Nest im Kopf. Beate Morgenstern
Читать онлайн книгу.der Kollegen um sich, die sie sich als Freunde nie ausgesucht hätte. Aber das gefiel ihr. Denn so schliffen sich Empfindlichkeiten ab. Oder sie reiste herum, befragte Menschen, lernte neue Orte kennen, fand sich in neuen Situationen zurecht. Sie hatte ein ruhiges und bestimmtes Auftreten erlernt, bei dem das Bewusstsein, gut und teuer gekleidet zu sein, eine wichtige Rolle spielte. Sie vergaß ihre eigentliche Trägheit. Menschen interessierten sie, und in ihrer Neugier war sie gründlich, ließ nicht los, bis sie alles erfahren hatte.
Doch dann mit der Dämmerung oder schon früher, wenn sie sich unrein und verbraucht vorkam, nichts mehr sie vorantrieb, erschlaffte sie wieder, erlag dem Nachtmenschen. Hatte sie nichts für den Abend vor, döste sie vor sich hin, schlief recht früh ein. Sie schlief viel, lange. Und dann begann sie zu träumen. Immer dieselben Träume. Ihr Freund. Ihre Familie.
An dem Morgen des Tages allerdings, an dem Anna nach Gottshut fuhr, war dieser Traum erklärlich. Denn sie fuhr nach Hause. Zwanzig Jahre, nachdem sie als Oberschülerin ihr Elternhaus verlassen hatte, drückte sie sich immer noch so aus. Sie belächelte sich selbst, blieb aber dabei. Die Eltern hatten ihre Wohnorte gewechselt, die Geschwister waren aus dem Haus, auch die früher üblichen Familientreffen bei den Eltern aufgegeben, da die Geschwisterfamilien zu groß wurden. Trotzdem fuhr Anna weiter nach Hause. Vielleicht hätte sie auf dieser Bezeichnung irgendwann nicht mehr bestanden, wenn die Eltern nicht nach vielen Jahren wieder in jenes Städtchen zurückgekehrt wären, von dem sie einst ausgegangen waren: Gottshut.
Mit Bedacht war von den Gründern vor zweieinhalb Jahrhunderten dieser Name gewählt worden. Unter den Schutz des HERRN befahlen die aus Böhmen und Mähren vertriebenen Evangelischen, die sich noch von dem wegen Ketzerei verbrannten Jan Hus herleiteten, die neu gegründete Freistatt des Glaubens im Sächsischen. Johann Amos Comenius, außerhalb von Gottshut vor allem als Pädagoge bekannt, war der letzte Bischof des alten Bruderbundes der Böhmen und Mähren. Und schon sein Enkel, Oberhofprediger des Alten Fritzen weihte einen der ersten Bischöfe des erneuerten Bruderbundes, zu dem sich die Gottshuter zusammenschlossen. Seit einem Jahrhundert gehörte die Familie von Annas Vater den Gottshutern an. Aber auch der Mutter war Gottshut seit frühester Kindheit vertraut, denn die Ferien verweilte sie bei ihren Großeltern, die sich Gottshut als Ruhestandssitz gewählt hatten. Als Witwe war dann Annas Großmutter nach Gottshut gezogen, um ihre alten Eltern zu pflegen. Im Krieg schließlich kam auch Annas Mutter in das Städtchen.
Obwohl Anna nur die ersten Jahre ihrer Kindheit in Gottshut verbracht hatte, die Eltern waren bald ins Mansfeldische gegangen, zog es sie immer wieder dahin zurück. Viel stärker als ihre jüngeren Geschwister erfasste Anna, dass die Eltern in dem Dorf nicht heimisch wurden, das die erste Pfarrstelle des Vaters war. Gottshut ist die Heimat unserer Väter, hatte der Vater damals Anna erklärt und in ihr das Empfinden für das geweckt, was sie Diaspora nannten, Zerstreuung. Die Familie lebte in der Zerstreuung. Ein Schicksal, das sie mit vielen Gottshutern gemein hatte. Aber sie blieben Gottshuter, ihre Kinder wurden im Geist von Gottshut erzogen.
Freunde wussten von Annas Herkunft. Im Kollegenkreis allerdings erwähnte sie nie den Namen des Ortes. Die Gottshuter waren zwar nur wenigen, meist Älteren, bekannt. Doch diesen wenigen verriet sie sich als eine, die aus einer anderen Welt kam, womöglich aus einer anderen Zeit, in der Gott noch im Mittelpunkt des Geschehens stand. Und man sollte Anna nicht auf Zeichen ihres Andersseins hin beobachten oder gar belächeln.
Selten fuhr Anna zu den Eltern. Und dann meist nur für zwei Tage. Dieses eine Mal jedoch hatte sie sich zu einem längeren Bleiben entschlossen. Noch haben wir eine Kammer für Gäste, hatte die Mutter geschrieben. Du wirst ganz ungestört sein. Der Umzug der Eltern aus der geräumigen Amtswohnung in eine kleinere Alterswohnung stand bevor. Zudem wollte der Vater eine seiner längeren Evangelisationsreisen antreten, sodass Anna - seit wie viel Jahren zum ersten Mal - allein mit der Mutter wäre. Das hatte wohl den Ausschlag gegeben.
Anna hatte sich entschieden, erst den Mittagszug am Sonntag zu nehmen. Bei ihrer Ankunft wären die Besucher des Vaters aus dem Haus. Die Geschwister, wie sich die Gottshuter anredeten, die dem Vater, schien Anna, näher als die eigene Tochter waren und zwischen denen sich Anna als Fremde im eigenen Elternhaus fühlte, obwohl man sie als Älteste des Predigers und als Redakteurin, deren Name hin und wieder in einer Kulturzeitschrift stand, mit größter Hochachtung behandelte. Anna beklagte sich nicht, war sie doch in diesem Geist aufgewachsen, in dem rigoros nach den biblischen Gesetzen gelebt wurde und in dem die Familie - der Gottshuter Missionstradition zufolge - einen untergeordneten Platz zugewiesen bekam, anders als in den übrigen evangelischen Pfarrhäusern. Noch in der elterlichen Generation war es das übliche Schicksal des Missionarskindes, früh von seinen Eltern getrennt in den Internaten Gottshuter Prägung herangezogen zu werden und die über Tausende Kilometer entfernt lebenden Eltern erst nach Jahren wiederzusehen. Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht wert. Textstellen wie diese aus dem Matthäusevangelium waren Anna nur zu geläufig. Da sie die Gemeinschaft der Gläubigen verlassen hatte, musste sie auch eine Entfremdung von den Eltern und ihren Geschwistern hinnehmen. In letzter Zeit, nachdem eine Schwester Annas dem Elternhaus überraschend den Rücken gekehrt hatte, vollzog sich jedoch ein Wandel. Gerade war Anna im Werben um die Familie müde geworden, schrieb kaum noch. Als ahne die Mutter, dass Anna im Begriff war, sich zu lösen, streckte sie ihr die Hand entgegen. Nach so vielen Jahren, in denen Anna umsonst auf ein Zeichen der Mutter gewartet hatte. Ablehnung konnte sie noch ertragen. Aber sie brachte es nicht fertig, jemanden zurückzustoßen, der ihr freundlich begegnete. Was vorher gewesen war, es war vergessen oder spielte wenigstens keine Rolle mehr.
Wie die Orte auch hießen, in die Anna zu den Eltern reiste, immer benutzte sie den gleichen alten Bahnhof, der nicht in das Bild einer Großstadt passen wollte. Auf dem einen Gleis des Fernbahnsteiges kamen die Züge an, auf dem anderen fuhren sie in Richtung Süden und Südwesten ab. In gleichmäßiger Folge liefen auf den Bahnsteigen der Stadtbahn die ockerroten niedrigen Züge ein und aus. Der gewohnte Anblick der abgeschrägten Teerdächer, von deren Holzunterbau rußgeränderte Farbteilchen blätterten. Sie wurden von gusseisernen Säulen getragen, die Pflanzenornamente an den Kapitellen schmückten. Je näher die Abfahrt des Zuges rückte, um so mehr Menschen versammelten sich. In Annas Nähe ein Elternpaar mit zwei halbwüchsigen Töchtern. In den wenigen Sätzen, die die Familie miteinander austauschte, hörte Anna die ihr so vertraute Tönung der Sprache. Vielleicht ein Rest Schlesisch, und vielleicht hatte auch das slawisch gefärbte weiche Deutsch des kleinen Sorbenvolkes im Zweisprachengebiet Einfluss genommen. Noch immer übte diese Art zu sprechen eine große Wirkung auf Anna aus. Die Mädchen unterschieden sich in nichts von den supermodern und teuer gekleideten Töchtern der Stadt. Selbst in ihrer Erschöpfung genossen sie ihr Spiegelbild in der Schwester, zupften aneinander herum, warfen die Köpfe, als streife sie ein leichter Wind, sodass die Ohrgehänge in den langen gelockten Haaren wippten. Anna sagte sich, dass sie schon ihre eigenen Töchter sein könnten, obwohl sie das Ehepaar einer anderen Generation als der ihren zurechnete. Es hatte offensichtlich schon ganz seinen eigenen Anspruch an das Leben aufgegeben und schien mehr durch die Kinder als für sich selbst zu leben. So anspruchslos war es gekleidet und achtete nur auf die Kinder. Unglaublich jung kam sich Anna neben diesem Ehepaar vor. Und doch gehörte sie, im ersten Nachkriegsjahr geboren, inzwischen schon zur mittleren Generation. In wenigen Jahren würde sie vierzig.
Im Zug hatte sie ein Abteil für sich, sodass sie sich nach Belieben ausstrecken konnte. Lange blieb die Gegend flach und sandig. In der Nähe eines Kohlekraftwerkes befiel sie schmerzhafte Langeweile und überhaupt eine Reiseunlust, die sie schon kannte. Immer auf der Fahrt zu den Eltern stellte sie sich ein, mal stärker, mal schwächer. Wann hatte sich die Vorfreude verloren, diese fiebernde, fast kindliche Erwartung, nach Hause zu kommen?
Wie glücklich war sie gewesen, als der Vater nach beinahe eineinhalb Jahrzehnten Dienst als Prediger in der Anhaltischen Landeskirche zurückberufen wurde in eine Gemeinde des Gottshuter Bruderbundes. Kaum hatte sie die Eltern an ihrem neuen Wirkungsort begrüßt, als sie sich schon in das nahe gelegene Gottshut aufmachte. Unvergessen blieb ihr der Einzug, den sie damals in das Städtchen hielt. Zwanzigjährig, barfuß, in Jeans und Kutte, die kurzen Haare triefend nass vom Regen, so war sie von einem Motorrad