Nest im Kopf. Beate Morgenstern
Читать онлайн книгу.alte Wohnung ziehen, sagte Anna. Unsere Großmutter ist zurückgekommen.
Das wurde auch Zeit, entgegnete die Nachbarin. Anna lief die schmale Gasse hinauf in die Nebenstraße, um den Eltern die freudige Nachricht mitzuteilen. Jemand drückte ihr einen Brief in die Hand, sie brauchte ihn nicht zu öffnen, denn schon hörte sie die Großmutter. Ja, meinen Gottshut-Traum musste ich aufgeben. Zwanzig Jahre früher wäre es noch gelungen. Jetzt ist es zu spät. Auch die Wohnung ist nicht vorhanden. Es ist die Atmosphäre dort, in die ich gern noch einmal heimgekehrt wäre. Hier fehlt sie mir. Aber ich habe die Pension der Schwestern von Hensoldshöhe bewusst verlassen, um hier mit der sehr guten Pension meines Mannes zu helfen. Und zwar gerade noch rechtzeitig, ohne dass ich es wissen konnte: Zwei Töchter führen gleichzeitig ein längeres Studium durch. Daher ist mein Dasein nicht unnütz, wenn ich auch nun keine andere Möglichkeit habe, jemandem zu nützen. Das Abnehmen der Kräfte muss man bejahen lernen.
Anna fand sich in der elterlichen Wohnung wieder. Im Flur traf sie auf den Vater, hielt ihn am Arm fest und wollte ihm mitteilen, dass die Großmutter da gewesen wäre. Doch ihr Eifer verscheuchte den Vater. Er löste ihre Hand und bedeutete mit einer Geste, dass er ein dringendes, nicht aufschiebbares Amtsgeschäft zu erledigen habe. Eine Ahnung trieb Anna ans Fenster: Die Großmutter ruhte im Liegestuhl. Der Kirschbaum verdeckte eigentümlicherweise nicht die Sicht. Anna sah ganz deutlich das Gesicht der Großmutter, in das die Nachmittagssonne fiel. Die bräunliche Farbe der Stirn und die aufgesprungenen Äderchen der Wangen gaben ihr ein blühendes Aussehen. Das Gesicht umrahmten dichte, grauweiße Haare, die zu einem losen Knoten zusammengesteckt waren. Eine Frau in hellem Kleid näherte sich der Großmutter und beugte sich zu ihr herunter. Omi?
Jajaja, murmelte die Großmutter.
Ich bin's.
Die Großmutter öffnete langsam die Augen. Hildekind?
Der Kirschbaum schloss seine Zweige. Anna hatte genug gesehen und ging zur Bodentreppe.
Unten erschien die Mutter mit einem großen Blumenstrauß. Sie lief die Stufen herauf und sagte atemlos und glücklich: Denk dir, Anna, unsere geliebte Omi hat mich noch erkannt! Dann wurde sie nachdenklich und sagte: Sie begreift nur noch das Nächstliegende. Die Stimme der Mutter klang, obwohl sie in Annas Nähe stand, wie aus weiter Ferne, als bewege sie nur ihre Lippen und jemand anderes spräche.
An mich erinnert sie sich nicht mehr?
Nein, Anna. Es hatte wenig Sinn, deine Grüße auszurichten.
Unsere Omi geht weg von uns?
Die Mutter lächelte traurig: Sie ist schon von uns gegangen.
Nun wurde Anna die Bedeutung des Blumenstraußes klar. Die Großmutter hatte sich nach ihrem Tod noch zweimal gezeigt, um Anna mit ihrem Sterben zu versöhnen.
Dann bist du jetzt unsere Omi? fragte Anna und spürte, wie die Zärtlichkeit für die Großmutter auf die Mutter überging.
Ja, Annakind. Uns ist die Zuversicht gegeben, dass du zu uns zurückfinden wirst, denn wir beten für dich.
Omi ist tot, wiederholte Anna und hoffte, dass die Mutter ihre Worte widerrufen würde.
Sechsundneunzig Jahre, erinnerte die Mutter. Es ist ja nur eine vorläufige Trennung.
Vater beerdigt sie? Anna stellte die Frage vorsichtig, um die Antwort der Mutter nicht vorwegzunehmen, womöglich noch günstig zu beeinflussen. Denn beerdigte der Vater die Großmutter, hieße dies, die Großmutter würde doch noch in Gottshut neben dieser Schwester Goldstücker beigesetzt.
Als Antwort hörte Anna die Stimme des Vorlesers: Ihre Enkelin Ille Kröger sah die Großmutter als letzte. Die Großmutter sah hübsch aus wie ein junges Mädchen mit rosigen Bäckchen und heiterem Gesichtsausdruck. Jedoch veränderte sie sich zwei Stunden nach ihrem Hinscheiden und war völlig fremd, sodass man den Sarg zu schließen gezwungen war, einen braunen Eichensarg, welchen ihr Sohn Armin ausgesucht hatte. Es war der Tag, an dem in Süddeutschland ein schweres Unwetter herniederging und viel Zerstörung brachte im ganzen Landstrich. Doch der Gang zum Grab und die kurze Liturgie konnten ohne Regen geschehen, nachdem der Ortspfarrer nach dem Willen der Familie in der Kirche den von der Dahingeschiedenen selbst verfassten Lebenslauf verlesen hatte. Die Tochter der teuren Toten tat einen Strauß Rosen aus ihrem eigenen Garten auf das Grab. Zahlreiche Verwandte und Bekannte waren anwesend. Mit einem Wort Heinrich Heines, das am Grab ihres Sohnes in Russland gesprochen wurde, endete die Versammlung.
Anna hörte den Kommentar des Vorlesers zum weiteren Geschehen, in das Anna nach und nach einbezogen war. Landsknechte fielen in das Dorf ein und schändeten auch den Friedhof, auf den die letzten Bewohner geflüchtet waren. Das beunruhigte Anna nicht besonders, denn bisher hatte sie sich selbst aus schwersten Scharmützeln retten können, und sie verstand sich gut auf das Kriegshandwerk.
1
Halb acht hatten sich die Mutter und Anna verabredet. Im Durchgangszimmer duftete es nach Kaffee. Annas Blick traf auf eine Farbfotografie in einem kleinen Eichenregal. Die Großmutter. Eine ähnliche Fotografie hatte die Großmutter Anna geschenkt: vor einem bräunlichen Kunstlichthintergrund in aufrechter Haltung, kaum die ovale Stuhllehne berührend, in einem glänzenden, graublau geblümten Seidenkleid mit breitem Kragen. Um den Hals eine silberne Kette, blaue Halbedelsteine wie in einen Spitzenbesatz eingefasst. Mit kaum wahrnehmbarem Lächeln sah die Großmutter in die Kamera. Die eng beieinanderstehenden blauen Augen stark vergrößert durch die Starbrille, der Blick gerade. Die grauweißen vollen Haare locker nach hinten gekämmt, die Gesichtsfarbe bräunlich, die durch das Lächeln stärker gerundeten Wangen von frischem Rot, dichter Flaum über der Oberlippe und am Kinn, die Lippen sichtbar, ein recht junger Mund. Die Gesichtshaut glatt gespannt. Eine strenge, jugendlich erscheinende alte Frau.
Unwillkürlich nahm Anna das Bild aus dem Regal. So hatte sie die Großmutter unter dem Kirschbaum gesehen, nur war sie da milder gewesen. Überhastet stellte sie das Foto zurück. Die Mutter sollte sie jetzt nicht auf die Großmutter ansprechen. Noch war sie ihr durch den Traum zu nahe.
In der Küche hatte die Mutter den Frühstückskorb bereitet. Sie schaute auf die Uhr: pünktlich auf die Minute.
Anna lächelte müde. Wie einfach es heute war, die Mutter zufriedenzustellen. Ich bin sowieso ein Frühaufsteher, sagte sie und verschwieg, dass sie schon über eine halbe Stunde in der Bodenkammer herumgesessen und auf die Uhr gesehen hatte.
Morgenfrisch der Garten, dieses Zimmer unter freiem Himmel, betaut die Gräser und Blätter. Mit einem Mal fielen die eisernen Reifen der Müdigkeit und Konvention von Anna ab. Sie hätte wie als Kind in den Tag hineinspringen mögen. Guten Morgen, sagte sie, nickte nach allen Seiten und lachte.
Wen begrüßt du? Warum lachst du?
Entschuldige. Es kam so über mich.
Himmelhochjauchzend ...
Zu Tode betrübt, ergänzte Anna und legte die Hand auf den Mund, weil sie sich selbst albern fand. So hast du früher immer gesagt.
Aus dir soll einer klug werden.
Hast du früher auch immer gesagt. (Das war jedes Mal ein Friedensschluss gewesen, ein Angebot, wenn die Mutter resignierte.) Ich hab unheimlich gute Laune.
Das ist ja dann schön.
Während des Frühstücks wurde Anna von der Mutter bedient. Die Mutter genoss offensichtlich die Anwesenheit der Gasttochter in ihrem Sommerzimmer. Oft hatte sie Anna auf die Ähnlichkeit ihres Charakters mit ihrem Geburtsmonat hingewiesen. April, April, der weiß nicht, was er will. Nun fiel Anna die Ähnlichkeit der Mutter mit deren Geburtsmonat auf. Sie schien ihr aus genau dem kühlen, leicht zerreißbaren Stoff dieses Sommermorgens gemacht zu sein. Wenn Anna sich die Mutter vorstellte, dann meist in dünnen, blumigen Sommerkleidern und ganz jung wie auf frühen Fotografien.
Ich hab von Omi geträumt. Sie lag im Liegestuhl hier unter dem Kirschbaum.
So etwas. Hier ist sie doch nie gewesen. Die Mutter tat, als könne man nur wahrscheinliche Begebenheiten