Schwindende Gewissheiten. Ursula Reinhold

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Schwindende Gewissheiten - Ursula Reinhold


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fassungslos, dass vieles wiederzukehren schien. Geschichte wiederholt sich nicht, war einer seiner unverrückbaren Leitsätze, den auch sie übernommen hatte. Aber er war gut heraus, er musste es nicht mehr erleben, dass es anders war.

      Nur sie musste noch, wollte auch wohl, war noch neugierig. Sie hatte noch immer Hoffnungen, freilich wusste sie nicht zu sagen worauf. Und was viel-leicht noch kam? Immer noch oder wieder lebt sie im Grenzland, in ihrer Wohnung am Plänterwald, die zu den ersten Plattenbauten vom Typ Q 3 A gehört, die der Arbeiter- und Bauernstaat gebaut hat. Erstbezogen wurde die von den Eltern zum 10. Jahrestag der jungen Republik. Damals verließen sie die Laube, bezogen die erste Wohnung ihres seit Jahrzehnten gemeinsamen Lebens. Und sie ist in das bescheidene Quartier zurückgekehrt, auch, weil die Mutter sie brauchte in ihrer Hinfälligkeit. Es war eine naheliegende Möglichkeit, nachdem der Grünauer Hauswirt Eigenbedarf für ihre komfortable Dreizimmerwohnung angemeldet hatte. An dieser Behausung hing sie sehr. Sie schien ihr der Beweis ihres sozialen Aufstiegs in der DDR. Der nun längst hinter ihr liegt. Jetzt lebt sie wieder dort, wo sie herkommt. In bescheidenen Verhältnissen. So kam sie dem Gang der Dinge entgegen, begriff sofort, dass sie ihren Abstieg planmäßig organisieren musste, um nicht ins Stolpern zu geraten. Das entsprach der herkömmlichen Ordnung, die nach der Wende nun vorerst endgültig wieder hergestellt ist. Ordnungen erheben immer diesen Anspruch. Sie kannte es auch von der vorletzten, nun vorerst endgültig verschwundenen sozialistischen Ordnung der Verhältnisse.

      Wenn sie zehn Minuten den Dammweg entlang fährt, zu den väterlichen Ortschaften Richtung Süden, kommt sie über die Grenze, die am Heidekamp-graben entlang führte, zwischen zwei verschiedenen Arealen von Kleingartenanlagen mit gleichen Namenstypen. „Drosselgarten“, „Vogelsang“ und „Kuckucksheim“, signalisieren vergleichbare Glückserwartungen, Wohlbehagen im beschaulichen Winkel, diesseits und jenseits der zwischenzeitlich scharf bewachten Grenze. Die Gartenkolonien mit ihren Lauben und Bepflanzungen bilden an dieser Stelle das Verbindungsstück zwischen den Berliner Stadtbezirken Treptow und Neukölln, die, je weiter man in ihren Kern vordringt, ihren unterschiedlichen Charakter offenbaren. Jedenfalls für Gisela, die Spazierfahrerin, die die Grenze noch in sich trägt, wenn sie den mit Goldrute und Brennnessel bewachsenen Streifen quert, ein Grün, das notdürftig den Müll bedeckt, der hier abgelegt wurde. Sie fährt durchs Planetenviertel, das sich südlich und nördlich der Sonnenallee erstreckt. Hier tragen alle Straßen Sternbildnamen. Dabei fällt ihr auf, dass es auch in ihrer Nähe eine Orionstraße gibt. Aber diese Namengebung hatte mit der nahegelegenen Sternwarte zu tun. Sie denkt nicht, dass die östlichen Stadtväter in den Sechzigerjahren, als diese Straßen benannt wurden, eine Verbindung zum Neuköllner Planetenviertel schaffen wollten. Das Planetenviertel kennt sie aus ihrer Kindheit, gegenüber der Jupiterstraße, wo es jetzt einen Aldi-Markt gibt, war sie manchmal ins Kino gegangen. Das hieß auch Orion. Für 25 Pfennige, West, versteht sich, die sie nicht immer hatte. Aber man nahm auch ihr Geld, wenn sie 1:4 zahlte, ließ man sie hinein. Allerdings ging sie nur selten in diese Klitsche, wie der Vater das Kino nannte. Die Wildwestfilme dort waren ihr zu albern. Sie stellte höhere Ansprüche, ging schließlich auf die Oberschule, suchte anderes.

      Fährt sie heute in diese Richtung, trifft sie Leute, an die damals nicht zu denken war. Mit ihrem nicht sehr ausgeprägten Unterscheidungsvermögen hält sie die Leute für Türken, Südosteuropäer jedenfalls, Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten des einstigen Jugoslawien vielleicht. Die bewohnen jetzt die Häuser im Planetenviertel, die aus dem Wohnungsbauprogramm der Weimarer Zeit und der ersten Jahre von Hitlers Macht stammen. Mit kleinen Zimmern und großen Küchen waren sie vor allem für kinderreiche Familien vor-gesehen. Kanonenfutter für den künftigen Krieg wuchs in diesen Sozialwohnungen heran. Heute hat man den dreigeschossigen Häusern noch eine Etage aufgesetzt. Die Fassaden verraten, dass sie vor nicht allzu langer Zeit renoviert wurden, es gibt erst wenige Graffitis an Wänden und Türen. Die Häuser und Wohnanlagen mit ihren hohen runden Durchgängen zu begrünten Höfen und Gartenanlagen, ähneln den Bauten jenseits der Grenze in ihrem Stadtbezirk. Nur die Belegung ist eine andere. Ost-Rentner überwiegend hier, nicht-deutsche Familienverbände dort. Gisela würde gern sehen, wie sie wohnen dort. Sie beobachtet Familien, die in den kleinen Vorgärten auf Decken zusammensitzen, vor den Hauseingängen ihre Teppiche reinigen. Deren Leben spielt sich anders als auf der anderen Seite ab. Sommers in den von Büschen und Bäumen begrünten Höfen. Menschengruppen sitzen zusammen, die Kinder auf dem Spielplatz daneben. Außerhalb der Familien gesellen sich die Männer, rauchend, laut palavernd, die Frauen mit Kopftüchern und knöchellangen Kleidern, strickend, miteinander redend. Gisela wüsste gern, worüber sie sprechen. Nein, sie hat keine Ahnung, welches Leben sich jetzt hier abspielt. Nur in den Reihenhäusern mit den kleinen Gärten hinter dem Haus in der Widder- oder Steinbockstraße, da ahnt sie, wie es zugeht. Dort in einem der genossenschaftseigenen Häuser wohnt auch ihr Cousin, ein wohlbestallter Senatsbeamter mit Frau und zwei erwachsenen Töchtern. Deren Ansprüche überforderten bisweilen den gewiss nicht armen Mann. Die Wohnsiedlung der Genossenschaft „Ideal“ war nach den wohnungsbaulichen Reformvorstellungen seit Beginn der 1920er Jahre gebaut worden. Sie verdankte ihre Realisierung einem rührigen sozialdemokratischen Bürgermeister in Neukölln. Heute hat der Senat die Wohnungen an die Mieter verkauft. Natürlich nur an die, die solche mehrgeschossige Reihenhaushälfte bezahlen können.

      Vollkommen fremd sind ihr dagegen die Wohnsilos, die während der Grenz-zeit gebaut wurden. Die lernt sie erst jetzt kennen. In ihrer Kindheit gab es, sowohl im Gebiet zwischen Sonnenallee und Neuköllnischer Allee, als auch in dem zwischen Sonnenallee und Kiefholzstraße, ausgedehnte Laubenareale. Über die Neuköllnische Allee hat ihr Schulweg geführt, bei dem sie zweimal über die Grenze musste. Einmal, wenn sie über die Brücke im Verlaufe der Britzer Allee ging. Das zweite Mal, wenn sie nach einem weiten Weg über die Neuköllnische Allee, den Schwarzen Weg entlang über die Sonnenallee, den Heidekampgraben erreicht hatte. Dort betrat sie dann wieder den sowjetischen Sektor, in dem ihre Schule stand. In der Kiefholzstraße, wo sie heute noch steht, weithin sichtbar.

      Den Schwarzen Weg gibt es heute überhaupt nicht mehr. Sie könnte, auf der Sonnenallee stehend, nicht einmal mehr die Stelle angeben, wo der einst verlief. Zwischen Jupiterstraße und Grenze setzte man in den Sechzigerjahren einem ausgedehnten Häuserkomplex, der ihren Schulweg verschwinden ließ. Auf der anderen Seite der Grenze baute die DDR Wohnhäuser nach dem damaligen Standard. Später geborene, die die Häuser bewohnten, mögen die Sonnenallee immer nur als dieses kurze Ende bis zur Grenze gekannt haben. Ihre Sonnenallee ging immer bis zum Hermannplatz. Denn oft genug war sie mit der Straßenbahnlinie 95 bis nach Neukölln oder Tempelhof gefahren. Später freilich war die Fahrt zwischen der Haltestelle Schwarze Weg und Baumschulenstraße unterbrochen, man musste aus der 95 West aussteigen und an der Ecke Baumschulenstraße in die 95 Ost einsteigen, die dann bis zum Krankenhaus Köpenick fuhr. Erst konnte man noch den gleichen Fahrschein benutzen. Das änderte sich bald, man brauchte Westgeld und so wurden ihre Straßenbahnfahrten nach Neukölln hinein immer weniger.

      Später, nach dem Mauerbau, war sie nur noch selten hier vorbeigekommen. Flüchtig nur schaute sie dann aus dem Busfenster auf das Ende ihrer Welt. Längst hatte sie sich angewöhnt, den Schlagbaum und die Sichtblenden über der Baumschulenbrücke als politische Unabdingbarkeiten hinzunehmen. Sie wollte die Szenerie gar nicht so genau sehen, war froh, wenn sie schnell vorbeifuhr. Die Situation war ihr das Ergebnis einer politischen Entwicklung, die sie nicht beeinflussen konnte, nur akzeptieren. Dabei fühlte sie sich auf der Seite derer, die diese Spaltung nicht gewollt hatten.

      Sie trägt diese Trennung als Phantomschmerz immer noch in sich. Sie begegnet ihr auf Schritt und Tritt in ihrem vertraut, fremden Gelände. So, wenn sie die Wohnsiedlungen durchstreift, denen die Laubenareale ihrer Kindheit weichen mussten.

      Der Häuserkomplex auf der Neuköllner Seite galt bei seinem Bau als Nonplusultra moderner Architektur. Nicht ganz zu Unrecht, wie sie sich bei ihren Radfahrten durchs bebaute Gelände überzeugen kann. Ein Operettenviertel, denkt sie, wenn sie von der Neuköllnischen Allee kommend, die nach Opern-, Lied- und Operettensängern benannten Straßen durchfährt. Heinrich Schlusnus, Leo Slezak, Fritzi Massary, Joseph Schmidt, Michael Bohnen haben hier ihre Straßen. Sie sind nun jetzt alle Trabanten der Sonne, die der breiten Allee ihren Namen gibt und die sich darüber nur wundern kann.

      Das Viertel mit ihrem alten Diamant-Damenrad vermessend, sieht sie das Bemühen der Planer,


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