Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil. Gustav Schwab

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Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Erster Teil - Gustav  Schwab


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rollte dahin, als wäre er leer.

       Als das Rossegespann dies merkte, rannte es, die gebahnten Räume verlassend, und lief nicht mehr

       in der vorigen Ordnung. Phaëthon fing an zu erbeben, er wußte nicht, wohin die Zügel lenken, wußte

       den Weg nicht, wußte nicht, wie er die wilden Rosse bändigen sollte. Als nun der Unglückliche hoch

       vom Himmel abwärts sah, auf die tief, tief unter ihm sich hinstreckenden Länder, wurde er blaß, und

       seine Knie zitterten von plötzlichem Schrecken. Er sah rückwärts; schon lag viel Himmel hinter ihm,

       aber noch mehr vor seinen Augen. Beides ermaß er in seinem Geiste. Unwissend, was beginnen,

       starrte er in die Weite, ließ die Zügel nicht nach, zog sie auch nicht weiter an; er wollte den Rossen

       rufen, aber er kannte ihre Namen nicht. Mit Grauen sah er die mannigfaltigen Sternbilder an, die in

       abenteuerlichen Gestalten am Himmel herumhingen. Da ließ er, von kaltem Entsetzen gefaßt, die

       Zügel fahren, und wie diese herabschlotternd den Rücken der Pferde berührten, so verließen die

       Rosse ihre Spur, schweiften seitwärts in fremde Luftgebiete, gingen bald hoch empor, bald tief

       hernieder; jetzt stießen sie an den Fixsternen an, jetzt wurden sie auf abschüssigem Pfade in die

       Nachbarschaft der Erde herabgerissen. Schon berührten sie die erste Wolkenschicht, die bald

       entzündet aufdampfte. Immer tiefer stürzte der Wagen, und unversehens war er einem Hochgebirge

       nahe gekommen. Da lechzte vor Hitze der Boden, spaltete sich, und weil plötzlich alle Säfte

       austrockneten, fing er an zu glimmen; das Heidegras wurde weißgelb und welkte hinweg; weiter

       unten loderte das Laub der Waldbäume auf, bald war die Glut bei der Ebene angekommen; nun

       wurde die Saat weggebrannt; ganze Städte loderten in Flammen auf, Länder mit all ihrer Bevölkerung

       wurden versengt; rings brannten Hügel, Wälder und Berge. Damals sollen auch die Mohren schwarz

       geworden sein. Die Ströme versiegten oder flohen erschreckt nach ihrer Quelle zurück, das Meer

       selbst wurde zusammengedrängt, und was jüngst noch See war, wurde trockenes Sandfeld.

       An allen Seiten sah Phaëthon den Erdkreis entzündet; ihm selbst wurde die Glut bald unerträglich;

       wie tief aus dem Innern einer Feueresse atmete er siedende Luft ein und fühlte unter seinen Sohlen,

       wie der Wagen erglühte. Schon konnte er den Dampf und die vom Erdbrand emporgeschleuderte

       Asche nicht mehr ertragen; Qualm und pechschwarzes Dunkel umgab ihn; das Flügelgespann riß ihn

       nach Willkür fort; endlich ergriff die Glut seine Haare, er stürzte aus dem Wagen, und brennend

       wurde er durch die Luft gewirbelt, wie zuweilen ein Stern bei heiterer Luft durch den Himmel zu

       schießen scheint. Ferne von der Heimat nahm ihn der breite Strom Eridanos auf und bespülte ihm

       sein schäumendes Angesicht. Phöbos, der Vater, der dies alles mit ansehen mußte, verhüllte sein

       Haupt in brütender Trauer. Damals, sagt man, sei ein Tag der Erde ohne Sonnenlicht

       vorübergeflogen. Der ungeheure Brand leuchtete allein.

       Europa

       Im Lande Tyrus und Sidon erwuchs die Jungfrau Europa, die Tochter des Königs Agenor, in der tiefen

       Abgeschiedenheit des väterlichen Palastes. Zu dieser ward nachmitternächtlicherweile, wo

       untrügliche Träume die Sterblichen besuchen, ein seltsames Traumbild vom Himmel gesendet. Es

       kam ihr vor, als erschienen zwei Weltteile in Frauengestalt, Asien und der gegenüberliegende, und

       stritten um ihren Besitz. Die eine der Frauen hatte die Gestalt einer Fremden; die andere ‐ und dies

       war Asien ‐ glich an Aussehen und Gebärde einer Einheimischen. Diese wehrte sich mit zärtlichem

       Eifer für ihr Kind Europa, sprechend, daß sie es sei, welche die geliebte Tochter geboren und gesäugt

       hätte. Das fremde Weib aber umfaßte sie wie einen Raub mit gewaltigen Armen und zog sie mit sich

       fort, ohne daß Europa im Innern zu widerstreben vermochte. »Komm nur mit mir, Liebchen«, sprach

       die Fremde, »ich trage dich als Beute dem Ägiserschütterer Zeus entgegen; so ist dir's vom Geschicke

       beschieden.« Mit klopfendem Herzen erwachte Europa und richtete sich vom Lager auf, denn das

       Nachtgesicht war hell wie ein Anblick des Tages gewesen. Lange Zeit saß sie unbeweglich aufrecht im

       Bette, vor sich hinstarrend, und vor ihren weit aufgetanen Augensternen standen noch die beiden

       Weiber. Erst spät öffneten sich ihre Lippen zum bangen Selbstgespräche: »Welcher Himmlische«,

       sprach sie, »hat mir diese Bilder zugeschickt? Was für wunderbare Träume haben mich

       aufgeschreckt, die ich im Vaterhause süß und sicher schlummerte? Wer war doch die Fremde, die ich

       im Traume gesehen? Welch eine wunderbare Sehnsucht nach ihr regt sich in meinem Herzen? Und

       wie ist sie selbst mir so liebreich entgegengekommen, und auch als sie mich gewaltsam entführte,

       mit welchem Mutterblicke hat sie mich angelächelt! Mögen die seligen Götter mir den Traum zum

       besten kehren!«

       Der Morgen war herangekommen; der helle Tagesschein vermischte den nächtlichen Schimmer des

       Traumes aus der Seele der Jungfrau, und Europa erhub sich zu den Beschäftigungen und Freuden

       ihres jungfräulichen Lebens. Bald sammelten sich um sie ihre Altergenossinnen und Gespielinnen,

       Töchter der ersten Häuser, welche sie zu Chortänzen, Opfern und Lustgesängen zu begleiten

       pflegten. Auch jetzt kamen sie, ihre Herrin zu einem Gange nach den blumenreichen Wiesen des

       Meeres einzuladen, wo sich die Mädchen der Gegend scharenweise zu versammeln und am üppigen

       Wuchse der Blumen und am rauschenden Halle des Meeres zu erfreuen pflegten. Alle Mädchen

       führten einen Korb zum Blumensammeln in den Händen. Europa selbst trug einen goldenen Korb,

       geschmückt mit glänzenden Bildern aus der Göttersage; er war ein Werk des Hephaistos, ein uraltes

       Göttergeschenk des Erderschütterers Poseidon, das dieser der Libya geschenkt hatte, als er um sie

       warb. Aus ihrem Besitze war es von Hand zu Hand als Erbstück in das Haus des Agenor gekommen.

       Mit diesem Brautschmuck angetan, eilte die holdselige Europa an der Spitze ihrer Gespielinnen den

       Meereswiesen zu, die voll der buntesten Blumen standen. Jubelnd zerstreute sich die Schar der

       Mädchen da‐ und dorthin, jede suchte sich eine Blume auf, die nach ihrem Sinne war. Die eine

       pflückte die glänzende Narzisse, die andere wandte sich der Balsam ausströmenden Hyazinthe zu,

       eine dritte erwählte sich das sanfter duftende Veilchen, andern gefiel der gewürzige Quendel, wieder

       andere brachen den gelben, lockenden Krokus. So flogen die Gespielinnen hin und her; Europa aber

       hatte bald ihr Ziel gefunden, sie stand, wie unter den Grazien die schaumgeborne Liebesgöttin, alle

       ihre Genossinnen überragend, und hielt hoch in der Hand einen vollen Strauß von glühenden Rosen.

       Als sie genug Blumen gesammelt, lagerten sich die


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