Transasia. Von Karachi nach Beijing. Ludwig Witzani
Читать онлайн книгу.fuhr ich mit einer Rikscha ins nahe gelegene Thatta. Die Metallstreben der Rikscha waren so heiß, dass ich sie nicht anfassen konnte, und mein Fahrer saß wie angeschweißt auf seinem Sitz. Die vor Hitze flimmernde Luft war voller Staub, und ich hatte nur noch einen einzigen Wunsch: Schatten und Kühle.
Erwartungsgemäß war in Thatta der Hund begraben, und nichts erinnerte daran, dass die Stadt jahrhundertelang der Sitz der Sultane des Sindh gewesen war. Im Verlauf der turbulenten Stadtgeschichte waren Afghanen, Hunnen, Perser, Rajastanis und Mongolen nach Thatta gekommen und eines Tages, etwa um das Jahr 1625, hatte es auch den Mogulprinzen Kurram nach Thatta verschlagen. Er war der drittälteste Sohn des Großmoguls Jehangir und befand sich zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahren auf der Flucht vor seinem Vater. In Thatta hatte er Aufnahme und Unterstützung gefunden, ehe sein Schicksal eine überraschende Wendung nahm und er zum Nachfolger des Kaisers aufstieg. Als Schahjahan, als „Kaiser der Welt“ aber blieb er seinem Fluchtort verbunden und beschenkte Thatta mit einer neuen Freitagsmoschee, der kleinen Schwester des Tadsch Mahal oder des Agra-Forts, die zur gleichen Zeit entstanden.
Allerdings enttäuschte der erste Anblick. Die gewaltigen Kuppeln, die die Freitagsmoscheen von Agra, Lahore und Alt-Delhi krönen, fehlten hier völlig, ebenso die großen Minarette. Stattdessen war das Dach der Freitagsmoschee von dreiundneunzig kleinen Kuppeln überwölbt, deren räumliche Anordnung zu einer perfekten akustischen Durchdringung der Moscheeanlage beitrug: Was der Mullah an der Kibla-Wand in moderater Lautstärke aussprach, war in nahezu jedem Winkel des Gotteshauses zu hören.
An diesem Nachmittag aber sprach niemand in der Moschee, und inmitten des großen Innenhofes konnte ich mich ganz der Stille ergeben. Braungelb wie die Wüste des Sindh war die Farbe des warmen Sandsteins, aus dem die Moschee erbaut worden war. Blau wie das Wasser des Arabischen Meeres leuchteten die Kacheln in den Gängen. In allen Farben der Basare schimmerten die Glasuren, Mosaike und Fayencen, und das Grün der Gärten rund um die Moschee erinnerte an das Paradies, in dem Allah die Rechtschaffenen und Gläubigen nach ihrem irdischen Leben empfangen wird.
Mir hätte es schon genügt, es hätte einen Knall gegeben und ich wäre wieder in meinem Hotel in Karachi gewesen. Aber es nutzte nichts. Ehe ich auf dem Teppichboden der Moschee endgültig entschlief und den Bus verpasste, rappelte ich mich wieder auf und begann die lange Rückreise nach Karachi.
Innenhof der Schahjahan Moschee von Thatta
„Priesterkönig” von Mohenjo Daro
Die dritte Zivilisation
Ein Besuch in Mohenjo Daro
der größten Stadt der Induskultur
Zu den anregendsten Freuden der Fantasie gehören die Geschichten vom Aufstieg und Untergang großer Kulturen. Es berührt unser Bedürfnis nach Mythos und Sinngebung, nachzuvollziehen, wie Kulturen entstehen, sich entfalten wie rätselhafte Gewächse, ehe sie wieder in die Dunkelheit verschwinden, aus der sie gekommen sind. Ganz besonders faszinierend wirken solche Kulturen, von denen wir nur wissen, dass sie da gewesen waren, dass sie Erstaunliches geleistet haben, aber nicht warum sie untergegangen sind. Der Prototyp einer solchen Kultur ohne Wiederkehr repräsentiert die Geschichte der mittelamerikanischen Mayas. Die gewaltigen Pyramiden, die sie mitten im Dschungel erbauten, waren erstaunlich, aber noch viel erstaunlicher war, wie sie sich plötzlich aus der Geschichte verabschiedeten, ihre Städte aufgaben und in den Urwäldern verschwanden. Ein ähnliches Bild bietet Aufstieg und Fall der Moai-Kultur auf den Osterinseln.
Von diesen Beispielen unterscheidet sich die Induskultur nur in ihrer geschichtlichen Frühe und Ausdehnung, denn neben der ägyptischen und sumerischen Kultur repräsentiert die Indus-Kultur eines der erstaunlichsten Beispiele geschichtlichen Erwachens. In der Morgenröte der Weltgeschichte waren die Träger der Induskultur plötzlich „da“, ohne dass wir wissen, woher sie kamen. Über tausend Jahre lang lebten sie in Städten, die wie Mohenjo Daro oder Harappa, die zu den größten ihrer Zeit gehörten.
Dann war ihre Zeit plötzlich abgelaufen. Mohenjo Daro, Harappa und die über das ganze heutige Pakistan und Teile Westindiens verstreuten Städten schrumpften und wurden von ihren Einwohnern verlassen. Zertrümmerte Wehrmauern, Skelette mit den unverkennbaren Zeichen plötzlichen Todes erzählen von dunklen Jahrhunderten des Niedergangs - ehe mit der Einwanderung der Indoarier ein ganz neues Kapitel in in der Geschichte des indischen Subkontinents aufgeschlagen wurde.
Die Induskultur wurde „vergessen“, die Ruinen ihrer Städte überbaut, bis über dreieinhalbtausend Jahre später indische und britische Archäologen am Beginn des 20. Jahrhunderts im Sindh und im Punjab unglaubliche Mengen Ziegelsteine fanden, die nur einen Schluss zuließen; dass sie das Substrat großer Städte gewesen waren, von denen man rein gar nichts wusste. Spatenstich für Spatenstich enthüllte sich der staunenden Fachwelt die dritte Primärzivilisation der Menschheitsgeschichte, die Induskultur, deren größte Stadt Mohenjo Daro gewesen war. Dieses Mohenjo Daro, eine der ältesten Städte der Weltgeschichte, wollte ich sehen.
Zwei Möglichkeiten gab es, um von Karachi aus nach Mohenjo Daro zu gelangen, eine robuste und eine schlappe Variante. Die erste, robuste Möglichkeit bestand darin, wieder den Salwar Qamiz anzuziehen, mit dem Bus nach Hyderabad und Sukkur zu fahren und kurz vor Lakarna auszusteigen. Allein für die Anreise über diese etwa vierhundert Kilometer lange Strecke hätte ich einen ganzen Tag veranschlagen müssen. Die zweite, glatt geschmirgelte Möglichkeit war unkomplizierter. Man konnte täglich mit kleinen Maschinen der pakistanischen Fluggesellschaft PIA (Pakistan International Airlines) Mohenjo Daro anfliegen, die Ruinenstädte in der unmittelbaren Nachbarschaft des kleinen Flughafens in aller Ruhe besichtigen, um dann am späten Nachmittag wieder nach Karachi zurückzufliegen. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich mich für die glatt geschmirgelte Möglichkeit entschied, und das, obwohl die PIA schon seit Jahren in der absoluten Spitzengruppe jener Fluggesellschaften rangierte, deren Flieger regelmäßig vom Himmel stürzten. Herr Ibrahim gratulierte mir zu meiner Entscheidung und schickte einen seiner Mitarbeiter ins Reisebüro, der mir ein Flugticket nach Mohenjo Daro besorgte.
Die Maschine, die ich am frühen Morgen des nächsten Tages bestieg, war eine kleine Fokker, deren Sitze bei weitem nicht ausgebucht waren. Die meisten Passagiere würden nach Multan weiterfliegen, während ich wahrscheinlich der einzige Fluggast war, der zu den Ruinen in der Wüste wollte. Die Fokker schwankte beträchtlich und hatte für mein Empfinden erhebliche Schlagseite in Fahrtrichtung. Soweit ich durch die verschmierten Fensterscheiben erkennen konnte, überflog die Fokker eine staubige, tote Landschaft mit einem spärlichen Rinnsal in der Mitte, dem Indus. Ich notierte: Der Sindh macht auch von oben keinen besonders einladenden Eindruck.
Mit einem kräftigen Bums setzte die Fokker nach etwa einer Stunde Flugzeit auf dem kleinen Rollfeld von Mohenjo Daro auf. Zweierlei empfing mich, als ich das Flugzeug verließ: eine Hitzewelle wie ein Schlag in den Nacken und eine Soldateneskorte, die mich die zweihundert Meter vom Rollfeld zum Terminal geleitete. Schon auf den ersten Blick war erkennbar, dass hier alles zusammenpasste: Flughafen, Museum und Ruinenfeld waren fußläufig zu erreichen. Hinter dem Rollfeld vollzog sich das das dörfliche Leben, als gehöre es zu einem anderen Stern. Frauen trieben mit langen Stöcken ihre trägen Rinder zum Indus, Kinder spielten im Sand und riefen „Mister“, „Mister“, als sie mich entdeckten.
Das unmittelbar benachbarte kleine Museum von Mohenjo Daro war eine Insel der Zivilisation inmitten von Hitze und Staub und in seiner Konzeption auf allerhöchste Bedeutsamkeit getrimmt. In seinem Innenhof informierten Skulpturen und Schrifttafeln darüber, welche Potentaten und Dynasten dieses Museum bereits besucht hatten, Ein Elefanten- und ein Bullenrefief verzierten den Museumseingang, in dem mich ein junger Mann mit Schlafzimmeraugen empfing und mir seine Dienste als Reiseführer anbot. Da er kein Wort Englisch sprach, lehne ich ab, was ihn aber nicht daran hinderte, mir hinterherzulaufen und mich in Urdu zuzutexten. Immerhin führte er mich in einen separaten Raum, in dem ein Film mit