Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil. Gustav Schwab

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Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil - Gustav  Schwab


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und befahl ihm, seine List zu brauchen und dem verhaßten Wächter das Augenlicht

       auszulöschen. Dieser beflügelte seine Füße, ergriff mit der mächtigen Hand seine einschläfernde Rute

       und setzte seinen Reisehut auf. So fuhr er von dem Palaste seines Vaters zur Erde nieder. Dort legte

       er Hut und Schwingen ab und behielt nur den Stab; so stellte er einen Hirten vor, lockte Ziegen an

       sich und trieb sie auf die abgelegenen Fluren, wo Io weidete und Argos die Wache hielt. Dort

       angekommen, zog er ein Hirtenrohr, das man Syrinx nennt, hervor und fing an, so anmutig und voll

       zu blasen, wie man von irdischen Hirten zu vernehmen nicht gewohnt ist. Der Diener Heras freute

       sich dieses ungewohnten Schalles, erhob sich von seinem Felsensitze und rief hernieder: »Wer du

       auch sein magst, willkommener Rohrbläser, du könntest wohl bei mir auf diesem Felsen hier

       ausruhen. Nirgends ist der Graswuchs üppiger für das Vieh als hier, und du siehst, wie behaglich der

       Schatten dieser dicht gepflanzten Bäume für den Hirten ist!« Hermes dankte dem Rufenden, stieg

       hinauf und setzte sich zu dem Wächter, mit welchem er eifrig zu plaudern anfing und sich so ernstlich

       ins Gespräch vertiefte, daß der Tag herumging, ehe Argos sich dessen versah. Diesem begannen die

       Augen zu schläfern, und nun griff Hermes wieder zu seinem Rohre und versuchte sein Spiel, um ihn

       vollends in Schlummer zu wiegen. Aber Argos, der an den Zorn seiner Herrin dachte, wenn er seine

       Gefangene ohne Fesseln und Obhut ließe, kämpfte mit dem Schlaf, und wenn sich auch der

       Schlummer in einen Teil seiner Augen einschlich, so wachte er doch fortdauernd mit dem andern

       Teile, nahm sich zusammen, und da die Rohrpfeife erst kürzlich erfunden worden war, so fragte er

       seinen Gesellen nach dem Ursprunge dieser Erfindung. »Das will ich dir gerne erzählen«, sagte

       Hermes, »wenn du in dieser späten Abendstunde Geduld und Aufmerksamkeit genug hast, mich

       anzuhören. In den Schneegebirgen Arkadiens wohnte eine berühmte Hamadryade (Baumnymphe),

       mit Namen Syrinx. Die Waldgötter und Satyrn, von ihrer Schönheit bezaubert, verfolgten sie schon

       lange mit ihrer Werbung, aber immer wußte sie ihnen zu entschlüpfen. Denn sie scheute das Joch der

       Vermählung und wollte, umgürtet und jagdliebend wie Artemis, gleich dieser in jungfräulichem

       Stande verharren. Endlich wurde auf seinen Streifereien durch jene Wälder auch der mächtige Gott

       Pan der Nymphe ansichtig, näherte sich ihr und warb um ihre Hand, dringend und im stolzen

       Bewußtsein seiner Hoheit. Aber die Nymphe verschmähte sein Flehen und flüchtete vor ihm durch

       unwegsam Steppen, bis sie zuletzt an das Wasser des versandeten Flusses Ladon kam, dessen Wellen

       doch noch tief genug waren, der Jungfrau den Übergang zu wehren. Hier beschwor sie ihre

       Schwestern, die Nymphen, ehe sie in die Hand des Gottes fiele, ihrer sich zu erbarmen und sie zu

       verwandeln. Indem kam der Gott herangeflogen und umfaßte die am Ufer Zögernde; aber wie

       staunte er, als er, statt eine Nymphe zu umarmen, nur ein Schilfrohr umfaßt hielt; seine lauten

       Seufzer zogen vervielfältigt durch das Rohr und wiederholten sich mit tiefem, klagendem Gesäusel.

       Der Zauber dieses Wohllautes tröstete den getäuschten Gott. »Wohl denn, verwandelte Nymphe«,

       rief er mit schmerzlicher Freude, »auch so soll unsre Verbindung unauflöslich sein!« Und nun schnitt

       er sich von dem geliebten Schilfe ungleichförmige Röhren, verknüpfte sie mit Wachs untereinander

       und nannte die lieblich tönende Flöte nach dem Namen der holden Hamadryade; und seitdem heißt

       dieses Hirtenrohr Syrinx...«

       So lautete die Erzählung des Götterboten, bei welcher er den hundertäugigen Wächter unausgesetzt

       im Auge behielt. Die Märe war noch nicht zu Ende, als er sah, wie ein Auge um das andere sich unter

       der Decke geborgen hatte und endlich alle die hundert Leuchten in dichtem Schlaf erloschen waren.

       Nun hemmte der Götterbote seine Stimme, berührte mit seinem Zauberstabe nacheinander die

       hundert eingeschläferten Augenlider und verstärkte ihre Betäubung. Während nun der

       hundertäugige Argos in tiefem Schlafe nickte, griff Hermes schnell zu dem Sichelschwerte, das er

       unter seinem Hirtenrocke verborgen trug, und hieb ihm den gesenkten Nacken, da wo der Hals

       zunächst an den Kopf grenzt, durch und durch. Kopf und Rumpf stürzten nacheinander vom Felsen

       herab und färbten das Gestein mit einem Strome von Blut.

       Nun war Io befreit, und obwohl noch unverwandelt, rannte sie ohne Fesseln davon. Aber den

       durchdringenden Blicken Heras entging nicht, was in der Tiefe geschehen war. Sie dachte auf eine

       ausgesuchte Qual für ihre Nebenbuhlerin und sandte ihr eine Bremse, die das unglückliche Geschöpf

       durch ihren Stich zum Wahnsinn trieb. Diese Qual jagte die Geängstigte mit ihrem Stachel

       landflüchtig über den ganzen Erdkreis, zu den Skythen, an den Kaukasus, zum Amazonenvolke, zum

       Kimmerischen Isthmos und an die Mäotische See; dann hinüber nach Asien, und endlich nach

       langem, verzweiflungsvollem Irrlaufe nach Ägypten. Hier am Strande des Nilufers angelangt, sank Io

       auf ihre Vorderfüße nieder und hob, den Hals rücklings gebogen, ihre stummen Augen zum Olymp

       empor, mit einem Blicke voll Haders gegen Zeus. Den jammerte dieses Anblickes; er eilte zu seiner

       Gemahlin Hera, umfing ihren Hals mit den Armen, flehte um Barmherzigkeit für das arme Mädchen,

       das schuldlos an seiner Verirrung war, und schwor ihr beim Wasser der Unterwelt, bei dem die

       Götter schwören, von seiner Neigung zu ihr hinfort ganz abzulassen. Hera hörte während dieser Bitte

       das flehentliche Brüllen der Kuh, das zum Olymp emporstieg. Da ließ sich die Göttermutter

       erweichen und gab dem Gemahle Vollmacht, der Mißgestalteten den menschlichen Leib

       zurückzugeben. Zeus eilte zur Erde nieder und an den Nil. Hier strich er der Kuh mit der Hand über

       den Rücken. Da war es wunderbar anzuschauen: die Zotteln flohen vom Leibe des Tieres, das Gehörn

       schrumpfte zusammen, die Scheibe der Augen verengte sich, das Maul zog sich zu Lippen zusammen,

       Schultern und Hände kehrten wieder, die Klauen verschwanden, nichts blieb von der Kuh übrig als

       die schöne weiße Farbe. In ganz verwandelter Gestalt erhob sich Io vom Boden und stand aufrecht, in

       menschlicher Schönheit leuchtend. Am Nilstrome gebar sie dem Zeus den Epaphos, und weil das Volk

       die wunderbar Verwandelte und Errettete göttergleich ehrte, so herrschte sie lange mit

       Fürstengewalt über jene Lande. Doch blieb sie auch so nicht ganz von Heras Zorne verschont. Diese

       stiftete das wilde Volk der Kureten auf, ihren jungen Sohn Epaphos zu entführen, und nun trat sie

       aufs neue eine lange vergebliche Wanderung an, den Geraubten aufzusuchen. Endlich, nachdem

       Zeus die Kureten mit dem Blitz erschlagen, fand sie den entführten Sohn an der Grenze Äthiopiens

      


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