Alptraum Wissenschaft. Anne-Christine Schmidt

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Alptraum Wissenschaft - Anne-Christine Schmidt


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Wissenschaftler gehörten, die in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis standen, ohne den Professorenstand erreicht zu haben, und Lehr-, Forschungs- und Verwaltungsaufgaben übernahmen, wurde nach dem Untergang der DDR nach und nach abgeschafft. Und es waren nicht die menschlichen und fachlichen Spitzenreiter, die ihre Chance wahrnahmen, eine gute Position im Osten Deutschlands zu besetzen, sondern Wissenschaftler „zweiter und dritter Klasse“, wie einer meiner älteren Kollegen die Lage charakterisierte.

      Eine weitere Erklärung für die Besetzung von Professorenstellen durch peinliche Charaktere liest man bei H.A. Pestalozzi: „In hierarchischen Strukturen können nur jene nach oben kommen, die 100prozentig konform sind. Wer neue Ideen hat, wer sich etwas anderes vorstellen kann als gerade das, was ist, kann gar keine Karriere machen. Er eckt mit seinen neuen Ideen unverzüglich an. Er ist für die Vorgesetzten unbequem. Er wird stillgelegt. Nur wer sich kritiklos in die bestehenden Strukturen einfügt, und nur wer mit der vorherrschenden Meinung und Konzeption restlos einig geht, kann die Erfolgsleiter hochklettern. Mit dem Resultat, dass in dem Moment, wo er selber oben ist, ihm nichts anderes übrigbleibt, als die Strukturen noch mehr abzuschotten, weil sonst er sich durch Mitarbeiter mit neuen Ideen gefährdet fühlen würde.“ [1]

      Nach, wie man sagt, „Auslaufen“ meiner über ein zeitlich befristetes Projekt bezahlten Promotionsstelle wollte einer der Arbeitsgruppenleiter mich gern behalten, aber es existierte keine Anstellungsmöglichkeit mehr für mich. Auch ich wäre gern geblieben, aber es blieb mir genau wie ganzen Generationen von Doktoranden nichts weiter übrig als das Heimatinstitut trotz aller in einer harten fachlich-experimentellen Arbeit erworbenen Erfahrungen und Ideen zu verlassen. Ich verfügte sowohl über einen sehr guten Diplom- als auch Promotionsabschluss, hatte meine ersten Fachveröffentlichungen in wissenschaftlichen Zeitschriften herausgebracht und war gegenüber andersartig ausgerichteten Arbeitsgebieten aufgeschlossen, so dass nur zwei Bewerbungen auf im Internet entdeckte Stellenausschreibungen für Einladungen zu Vorstellungsvorträgen genügten, um zwei Stellenzusagen zu erhalten. Somit war ich einem Bewerbungsmarathon entgangen und musste mich auch nur für einen Monat arbeitslos melden. Wie schrecklich erging es dagegen meiner Studienfreundin, die mit einem Stipendium promoviert hatte und als junge Doktorin mit Ende 20 ein ganzes Jahr daheim bei ihren Eltern ohne Arbeitslosengeld (was einem nach einem Stipendium nicht zustand, weil man keine Arbeitslosenversicherung bezahlte) verbrachte. Ich konnte mich nun zwischen zwei, wie es im Ausschreibungstext hieß, „zunächst auf zwei bzw. drei Jahre befristeten“ sogenannten Postdoc-Stellen entscheiden. Die Bezeichnung „Postdoc“ stammt aus dem englischen Sprachraum und bedeutet „Nachdoktorand“, meint also die sich an die Promotion, mit deren erfolgreichen Beendigung man den Doktorgrad erwirbt, anschließende berufliche Epoche einer wissenschaftlichen Laufbahn. Zum damaligen Zeitpunkt begriff ich längst noch nicht, dass unter dem Begriff „Postdoktorand“ all jene jungen Wissenschaftler zusammengefasst wurden, die den Doktorgrad erworben hatten und fortan von einer Einjahres- zur nächsten und übernächsten Halbjahres- oder Zweijahresbefristung purzelten, bis sie schließlich ganz aus dem System entsorgt wurden. Im Gegenteil: ich war stolz darauf, nach dem Abschluss meiner Promotion zwischen zwei solchen Postdoc-Stellen entscheiden zu dürfen. Diese Wahlmöglichkeit genügte mir völlig, da mich die beiden damit verknüpften Forschungsvorhaben thematisch ansprachen. Pflanzen waren wieder dabei und chemische Analytik. Letztlich entschied ich mich für die näher an meinem Heimatort gelegene Arbeitsstelle, für welche ich zwar eine einstündige tägliche Fahrtzeit für eine Strecke in Kauf nehmen musste, aber ein komplettes Umsiedeln vermeiden konnte. Schließlich lebte ich seit vielen Jahren in einer festen Partnerschaft. Da mir mein Freund und unsere gemeinsame Lebensgestaltung sehr viel bedeuteten, hätte ich wohl eine räumliche Trennung, die nur in sechs- bis siebenstündiger Fahrzeit zu überwinden gewesen wäre, nicht lange ausgehalten. Aber eine solche Einstellung ist nicht erwünscht für einen jungen Naturwissenschaftler, der sich möglichst weltweit auf karrierefördernde Stellenausschreibungen bewerben soll. Eine ehemalige Kollegin beispielsweise, welche sich ebenso wie ich während der Promotion in einem Spezialthema verfitzen musste, zog jahrelang befristeten Stellen in ganz Deutschland hinterher, bis sie auf einer unbefristeten Position in einem Amt landete, allerdings in einer Gegend, die ihr aufgrund extremer Überindustrialisierung überhaupt nicht behagte. Der Lebensweg junger und mittlerweile auch älterer Wissenschaftler folgt stets dem gleichen Muster: das fachliche, hochspezifische Thema der Promotion zwingt zur Festlegung der weiteren Arbeits- und Forschungsmöglichkeiten; irgendwann und irgendwo und wenn überhaupt ist dann mal eine Stelle ausgeschrieben, die auf das „eigene Profil“ (wie es so schön heißt) passt. Da muss man dann hin, egal, woher man kommt, wohin man möchte und wo man sich vielleicht wohl fühlen könnte.

      Wehe, man empfinde eine gewisse Heimatverbundenheit. Muss man ja auch nicht, denn die Naturwissenschaft mit ihrer heiß geliebten Schwester Technik zermalmt ohnehin all das, was Heimat einmal bedeutet hat. Das fängt bei der natürlichen Umgebung an, womit ich Bäume, Wiesen, wilde Tiere, aber auch alte, sich in die Landschaft einfügende Häuser und Dörfer meine, und hört bei der Unterhaltungselektronik auf, welche die Menschen an Bildschirme aller Art und Größe fesselt. Fernsehen, Computer-, Handy- und Smartphone-„Tippsen“, mit scheppernden Stöpseln in den Ohren, kann der moderne Mensch überall. Dazu braucht er keine Heimat. Schöne Landschaften kann er sich auf seinen diversen Bildschirmen anschauen – wozu braucht er sie dann vor der Tür? „Je mehr es einen Rückzug der Menschen in eine minderwertige geistige Unterhaltungsdimension gibt, umso weniger wird man noch die verbliebenen Reste der Natur beachten.“ [3] In ländlichen Gegenden, in denen noch einige alte Bauwerke erhalten geblieben sind, fällt jedem aufmerksamen Betrachter auf, wie sich alte Höfe harmonisch in die Landschaft einfügen, wogegen in jüngerer Zeit oder ganz neu erbaute Wohnhäuser wie aufgesetzt wirken, ohne Beziehung zum Untergrund und zum Umland. Dieser Eindruck spiegelt die verloren gegangene Naturverbundenheit vergangener kleinbäuerlich geprägter Lebensformen wider. Auch an der Architektur und Bauweise moderner Häuser erkennt man den Geist der naturwissenschaftlich-technischen Epoche. Die neuzeitlichen Massenbehausungen dienen bestenfalls als „Ställe für Batterien von Nutzmenschen.“ [10]

      Meine alte Kindheits- und Jugendheimat ist längst von der Industriewalze zermalmt worden. Wiesen, auf denen die schönsten Sommerblumen blühten und Schafe weideten, mussten einem gewaltigen Betonplattenbauwerk weichen. Auf einem der Schafe pflegte ich zu reiten, bis es mich kopfüber abwarf. Die alten Weiden, unter denen wir Indianer spielten, stehen noch. Aber die Straße braust dahinter vorbei, so dass man nur mit zugehaltenen Ohren und zugehaltener Nase der Indianerzeit gedenken kann. Weg- und Straßenränder als allerletzte Refugien für wunderschöne Blütenpflanzen werden überregelmäßigst von dröhnenden, stinkenden Maschinen platt gemäht. Schmetterlinge, Bienen und Käfer können ja auf die riesigen Rapsfelder ausweichen, wo Millionen gelbe Blüten blühen, auch wenn sie mehr Chemiegift als Nektar enthalten. Ich mag jetzt nicht daran denken, dass das tonnenweise verspritzte Gift von klugen Chemikern (welche auch Naturwissenschaftler sind) erfunden worden ist. Wunderschön gewachsene Bäume werden im Zuge maßloser Verschneidungswut durch ohrenbetäubend dröhnende Motorsägen verstümmelt. Kein Feldheckenrain, kein Wald- oder Wegesrand darf seine Ästchen herausstrecken. Man muss nur einmal eines der einstmals herrlichen großen Alpentäler besuchen, um vor den Leistungen von Wissenschaft und Technik zu erschaudern: aufgrund der Hochgebirgsumgebung ballen sich neben den großen Flüssen in dichter Aneinanderdrängung Hochspannungsmasten und –leitungen, Straßen und Eisenbahnschienen, um die gesamten breiten Täler Österreichs in nur als Transitstrecke zu ertragende Landstriche zu verwandeln. Alles, was der moderne Wohlstandsmensch zu seinem unglücklichen Dasein benötigt, verunstaltet hier in geballter Form die Landschaft. Die überall flehentlich herbei geschriene Verbesserung der Infrastruktur führt nur noch zu noch mehr Umweltzerstörung. „Unser Wohlstand beruht auf ökologischer Plünderung.“ [14] Die Unverantwortbarkeit all der ein bequemes, wohlstandsüberfülltes Leben ermöglichenden wissenschaftlich-technischen Errungenschaften „wurde über Jahrzehnte hinweg mit Vorstellungen von Fortschritt und Freiheit übertüncht“ [14]. Konrad Lorenz spricht vom „Irrglauben an den sogenannten Fortschritt“ [12]. „Im blinden Fortschrittswahn hat die Nachkriegsgeneration versagt. Wir haben die Natur vergewaltigt, statt uns ihr weise einzuordnen; wir sind Sklaven statt Meister unseres Schicksals geworden.“ [13]

      I.IV


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