Nest im Kopf. Beate Morgenstern

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Nest im Kopf - Beate Morgenstern


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Annas Familie mit der Großmutter Kröger gelebt hatte. Anna überquerte die Straße, sah zwischen den Bäumen eine Frau, die in Statur und Kleidung der Mutter glich. Aber die Mutter war es nicht. Manches Mal hatte sich Anna in Gottshut auch aus der Nähe von rundlichen, kurzhaarigen Frauen täuschen lassen, deren Kleinheit zu den Straßen und Gässchen passte, auf denen sie entlangeilten und die den mütterlichen Typ Gottshuter Schwestern darstellten. Sie konnten auch Auswärtige sein. Wie tief würde es die Mutter kränken, wenn Anna ihre Irrtümer gestände. Denn ihr Leben lang hatte sie sich gesträubt, typisch auszusehen, war stolz auf ihre moderne Frisur im Kreis der dutttragenden Pfarrschwestern gewesen. Nur ihre schmale, angeblich etwas lange Nase machte der Mutter noch in Annas Kindheit Kummer. Anna mochte die kleinen Eitelkeiten, die sich die Mutter in unbedenklicher Naivität gestattete, während sie die an ihren Kindern als ein Stück Eigensucht vermerkt hatte, die ausgemerzt werden musste.

      Das gelb leuchtende Gebäude des Museums, in dem von Gottshuter Missionaren gesammelte Kult- und Gebrauchsgegenstände von Tibet bis Grönland aufbewahrt wurden, fügte sich in den spitzwinkligen Grundriss des Platzes ein. Eine hohe Buchenhecke bedrängte über viele Meter den schmalen Gehweg. Anna streifte mit der Hand die glänzenden harten Blättchen, strich mit dem Körper an der Hecke entlang, die vor dem Einblick in das riesige Gartengrundstück schützte, aber auch denen auf der Straße Schutz gewährte.

      Die Straße beschrieb einen scharfen Knick, um dann parallel zur Hauptstraße zu verlaufen. Aus der Kurve kam eine Frau auf einem Rad. Die Beine traten kraftvoll zu wie bei einer Vierzigjährigen, der weite Rock wehte im Fahrtwind, die herunterhängende Strickjacke schlappte, das Gesicht gerötet, die grauweißen Haare kurz geschnitten. Anna winkte aufgeregt, blieb stehen und genoss das Näherkommen der Mutter. Die stoppte vor ihr und sprang vom Rad. Ihre hellen, grünen Augen leuchteten. Das war das Gesicht, das auf Anna immer noch den gleichen Reiz ausübte wie in ihrer Kindheit. Alle Geschwister schworen beim ersten Wiedersehen, die Mutter habe sich nicht verändert. Sie glich immer der Mutter vom letzten Mal.

      Hab ich's mir doch gedacht, sagte die Mutter, hielt das Rad mit den Beinen fest und umarmte Anna. Ich bin doch zu spät.

      Das schaffst du nie. Anna lachte und war überzeugt, die Mutter überhörte den Vorwurf.

      Ich hab nach Vaters Abreise noch alles in Ordnung gebracht. Übrigens einen schönen Gruß von ihm. Und dann hab ich einen Brief geschrieben. Der musste heute noch weg.

      Jaja, beschwichtigte Anna.

      Die Mutter packte Annas Reisetasche auf den Gepäckträger. Zufrieden, als hätten sie sich schon sehr lange ein Wiedersehen gewünscht und nun endlich wäre es soweit, liefen sie nebeneinander her, Anna auf dem Gehweg, die Mutter mit dem Rad auf dem Kopfsteinpflaster der Straße und dadurch noch ein wenig kleiner als sonst. Anna beugte sich. Ihr behagte nicht die Perspektive großer Menschen, sie war sie nicht gewöhnt. Aber sie musste den Dienst der Mutter, die Anna bewusst als Gast erhöhte, annehmen. Sicher tat es der Mutter wohl, neben ihrer ältesten Tochter herzugehen und zu ihr aufzublicken. Es geschah ja so selten.

      Wir haben einen Artikel von dir gelesen, sagte die Mutter. Auch Vater. Ein Bruder hat ihn uns gebracht. Er handelte ... Jetzt komm ich nicht auf den Namen. Eine Stadt in Thüringen war's.

      Ich weiß schon, sagte Anna und spürte die Anspannung der ersten Begegnung. Sie merkte, wie sie sich keinen Augenblick erlaubte, das Lächeln aus ihrem Gesicht zu lassen.

      Du musst nicht meinen, dass wir keinen Anteil an deinem Ergehen nehmen. Die Mutter schien sich jetzt ebenfalls unbehaglich zu fühlen. Wir interessieren uns, betonte sie. Nur mit Briefen ist es schwierig. Was uns wirklich am Herzen liegt, möchtest du nicht wissen. Und dann ist unser Leben etwas zu reichlich ausgefüllt, um alles, was man möchte, auch ausführen zu können.

      Ich frag mich sowieso, wie du alles schaffst, sagte Anna. Früher hast du bei jedem Besuch einen Riesenaufstand gemacht.

      Das hat sich geändert. Die Mutter lächelte mit geschlossenen Lippen, die Mundwinkel spannten sich. Anna kannte dieses Lächeln. Es trat immer dann auf, wenn sich die Mutter bemühte, eine Bemerkung zu unterdrücken. Sie hatte wohl auf den neuen Menschen in sich hinweisen wollen. Ich bin selbst erstaunt, woher ich die Kraft nehme, sagte die Mutter. Aber wir bekommen sie täglich neu geschenkt.

      Anna verstand die Anspielung. Ihr lebt halt anders, sagte sie. Da gehört man dazu oder nicht.

      Die Mutter zögerte mit der Zustimmung. Möglich, sagte sie endlich. Nur bist und bleibst du unsere Tochter. Wir haben dich lieb. Das sollst du auch wissen.

      Jaja. Anna konstatierte, wie leicht der Mutter die Worte lieb haben fielen, obwohl sie sonst zurückhaltend in Gefühlsäußerungen war und Fremden gegenüber fast verletzend kühl. Das Wort gehörte in den Gottshuter Sprachschatz. Gott hatte lieb, die Eltern hatten lieb. Das bedeutete nicht mehr, als dass man nicht verloren gegeben wurde. Die Eltern waren der Pflicht ihrer Tochter gegenüber vor dem himmlischen Vater nicht entbunden.

      Die Buchenhecke endete an einem Durchgang zu den Feldern.

      Die Schlippe, sagte die Mutter.

      Die Schlippe, wiederholte Anna. In eine Schlippe schlüpfen, dachte sie.

      Anna hatte nun die Nebenstraße bis zum Kirchsaal vor sich. Sie begrüßte das kleine barocke Türmchen auf dem langen, zweigeteilten Dach der Kirche und konnte es nicht unterlassen, in die Fenster der niedrigen Häuser zu Beginn der linken Straßenseite zu schauen. Hineinschlüpfen, dachte Anna noch einmal und besah sich die Topfblumen und pendelnden Unruhen in den Fenstern. Kurze breite Steintreppen mit eisernen Haltestangen vor den Eingängen, sodass Kinder, die Umwege liebten, sicher die Straße treppauf - treppab liefen.

      Wo willst du denn hin, sagte die Mutter erstaunt, als Anna eine Treppe hinaufging.

      Verwechselt, sagte Anna. Die Häuser sehen so gleich aus.

      Du kannst es dir am Schild merken. Die Mutter wies auf einen über der Straße hängenden Aushang des Schreibwarenladens.

      Nun behalte ich's auch nicht mehr. Das nächste Mal seid ihr schon in der neuen Wohnung.

      Ja, richtig. Die Mutter lächelte. Sie zog gern um. Vielleicht hatte die Mutter in ihrem ganzen Leben nicht mehr als sieben, acht Jahre an einem Ort gelebt, ausgenommen in Hannover. Ihr Vater war als Beamter hier- und dahin versetzt worden, und ihr hatten die Ortswechsel als Kind gefallen, sodass es sie ihr ganzes Leben danach drängte, weiterzuziehen. Bot sich kein Umzug an, wurde wenigstens die Ordnung in der Wohnung gründlich verändert, weil dies praktischer schien. Aus einem Schlafzimmer wurde ein Kinderzimmer, aus einem Kinder- ein Wohnzimmer, und das Wohnzimmer wurde zum Amtszimmer des Vaters erklärt. So brachte die Aussicht auf Wohnungswechsel die Mutter in freudige Erregung und ihre Nerven, die geringeren Strapazen kaum standhielten, erwiesen sich plötzlich als äußerst belastbar. Die Mutter plante, besprach sich mit dem Vater und den Geschwistern, verwarf, fand immer praktischere Lösungen für die Aufteilung und Einrichtung der neuen Wohnung.

      Anna hasste Umzüge und war hilflos, wenn ihre gewohnte Ordnung selbst für kurze Zeit durcheinandergeriet.

      Am Blumenfenster erkannte Anna das Amtszimmer des Vaters im Erdgeschoss. Eine Topfblume mit zart behaarten rötlichen Nesselblättern mochte Anna besonders. Es tat ihr leid, dass sie in Zukunft nicht mehr in dieses Fenster sehen konnte.

      Die Mutter schob das Rad in den Hof. Anna folgte ihr. Lautes Sprechen hatte jetzt zu unterbleiben. In dem den Brüderischen gehörenden Haus wohnten verschiedene Parteien - auch die Familie des zweiten Ortspfarrers - und die Mutter hatte das Verhalten der Großstädterin beibehalten. Gesprächen auf der Treppe wich sie aus. Husch-husch-durch, hatte sie einmal zu Anna gesagt, und Anna war betroffen gewesen, wie sehr sich die Scheu der Mutter mit ihrer eigenen schneckenhaften Empfindlichkeit vor der Berührung mit Nachbarn deckte.

      Das Wohnhöfchen, von allen Seiten mit Hausmauern umgeben, war mit Kopfsteinen gepflastert. In der Mitte ein Blumenbehälter, von der naturliebenden Frau des zweiten Pfarrers gepflegt.

      Die Mutter stellte das Rad in einem der Gelasse ab, Anna legte den Kopf in den Nacken, schloss


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