Nest im Kopf. Beate Morgenstern

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Nest im Kopf - Beate Morgenstern


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den Hausmauern abgesetzte Blenden um die in kleine Quadrate geteilten Fenster, diese für gewöhnliche Wohnhäuser klein. Die des Kirchsaals reichten über zwei Stockwerke, der aber sonst sehr einem gewöhnlichen Haus glich mit seinem zweigeteilten Dach und den Erkerfenstern in beiden Dachgeschossen. Nur in der Mitte des Dachs ein Turm aufgesetzt, ein Dachreiter. Und in seiner Größe übertraf der Kirchsaal die übrigen Gebäude. Gottshut, eine Kommune aus dem Geist der Urchristenheit entstanden, großzügig geplant und in einem Atemzug erbaut. Wohnhöfe, meist im Geviert errichtete Komplexe, für die ledigen Brüder, die ledigen Schwestern, die Pilger. Eine Mädchenanstalt, eine Knabenanstalt. Häuser für Witwen, ein Altenheim. Das Krankenhaus, die Apotheke, die Gemeinbäckerei, die Wäscherei, alles von den Brüdern verwaltet. Selbst die Fabriken des Fabrikanten Abraham Haslinger waren in den Besitz der Brüder übergegangen, ebenso die Ländereien des Grafen, auf dessen Grund sich die Böhmen und Mähren niedergelassen hatten. Nach dem Vorbild der Muttergemeinde entstanden im Land und in Missionsgebieten andere Gottshuter Siedlungen.

      Im Witwenhof war Anna oft gewesen. All die alten Damen, ledig, verwitwet, die Anna vom Sehen her kannte und grüßte, sie lebten in den Wohnungen der verschiedenen Aufgänge, lebten hier, solange sie selbständig einen Haushalt führen konnten. Zwei Frauen teilten sich eine Wohnung, benutzten eine Küche. Die Religionslehrerin fiel Anna ein, die Buchhändlerin, die Schwester von Tante Leonie, die beiden Freundinnen von Tante Leonie. Zu dritt und eifersüchtig sich gegenseitig beaufsichtigend, hatten sie Tante Leonie gepflegt, die auch einmal die Freundin von Annas Mutter gewesen war und dann Annas mütterliche Freundin. Ausgezogen, weggegangen war Annas Schwester Mechthild, die hier gewohnt hatte. Ausgezogen auch Tante Leonie, um in eine der himmlischen Wohnungen einzuziehen.

      Anna ging in einen der breiten Hauseingänge, die dem Kirchsaal zu lagen. Eine klappende Glastür, die den Vorflur vom Flur trennte. Der eigentümliche Geruch von frischem Bohnerwachs, Kräutern und süßen Äpfeln, vermischt mit dem strengen Geruch von Kloake. Eine Treppe, die sich zwei Stockwerke hinaufwand. Weiß lackiert das Geländer, schwarz die Griffstangen. Unauffällig in Ecken und zwischen Flurtüren Kleiderschränke verteilt, die in den kleinen Wohnungen keinen Platz mehr fanden. Schöne Stücke darunter. Die Treppenabsätze schmückten weiße altertümliche Blumenständer. Blattpflanzen auch in den tiefen abgerundeten Fensternischen, aus denen viel Licht kam, das von dem 'Weiß der Wände reflektiert wurde. Eine Stille, von argwöhnischen Ohren der Schwestern hinter den Türen belauscht. In einem solchen Haus konnte einfach nichts Schlimmes geschehen. Manchmal nahm wohl ein leiser Tod eine Bewohnerin mit sich. Doch ohne auf der spiegelblanken Treppe eine Spur zu hinterlassen, und nur im Gedächtnis der übrigen Bewohnerinnen haftete eine wehmütige Erinnerung.

      Anna schaute nun auch in den Hof, der über den vielen hundert Gesichtern, die er im Laufe der Jahrhunderte gesehen hatte, erblindet war, setzte sich auf eine schmale Bank. Ein quadratischer Wäscheplan füllte den Hof aus, nur am Rand ein gepflasterter Gang. Ein kleiner, nützlicher Hof, auf der vierten Seite im Quadrat ein niedriger hölzerner Schuppen. In den Verschlägen lagerten die Bewohnerinnen Holz und Kohle und bewahrten die Geräte für die Bearbeitung der Beete im Gemeinschaftsgarten hinter dem Hof.

      Eine Frau trat aus einem der Eingänge mit einem Korb nasser Wäsche. Ein kurzer Blick zu Anna, die stumm nickte. Die Frau hängte die Wäsche auf und kümmerte sich nicht um Anna. Man war es hier gewohnt, die Arbeit unter den Blicken anderer zu verrichten. Ging Anna in ihrer Kindheit vom Pfarrgrundstück hinaus ins Dorf, hatte sie immer heimliche Augen gespürt. Und selbst in der Großstadt wurde Anna manchmal die Vorstellung nicht los, man beobachte sie. Hier nun in Gottshut waren die heimlichen Augen allgegenwärtig.

      Anna sah auf die mit Weinlaub bedeckten Hauswände, sah hinauf in all die Dachfenster mit den spitzen Giebeln ringsum, überlegte, welche Fenster zu der Wohnung gehörten, die Tante Leonie mit ihrer Schwester bewohnt hatte.

      Es war schon einige Jahre her, im Winter, kurz vor Weihnachten, da hatte Anna Tante Leonie zum letzten Mal besucht.

      Erschrick nicht, hatte Annas Bruder gesagt. Tante Leonie ist sehr alt geworden.

      Wie sollte sich Anna auf das Schlimmste vorbereiten?

      Beklommen war sie das Treppenhaus hinaufgegangen, hatte an Tante Leonies Tür geklingelt, geklopft. Man konnte gleich vom Hausflur in ihr Zimmer, brauchte nicht den Umweg über die Wohnung. Sie hörte keine Antwort und hatte beide Türen geöffnet.

      Tante Leonie hatte in einem hohen Sessel gesessen. Das große Gesicht mit den vollen Wangen nicht mehr aufgedunsen und rot wie im Sommer. Sicher, das kurze Haar brüchig und weiß, und unter der Strickjacke trug sie einen Schlafanzug. Tante Leonie hatte sich immer gepflegt, war immer zum Friseur gegangen. Aber ihr Aussehen verwirrte Anna weit weniger als ihren Bruder, der Tante Leonies Patensohn war. Anna konnte unbefangen und herzlich lächeln, wie sie es sich auf jeden Fall vorgenommen hatte. Sie ging zu Tante Leonie, die sie mit einem Aufleuchten der Augen begrüßt hatte, und küsste sie auf die Wange. Die Haut war mit einer weichen Flaumschicht kleiner, heller Haare überzogen.

      Tante Leonie hob die langen Arme, zog Anna ein wenig zu sich herab und küsste sie ebenfalls. Guten Tag, Anna. Sie hatte eine dunkle singende Stimme. Ihr Gruß hörte sich wie ein Lied an.

      Eine Dame, die neben Tante Leonie auf einem leichten Hocker mit geflochtenem Sitz Platz genommen hatte, war aufgestanden und sah Anna strahlend an, als hätten sie und Tante Leonie soeben über Anna gesprochen.

      Nachdem der Besuch gegangen war, zog Anna den Hocker etwas zu Tante Leonie heran. Diese fasste nach Annas Hand und streichelte sie. Anna nahm eine aus mehreren Holzstreben bestehende, in den Sessel von Tante Leonie eingebaute Rückenstütze wahr. Du siehst gut aus, sagte sie.

      Ja, nicht wahr? Damals im Sommer war ich ein richtiger Pfannkuchen. Sie blies die Wangen auf und lachte kläglich.

      Ich hab dir ja gesagt, das kam vom Medikament.

      Denk dir, Anna, es geht mir wirklich sehr viel besser.

      Tante Leonie drückte Annas Hand und schüttelte sie. Ich war manchmal so verzweifelt.

      Anna sah Tante Leonie aufmerksam an. Selbst im Sommer hatte die Tante hartnäckig über ihren Zustand geschwiegen.

      Ich hatte solche Schmerzen, Anna, gestand sie. Aber jetzt geht es mir wirklich sehr viel besser. Du wirst sehen, eines Tages schaffe ich's bis zum Goldtschmidtel die Treppe runter. Wieder schüttelte Tante Leonie Annas Hand, die sie mit beiden Händen noch immer umfasst hielt. Das Skelett kommt ja nicht mehr in Ordnung. Aber du weißt gar nicht, was für Fortschritte ich schon gemacht habe. Sie schniefte einmal schwach, dann stärker, eine Eigenart der Tante, die bei steigender Erregung zunahm.

      Wie meist bei ihren Besuchen berichtete Anna zunächst von ihrem Leben, ihrer Arbeit in der Großstadt. Dann kam die Sprache auf die Religion. Kaum jemals wurde dieses Thema ausgelassen.

      Annas wütende Ausfälle gegen das Christentum beantwortete die Tante mit entwaffnender Nachsicht. Du bist noch nicht fertig damit Anna, sagte sie und lächelte wissend.

      An der Mutter hätte Anna dieses Lächeln aufgebracht, Tante Leonie verzieh sie es.

      Ich weiß, die Lauen spuckt Gott aus, zitierte Anna einen Bibelspruch, den der Vater häufig verwendete. Sie ärgerte sich selbst über den Eifer, der der Tante recht gab. Außerdem passt es mir nicht, jemandem die Verantwortung für mein Leben zu überlassen, sei es Gott oder sonst wem. Da käme ich mir einfach feige vor.

      So darfst du's auch nicht sehen! Die Tante erregte sich. Wir sind wohl noch verantwortlich für unser Leben.

      Schau doch auf die Eltern. Alles legen sie in Gottes Hand. Er wird's wohl machen.

      Du darfst nicht nur deine Eltern als Beispiel nehmen.

      Wen denn sonst? An ihnen sehe ich, wie's laufen kann, und das genügt mir. Und dass sie die absolute Ausnahme sind, wirst du auch nicht sagen.

      Ach, Anna.

      Ist ja gut, Tante Leonie. Anna lenkte ein, denn die Tante ermüdete sichtlich. Wir haben


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