Transasia. Von Karachi nach Beijing. Ludwig Witzani
Читать онлайн книгу.Mesopotamien als „die dritte Zivilisation”.
Inwiefern war dieser hohe Ton berechtigt, mochte man fragen. Und was unterschied überhaupt die Mitglieder dieser „drei Zivilisationen” an Nil, Euphrat und Indus (als vierte Zivilisation könnte man die frühchinesische Kultur am Gelben Fluss hinzurechnen) von den Menschen in den namenlosen Dörfern im Nirgendwo, die auch schon seit Jahrzehntausenden auf zwei Beinen durch die Gegend liefen? Was genau markierte die Grenze zwischen Memphis, Uruk und Mohenjo Daro und dem Rest der vorgeschichtlichen Welt? Darüber hatte ich schon des Öfteren nachgegrübelt und ohne, dass ich Anspruch auf besondere Kompetenz erhebe, glaube ich, dass dafür folgende Merkmale nötig sind:
(1) eine vergleichsweise hohe landwirtschaftliche Produktivität, die es erlaubt, einen sekundären Bereich, d. h. Spezialisten für Handwerk, Architektur, Religion, Kunst, Kultur, Krieg und Religion freizustellen und zu ernähren,
(2) darauf aufbauend die Entstehung städtischer Zentren, in denen die Spezialisten dieses sekundären Bereiches leben und arbeiten,
(3) die Entwicklung einer Schrift, die es ermöglicht, Kultur zu tradieren und Innovationen festzuhalten, so dass auf einmal gewonnenen Erkenntnissen aufgebaut werden kann,
(4) die Entfaltung eines religiösen Systems von Welterklärungen, die die Gemeinschaft integriert sinnvoll in einen größeren kosmischen Zusammenhang einordnet,
(5) eine stetige Höherentwicklung der Umweltanpassung und zivilisatorischen Standards durch Domestizierung der Tiere und Nutzpflanzen, der Metallbearbeitung, Heilkunst, Bewässerung und Architektur, d. h. Hochkulturen sind immer auch instrumentell optimierende Technikkulturen,
(6) und schließlich eine all diese Bereiche überwölbende staatliche Organisation, die nicht nur auf bloßer Gewalt, sondern auf allgemeinen Regeln und Traditionen beruht und durch spezialisierte Herrschaftsträger wie Krieger oder Priester geleitet wird.
Eine besondere Rolle innerhalb dieser Merkmale kommt der Schrift zu, weil erst sie es ermöglicht, religiöses, technisches oder herrschaftsrelevantes Wissen über den Bereich des bloßen Einzelgedächtnisses hinaus weiterzugeben. Deswegen lässt man mit der Erfindung der sumerischen Keilschrift um 3000 vor der Zeitrechnung ( etwas früher als bei den Ägyptern und einige Jahrhunderte vor den Proto-Indern) die eigentliche Weltgeschichte beginnen.
Die Archäologen datieren die Blütezeit der Induskultur auf die Zeit von 2800 bis 1800 vor der Zeitrechnung. In dieser Zeit, in der in Ägypten die Pyramiden und in Mesopotamien die Zikkurats erbaut wurden, entstanden in Mohenjo Daro, Harappa und anderswo relativ unspektakuläre, aber geräumige Städte, die als Verarbeitungszentren und Handelsstützpunkte wie die Elemente eines weitgespannten Netzes einen Kulturraum von einer Million Quadratkilometern miteinander verbanden. Von der bloßen Bevölkerungsgröße Mohenjo Daros, die auf über 30.000 Menschen geschätzt wird, muss man zwingend auf landwirtschaftliche Überschüsse schließen. Der Indus als natürlicher Wasserweg ermöglichte weiträumige Handelsverbindungen, die bis zum Zweistromland reichten. Der Indus als Wasserspender trat alljährlich über die Ufer und hinterließ nach seinem Abfluss fette alluviale Böden, auf denen hohe Gerste- und Weizenerträge erzielt werden konnten.
Nach dem Ende des Films begab ich mich in den ersten Stock, in dem die Ventilatoren auf Hochtouren liefen, ohne der zunehmenden Hitze Herr zu werden. Mein junger Cicerone hatte mich inzwischen verlassen, weil eine Gruppe pakistanischer Inlandstouristen eingetroffen war, deren Betreuung größere Verdienstchancen versprach. Der optische Blickfang des ersten Stockwerks waren großformatige, teilweise wandfüllende Gemälde, die dem Besucher einen anschaulichen Eindruck vom alltäglichen Leben Mohenjo Daros vermitteln sollten. Wie die Komparsen in einem Sandalenfilm liefen kräftige kleine braune Männer auf den Hafenkais der Stadt hin und her und verluden schwere Säcke auf flache Boote. Eine wuchtige Stadtmauer umgürtete eng zusammenstehende, geometrisch geordnete Häuserreihen. Mohenjo Daro in den leicht verwaschenen Farben der historischen Fantasie.
Wer sich für die konkreten Gerätschaften der Induszivilisation interessierte, wurde in zahllosen Glaskästen mit Erklärungen in Urdu und Englisch reichlich bedient. Ein großer Teil der Exponate bestand aus Miniaturskulpturen, aus zentimetergroßen Rindern, die einen winzigen Karren zogen, handtellergroßen Figürchen, die sich um die eigene Achse drehten, Miniaturschiffen und kleinen Häusern im Spielzeugformat. Auch an Töpfen, Tellern, Vasen und Wannen hinter Glas bestand kein Mangel. Werkzeuge und Waffen habe ich nur wenige gesehen. Die kümmerlichen Pfeilspitzen aus Kupfer, die in einem Schaukasten präsentiert wurden, werden keinen indoarischen Angreifer abgeschreckt haben. Dafür waren überall sogenannte „Siegel“ zu sehen, kleine runde Gebilde aus gebranntem Ton oder Speckstein, die mit Symbolen versehen waren und die wahrscheinlich die ersten individuelle Eigentumsmarker der Geschichte darstellten.
Oben: Ruinendetail von Mohenjo Daro mit Abwasserrinne Unten: Stadtbild Mohenjo Daro (Museum von Mohenjo Daro)
Übersah man die Gesamtheit der Exponate, dann erkannte man: die Induskultur war ein Kultur der kleinen Form. Sie hatte keine großen Monumente hervorgebracht, wahrscheinlich, weil es ihr dafür an dem geeigneten Baumaterial fehlte. Selbst das bedeutendste und stilbildende Kunstwerk der Induskultur, der so genannte „Priesterkönig von Mohenjo Daro, war nur eine kleine 17 Zentimeter große und elf Zentimeter breite Figur. Sie zeigte einen vornehm wirkenden bärtigen Mann mit Stirnreif und verziertem Umhang, der mit leicht erhobenem Kopf in die Ferne schaut. Als fototaugliches „Gesicht“ der Induskultur war das Bild des sogenannten Priesterkönigs um die Welt gegangen, ohne dass man sicher wusste, ob es sich überhaupt um einen Priester gehandelt hatte. (Beim sogenannten Priesterkönig von Palenque in Yucatan verhält es sich übrigens ähnlich). Was man im Museum von Mohenjo Daro sehen konnte, war allerdings auch nur eine Kopie, das Original wurde im Nationalmuseum in Karachi aufbewahrt.
Dass die Fachwelt bei so vielen Fragen auf Mutmaßungen angewiesen war, hing natürlich auch damit zusammen, dass die Schrift der Induskultur noch immer nicht übersetzt werden konnte. Wie einer großen Tafel im ersten Stock zu entnehmen war, handelte es sich bei der Schrift der Induskultur um ein System von etwa 300-400 Zeichen oder Piktogrammen, die nur als Bestandteile sehr kurzer Textfragmente erhalten geblieben sind. An dieser harten Nuss ist die Wissenschaft bislang gescheitert. Auf einen vergleichbaren Glücksfall wie den Fund einer zweisprachigen Stele in Altägyptisch und dem bekannten Aramäisch, die die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphenschrift erlaubte, wartet man bislang im Fall der Induskultur vergeblich. Was wäre es für eine Sensation, wenn plötzlich ein zweisprachiger Text in sumerischer Keilschrift und altindischen Schriftzeichen auftauchen und endlich die Entzifferung der Schrift von Mohenjo Daro erlauben würde. Welche Welt würde uns dann entgegentreten? Welche Herrscherfiguren würden Kontur gewinnen, von welchen Kriegen würden wir unterrichtet werden? Und würde das wirklich wichtig sein?
Bis dahin sind Fachwelt und Publikum auf die Erkenntnisse der Archäologie angewiesen. Die ausgegrabenen Überreste von Mohenjo Daro lagen nur wenige Meter vom Museum entfernt und konnten ohne Aufsicht besichtigt werden. Optisch machen sie recht wenig her, auch wenn manche der Ziegelfassaden restauriert worden waren, um die Stadtgliederung stärker hervortreten zu lassen. Das erste, das ich erblickte, als ich mich der Ausgrabungsstätte näherte, waren die Überreste einer buddhistischen Stupa, die einfach zweitausend Jahre nach dem Untergang von Mohenjo Daro auf die überwachsenen Ruinen gesetzt worden war. Wirklich in die Tiefen der Geschichte führten das sogenannte „große Bad“, dem kultische Bedeutung zugesprochen wurde, der sogenannte „Kornspeicher“ und jede Menge Ziegelhäuser, die wie Soldaten in Reih und Glied in einer sogenannten „Oberstadt“ und „Unterstadt“ zusammenstanden. Teilweise waren die Wände der Ziegelhäuser wiederhergestellt, teilweise stand ich vor verfallenen Fassaden mit zerbröselndem Gestein. Je länger ich zwischen den Häusern hin- und herwanderte, desto klarer wurde mir, dass ich mich in einer Stadt der Ziegel befand. Und zwar nicht irgendwelcher Ziegel, sondern den ersten Standardziegeln der Weltgeschichte. So unendlich ihre Zahl auch sein mochte, so identisch waren ihre Ausmaße, nämlich 28 x 14 x 7 Zentimeter, was einem Verhältnis