnitt in die Entwicklung der Fürsorge in Deutschland. Dies vor allem in zwei Bereichen:

      ■ Versorgung der Familien, deren Ernährer in den Krieg eingezogen waren. Sie wurden durch eine Familienunterstützung und Wochenhilfe aus der Kriegsfürsorge unterstützt.

      ■ Versorgung durch Kriegsbeschädigten- und Kriegshinterbliebenenfürsorge von 1919/1920. Damit veränderte sich die Zielgruppe der Fürsorge entscheidend.

       Kriegsfürsorge, Kriegswohlfahrtspflege

      Man musste nun zwischen Armenfürsorge und Kriegswohlfahrtspflege unterscheiden. Wer Kriegsfürsorge erhielt, brauchte nicht die Voraussetzungen einer Armenhilfe zu erfüllen. Die zum Militärdienst eingezogenen Männer hinterließen in der Regel Familien ohne angemessenen Unterhalt. Damit erweiterte sich der Kreis der Unterstützungsberechtigten. Der Kriegshinterbliebenenfürsorge sollte jedoch im Gegensatz zur Armenfürsorge nichts Diskriminierendes anhaften. Im Gegenteil, der Begriff „Fürsorge“ erhielt eine Veredelung der Klangfarbe durch die Kriegswohlfahrtspflege: Es galten besondere Maßstäbe, die dem Opfer, das die Kriegsteilnehmer dem Vaterland gebracht hatten, Rechnung tragen sollten. Begrifflich und sachlich wurde deutlich zwischen „Kriegsfürsorge“ und „Kriegswohlfahrtspflege“ unterschieden. Der Unterschied zwischen diesen beiden Einrichtungen bestand darin, dass Erstere einen versorgungsähnlichen Charakter hatte und Letztere eine freiwillige Unterstützungsleistung darstellte. Im Lauf des Krieges wurde eine Reihe von sozialpolitischen Forderungen der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie verwirklicht: Anerkennung der Gewerkschaften, Koalitionsfreiheit, Tarifvertragswesen, Schlichtungswesen. Die Organisation des Arbeitsmarktes wurde als Staatsaufgabe anerkannt, Arbeitsnachweis und Erwerbswesenunterstützung wurden eingerichtet, der Mieterschutz und eine Wohnungspolitik des Reiches aufgebaut. Insofern erwies sich der Krieg als Schrittmacher der Sozialpolitik (Sachße/Tennstedt 1988, 64).

       Weimarer Republik

      Nach dem Ersten Weltkrieg sollte der neue Volksstaat (Ausrufung der Republik am 9.11.1918) nicht mehr bloß ein Rechtsstaat sein, sondern ein Staat, dessen BürgerInnen Gleichheit vor dem Gesetz erhielten und dem es um die Volkswohlfahrt als Sozialpolitik ging. Man wollte nicht zu dem alten System der Armenpflege zurückkehren, sondern der Staat übernahm mit der 1919 erlassenen Verfassung die Zuständigkeit für die Regelung der gesamten Sozialpolitik und insbesondere der Fürsorge.

       neue Sozialgesetze

      Die Gesetzesinitiative der Nachkriegszeit ging zunächst vom Reichsarbeitsministerium aus, mit spezifischen Sonderfürsorgen für die verschiedenen Gruppen der Opfer von Krieg und Inflation. Es wurden eine Reihe von Gesetzen erlassen, z. B.:

      ■ Kriegsopferversorgung für Kriegshinterbliebene und Kriegsbeschädigte

      ■ Sozial- und Kleinrenten für Inflationsopfer

      ■ Regelung für den Erwerbslosen in der „Verordnung über Erwerbslosenfürsorge“ von 1918, Neuregelung 1923

      ■ Kinder- und Jugendfürsorge – „Reichsjugendwohlfahrtsgesetz“ (RJWG) 1922/1924

      ■ Regelungen der sozialen Hygiene und Gesundheitsfürsorge mit der Zielvorgabe der Prophylaxe und Früherkennung und Ausgestaltung der Wohnungsfürsorge – „Reichsfürsorgepflichtverordnung“ (RVO) 1924/25

       Wohlfahrtspflege

      Die Entwicklung der Wohlfahrtspflege in der Weimarer Zeit ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet:

      1. Zentralisierung der Wohlfahrtspflege, das Reich übernahm zunehmend die Aufgaben.

      2. Statusanhebung der Fürsorgeempfänger, durch den Krieg wurden auch viele aus den gehobenen Schichten zu Empfängern von Unterstützung.

       Jugend-, Wohlfahrts-, Gesundheitsamt

      1918 entstand das Preußische Ministerium für Volkswohlfahrt als erste zentralisierende Ausführungs- und Verwaltungsbehörde der Länder auf dem Gebiet der Fürsorge. 1924 wurde die „Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht“ erlassen, in der die Grundprinzipien der Fürsorge geregelt wurden. Diese Reichsverordnung fasste die Einzelregelungen zusammen und übertrug sie einem einheitlichen Träger. Die Armenhäuser wurden umbenannt in Fürsorge- bzw. Wohlfahrtsämter. Es wurden die klassischen Ämter geschaffen: Jugendamt, Wohlfahrtsamt und Gesundheitsamt.

       fünf Entwicklungslinien

      Die Reihe der Gesetzgebung schloss 1927 mit dem Gesetz der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Nach Sachße und Tennstedt lassen sich fünf Entwicklungslinien der Wohlfahrtspflegeentwicklung erkennen:

      1. Öffnung der Wohlfahrtspflege zur Mitte der Gesellschaft hin, eine neue Definition von Armut wurde notwendig; in der Notgemeinschaft des Krieges verloren die bisherigen Kriterien ihre Gültigkeit.

      2. Konflikte zwischen Reich und Gemeinden. Das Reich wurde zur zentralstaatlichen Steuerungsinstanz in der Wohlfahrtspflege.

      3. Duale Strukturen der Wohlfahrtspflege. Es entstand das für Deutschland charakteristische duale System der Wohlfahrtspflege, d. h. die Regelung des Verhältnisses öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege nach dem Subsidiaritätsprinzip.

      4. Politisierung der Wohlfahrtspflege. Über die Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates stritten sich die demokratischen Parteien mit je unterschiedlichen Positionen.

      5. Wohlfahrtspflege und Arbeitsmarkt. Das Problem der Arbeitslosigkeit spielte in der Fürsorge eine große Rolle. Der Erfolg der Maßnahmen und Leistungen hing entschieden vom Funktionieren des Arbeitsmarktes ab (Sachße/Tennstedt 1988, 213–217).

      Anzumerken ist noch, dass 1923 der Begriff „Armenpflege“ durch den der „Wohlfahrtspflege“ ersetzt wurde.

      Der Prozess der Vergesellschaftung der Fürsorge unterscheidet sich deutlich von den vorausgegangenen Strukturmustern der Armut und Hilfe. Es war nach und nach etwas qualitativ Neues entstanden. Die alte polizeiliche Armenpflege, dann Fürsorge und Wohlfahrtspflege, sollte im 20. Jahrhundert schließlich die heutige Soziale Arbeit werden.

       Wohlfahrtspflege statt Armenpflege

      Die soziale Gesetzgebung der Bismarckschen Zeit war eine Arbeitergesetzgebung, die Sozialversicherung eine Arbeiterversicherung. In der Wohlfahrtspflege ging es nun darum, sich gegen diese Sozialpolitik des Staates abzugrenzen und nach der eigenen Legitimation zu fragen. In den zahlreichen theoretischen Bemühungen dieser Zeit geht es um eine begriffliche Klärung und Abgrenzung der beiden großen Arbeitsgebiete, der Sozialpolitik und der Wohlfahrtspflege der freien Verbände. Man suchte nach den wesensgemäßen Unterschieden. Das entscheidend Neue entwickelte sich aus der Sicht des Menschenbildes. Die alte Armen- und Wohlfahrtspflege berücksichtigte nur den „halben Menschen“, d. h. die äußere Seite der menschlichen Not: Nahrung, Kleidung, Obdach, Moral und Bildung. Der neue Prozess der Fürsorge richtete sich zunehmend auf die zweite, die innere Seite des Menschen, auf seine innere Natur. Armut wird begleitet von einem Armutsbewusstsein, einem seelischen Erleiden der Armut. Nicht die Armut als solche, sondern das Erleben der Armut wird zum Gegenstand der Fürsorge. Die alte Erziehung ging z. B. von den Schwierigkeiten aus, die das Kind machte, die neue von denen, die das Kind hatte.

       neues Armutsbewusstsein

      Die Verschiebung auf die Innenseite des Menschen besagt jedoch nicht, dass man der materiellen Not keine Beachtung schenkte, es fand vielmehr eine Umwertung hin zum ganzen Menschen statt.

      „Erst als durch den Ausbau der Versicherungsanstalten für die gleichsam ‚normalen‘ Existenzrisiken von Krankheit, Invalidität, Verwaisung, Alter und Tod unabhängig vom Einzelfall und vom einzelnen Helferwillen ein prinzipielles Recht auf Hilfe institutionalisiert wurde, erhielt die Fürsorge die Möglichkeit einer prinzipiellen Abgrenzung von der Sozialpolitik wie sie durch den Rückgang auf das innere Leiden und die


Скачать книгу