Toxikologie für alle. Helmut Greim
Читать онлайн книгу.id="ulink_b7976cbb-f042-582e-a6b4-fdd6df7005f2">Kinder sind wie Erwachsene über die Nahrung, Atemluft aber auch dermal exponiert. Dazu kommen Spielsachen, die über Mund- oder Hautkontakt zur Exposition beitragen wie auch der sog. Hand-zu-Mund-Kontakt gegenüber Hausstaub beim Krabbeln oder In-den-Mundstecken von Gegenständen und Erde beim Spielen im Freien. Wegen der vielen zu berücksichtigenden Parameter sind präzise Angaben zur Exposition kaum möglich, sodass zumeist vom ungünstigsten Fall ausgegangen wird und damit die Exposition häufig überschätzt wird. Präzise Daten zur Freisetzung von Schadstoffen aus Spielzeug oder Gegenständen, mit denen z. B. Kleinkinder in Kontakt kommen, lassen sich durch sog. Migrationsstudien ermitteln. Dabei wird die Freisetzung der Substanzen aus dem untersuchten Material pro Zeiteinheit und Oberfläche ermittelt. Indem man davon ausgeht, dass ein Kind den Gegenstand täglich 1 h lang in den Mund steckt, lässt sich zumindest die äußere Exposition bestimmen und unter Berücksichtigung der Resorptionsraten auch die tatsächlich in den Körper gelangte Menge (innere Exposition) abschätzen. Präzise Angaben bekommt man allerdings nur durch den Nachweis der Substanzen im Blut oder Urin, d. h. durch sog. Biomonitoring-Verfahren, die eine Abschätzung der inneren Exposition erlauben.
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Äußere und innere Exposition
Die Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Exposition ist insofern wichtig, als die äußere Exposition nur die Konzentration der Substanzen in der Nahrung oder Luft angibt, dies aber keine präzise Aussage über die tatsächliche Belastung des Menschen erlaubt. So wurde vermutet, dass Krabbelkinder in Wohnungen, in denen der Hausstaub hoch mit polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK) belastet war, durch Hand-zu-Mund-Kontakt und Verschlucken des Staubes hoch belastet sein müssten. Die Bestimmung der PAK im Urin der Kinder im Rahmen einer sog. Biomonitoring-Studie hat jedoch ergeben, dass die Konzentrationen im Vergleich zu anderen, unbelasteten Kindern nicht erhöht waren. Diese Diskrepanz lässt sich mit einer Überschätzung der verschluckten Staubmenge, der Häufigkeit des Kontaktes und der geringen Resorption der PAK aus dem Magen-Darm-Trakt erklären.
Damit ist das sog. Biomonitoring, d. h. der Nachweis einer Substanz oder ihrer Metaboliten im Organismus, im Urin oder in der ausgeatmeten Luft, das verlässlichste Verfahren, um die tatsächliche Exposition einer Person oder einer Bevölkerungsgruppe zu ermitteln. Denn das Biomonitoring hat die folgenden Vorteile:
Es wird die gesamte Exposition über alle möglichen Aufnahmewege und Quellen berücksichtigt (engl. aggregate exposure).
Es wird die tatsächliche innere Exposition zurzeit der Untersuchung, wie sie durch Resorption, Metabolisierung, Verteilung und Ausscheidung gegeben ist, erfasst.
Die Abschätzung der Konzentration am für die Wirkung empfindlichen Organ (engl. target dose) wird ermöglicht.
Voraussetzung für eine Risikoabschätzung, d. h. für die Bewertung, ob die ermittelten Konzentrationen ein gesundheitliches Risiko darstellen, ist, dass auch für die innere Exposition die Dosis-Wirkungs-Beziehung bekannt ist und ein NOAEL abgeleitet werden kann.
Für eine Risikoabschätzung einer Substanz muss immer die gesamte Exposition ermittelt werden, d. h. die Exposition über die verschiedenen Aufnahmewege und alle Quellen (engl. aggregate exposure).
Cumulative Exposure bezeichnet dagegen die gesamte Wirkung ähnlich wirkender toxischer Stoffe wie die gleichzeitige Anwesenheit von Ozon, NOx und anderen oxidierenden Substanzen in der Atemluft, die zu Reizwirkungen bzw. oxidativem Stress führen können.
Noch schwieriger wird es, wenn Gemische vorliegen und die additive Wirkung der einzelnen Komponenten abzuschätzen ist (siehe Teil A, Kap. 8).
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Empfindlichkeit der exponierten Personen
Unterschiedliche Empfindlichkeiten innerhalb der Bevölkerung beruhen vor allem auf genetisch bedingten Unterschieden der Enzymaktivitäten, d. h. Polymorphismen. Als Polymorphismus wird in der Toxikologie bezeichnet, wenn es z. B. von einem bestimmten Enzym, das eine körperfremde Substanz abbauen kann, verschiedene Formen gibt, die unterschiedlich schnell metabolisieren. Die innere Belastung, z. B. gemessen anhand der Blutkonzentrationen oder der DNA-Addukte im Zielorgan, ist abhängig vom Ausmaß der Metabolisierung einer Chemikalie. Ein genetisch bedingter Polymorphismus von Phase-I- und Phase-II-Enzymaktivitäten kann daher zu Unterschieden in Abbau und Entgiftung von Chemikalien und damit zu unterschiedlichen Wirkungen führen.
Davon abzugrenzen sind Enzyminduktion oder scheinbar geringe Enzymaktivitäten wie es bei der Glucuronidierung nach der Geburt der Fall ist. Dieser postnatale Mangel der Glucuronidierung führt zu der frühkindlichen Gelbsucht (postnataler Ikterus) und Toxizität von Substanzen wie Chloramphenicol. Dies liegt vor allem daran, dass kurz nach der Geburt durch den Abbau des fetalen Hämoglobins große Mengen an Bilirubin anfallen, die glucuronidiert werden müssen, um ausgeschieden zu werden. Durch die großen anfallenden Mengen wird die Kapazität der Glucuronidierung überfordert. Da auch das Arzneimittel Chloramphenicol durch Glucuronidierung besser ausgeschieden wird, verbietet sich eine Therapie mit diesem Antibiotikum in der postnatalen Phase.
Andererseits induziert Phenytoin seine eigene, Cytochrom-P450-abhängige Hydroxylierung zu inaktiven Metaboliten. Die Folge ist ein zunehmender Wirkungsverlust während der Therapie. Ein weiteres Beispiel ist die Unwirksamkeit der Antibabypille bei gleichzeitiger Einnahme bestimmter Medikamente zur Behandlung von Epilepsie, Tuberkulose oder HIV-Infektion, weil diese Arzneimittel die Enzyme der Cytochrom-P450-Familie induzieren, d. h. ihre Aktivität verstärken, was einen beschleunigten Abbau der Wirkstoffe in den Empfängnisverhütungsmitteln zur Folge hat.
6.1 Sind Kinder besonders empfindlich?
Als kritische Faktoren bei Kindern sind die Exposition, die kinetischen Daten und besondere Empfindlichkeiten zu berücksichtigen. Bei der Exposition spielen das spezifische Verhalten von Kindern wie der Hand-zu-Mund-Kontakt, Besonderheiten der Toxikokinetik, d. h. Verstoffwechslung und Ausscheidung von Substanzen, und besondere Produkte für Kinder eine Rolle.
Besondere Empfindlichkeiten bei Kindern bestehen während des Knochenwachstums, der Entwicklung der Lungen, des Immunsystems und Thymus, der Geschlechtsentwicklung und des Zentralnervensystems (ZNS).
Kinder können sich hinsichtlich Aufnahme, Metabolismus, Verteilung und Ausscheidung von Erwachsenen unterscheiden. Gesichert ist, dass insbesondere Kinder unter einem Jahr einen geringeren Metabolismus, eine erhöhte Hautresorption, ein kleineres Fettkompartiment und damit einen größeren Wasserverteilungsraum aufweisen als Erwachsene.
Daraus ist jedoch nicht generell zu schließen, dass Kinder aufgrund ihrer zum Teil langsameren und schlechteren metabolischen Kapazität stärker gefährdet sind als Erwachsene.
Auch hierfür gibt es einige Beispiele.
Erfahrungen mit Arzneimitteln zeigen, dass bei Kindern die Elimination von Fremdstoffen größer ist als bei Erwachsenen. Kinder weisen daher bei gleicher täglicher Aufnahme (mg/kg, Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht) zumeist eine geringere Blutkonzentration, d. h. innere Belastung auf als Erwachsene. Eine schnellere Ausscheidung kann damit zumindest teilweise eine geringere Enzymaktivität und mögliche höhere Empfindlichkeit bestimmter Organe kompensieren.
Eine Studie über die Toxizität von flüchtigen organischen Verbindungen (engl. volatile organic compounds, VOCs) bei Kindern im Vergleich zu Erwachsenen ergab, dass die Extraktionsrate der Leber, also die von der Leber metabolisierte (in eine wasserlöslichere Form) umgesetzte Menge eines Stoffes, trotz geringerer Metabolismuskapazität bei Kindern für