Nest im Kopf. Beate Morgenstern
Читать онлайн книгу.Mühe das Päckchen und streifte das Band ab.
Anna tat es weh, wie schwer der Tante diese einfachen Handgriffe wurden.
Damit machst du mir aber eine Freude, sagte die Tante, nachdem sie einen von Lochmustern durchbrochenen gelben Papierstern ausgewickelt hatte. Er ist sehr, sehr hübsch.
Wo werden wir ihn hinhängen? fragte Schwester Mirtsching.
An den Sekretär, dort kann ich ihn gut sehen, schlug Tante Leonie vor.
Ans Fenster, beschloss Schwester Mirtsching.
An den Sekretär, sagte Anna und wunderte sich selbst über ihren befehlenden Ton. Der guten Schwester war offensichtlich entgangen, dass Tante Leonie mit dem Rücken zum Fenster saß, immer mit dem Blick auf die Tür, auf den unvermeidlich nächsten Besucher.
Widerstrebend gehorchte Schwester Mirtsching.
Aus einer Seitentür der gemeinsamen Wohnung trat Tante Magda, Tante Leonies Schwester, leise grüßend, ohne jemanden anzusehen.
Anna hörte auf den Klang der völlig gleichen dunklen singenden Stimmen dieser im Wesen wie im Äußeren so unähnlichen Schwestern, die sich nie besonders gut verstanden hatten. Nun war die kleine, kränkliche der großen und starken überlegen. Doch schien sie sich dieser Überlegenheit sehr unsicher zu sein.
Die Mirtschings gingen. Die Tochter verabschiedete sich mit überschwänglicher Freundlichkeit, der Vater förmlich, wie Anna es von ihrem eigenen Vater kannte, nur zwang sich Bruder Mirtsching zu keinem Lächeln.
Anna wurde noch von Tante Leonie zurückgehalten.
Die Tante bezeichnete ihr den Ort, wo sich ihr Geld befand. Anna musste sich einen Fünfzigmarkschein herausnehmen als Fahrgeld. Zwar genoss Anna, dass die Tante sie auf diese Weise verwöhnte, aber es war ihr peinlich, das Geld anzufassen, und noch peinlicher, die Geldbörse selbst zu prüfen und zu leeren. Doch die Tante war nicht imstande dazu, und es war wichtig für sie, Anna etwas zu geben.
Ich verbrauch ja nichts, sagte sie. Und außerdem, ich hab doch keine eigene Tochter. Sie warf Anna einen verschwörerischen Blick zu. Muss niemand was wissen, flüsterte sie.
Anna lachte und versprach es. Sie küsste die Tante auf die Wange und fühlte wieder den weichen Flaum. Auf Wiedersehen! sagte Anna leichthin, als wäre es nicht ihr dringendster Wunsch.
Mehrere Male sah sie sich nach Tante Leonie um, die ihr unentwegt nachschaute.
Anna hatte die Tür hinter sich zugezogen, die Innentür, die Außentür, und war seitdem aus Tante Leonies Leben und auch Sterben heraus gewesen. Die Tante hatte sie trotz Annas ausdrücklicher Bitte nicht mehr gerufen. Ihre letzten Wochen verbrachte sie in rätselhafter Einsamkeit im Gottshuter Krankenhaus, ließ niemanden mehr zu sich, nicht ihre beiden Freundinnen, nicht ihre Schwester. Nur ihren Seelsorger und ihre Nichte, die angereist kam.
Viel später war noch eine Nachricht zu Anna gedrungen. Der Bischof, der als Seelsorger die Tante in den Tod geleitet hatte, erkannte Anna auf der Straße und begrüßte sie. Eine Weile hatte er Anna freundlich angesehen und dann gesagt: Von Ihnen hat Schwester Fendel oft gesprochen.
Wie hatte sich Anna noch im letzten Gespräch mit der Tante ereifert. Jetzt berührten sie die Fragen der Religion nicht mehr. Die Ablösung war Schritt um Schritt erfolgt. Sie hatte nichts forciert, hatte sich weder in die eine noch in die andere Richtung drängen lassen und konnte nicht einmal den Zeitpunkt nennen, an dem sie zu glauben aufgehört hatte. Wurde sie nach der Religion befragt, sagte sie, Gott wäre ihr abhandengekommen.
Sicher hatte hinter den Fenstern die eine oder andere Schwester Anna in Augenschein genommen, eine Fremde, die sich so lange auf ihrem Hof aufhielt, die sich auf einer Bank niederließ und ihren Gedanken nachhing, wie sie es selbst taten, wenn ihnen nicht nach einem Spaziergang war, sie aber auch nicht in der Wohnung hocken wollten. Anna stand auf. Der erste Vormittag in Gottshut dehnte sich, und in ihr war noch die Unruhe der Großstadt. Noch musste sie sich beschäftigen. Nach und nach gäbe sich das. Sie würde sich Fotoalben ansehen und in den Familienpapieren kramen. Eine gute Gelegenheit, denn sonst lagen die Papiere in Fächern verstreut und waren kaum zugänglich.
Die Truhe neben der Tür zur Gästekammer hatte Anna bei bisherigen Besuchen übersehen. Sie gehörte zum üblichen Bodengerümpel, das sich von Umzug zu Umzug neu ansammelte. Wie oft sich die Mutter auch trennte und dies lautstark verkündete, es wurde nie weniger.
Als Anna die Truhe jetzt sah, erinnerte sie sich, dass die Mutter früher Federbetten darin verstaut hatte. Sie öffnete die Truhe, stapelte die Alben auf den Dielenbrettern. Die meisten hatte Anna selbst angelegt. Die Mutter hatte keinen Sinn dafür und der Vater keine Zeit. Andere Alben stammten von Jugendfreundinnen der Mutter, von Annas Großmutter und aus dem Nachlass von Annas Urgroßvater Schlemmin. Anna schob die Papiere auseinander.
Zuunterst Lesebücher für höhere Knaben und höhere Töchter. In Schichten darüber Briefe, lose, in Briefumschlägen, abgeheftet in Heftern, in einem Ordner die aus den ersten Ehejahren der Eltern. Schwarze Wachstuchhefte, die nach dem Tod des Großvaters Kröger als Rundbriefe zwischen den zerstreuten Familienmitgliedern kursierten, vervielfältigte Weihnachtsbriefe des Vaters, die seine umfangreiche Korrespondenz vereinfachten, Kopien von Briefen, verfasst vom Bruder der Mutter an der Kriegsfront, doch rein geistlichen Inhalts. Auf Empfehlung der Mutter hatte sie Anna als Mädchen einmal durchgearbeitet. Ausgeschnittene Zeitungsartikel, die Anna geschrieben hatte. Sie zog ein großes Heft unter den Papieren hervor. Lebenslauf Großmutter Kröger in der Anna so bekannten lateinischen Schrift, zu der die Großmutter später übergegangen war. Große, gut lesbare Buchstaben mit gotischen Spitzbogenausläufen. Anna hatte dieses Heft der Großmutter noch nie in den Händen gehalten.
Anna las. An manchen Stellen hörte sie die knarrende Altfrauenstimme der Großmutter heraus, die sich in bewegenden Augenblicken ähnlich wie bei Tante Leonie bis ins Emphatische steigerte. Manchmal schien die Großmutter Anna so nahe, als brauche sie sich bloß nach ihr umzusehen. Dennoch erfasste Anna auch das Groteske dieses Berichts. Die Großmutter nahm ihre Familie ganz aus der Geschichte heraus und ordnete den Bericht konsequent einem Leitgedanken unter, nämlich: Seine Gnade zu bezeugen. Offensichtlich unterschied sie diesen Krieg nicht von früheren, vielleicht weil sie einen Weltkrieg schon erlebt hatte. Kriegswirren wie notvolle Zeiten des Hungerns und Frierens und vielfältiger Unfreundlichkeiten hatte es in der zweitausendjährigen Geschichte der Christenheit immer gegeben. In ihnen taten die Gläubigen ihre Pflicht, wo auch immer der für sie bestimmte Platz war, auf dem Feld oder in der Heimat. In altertümlichen, befremdlich anmutenden Wendungen gedachte die Großmutter Seiner Führung, Seiner Gnade. Der Herr geleitete die Seinen durch finstere Täler. Während des Lesens hatte Anna ein anderes Bild aus dem 23. Psalm vor Augen, wie der Herr den Seinen einen Tisch im Angesicht seiner Feinde bereitete, und es wunderte sie nicht, dass die Großmutter zum Ende ihres Lebenslaufs gerade aus diesem Psalm des Königs David zitierte, den Anna als Kind mit zwiespältigen Gefühlen gelernt hatte. Durfte man essen, sich im Angesicht der Feinde ein Mahl bereiten lassen, während die Feinde hungerten?
Ravensburg, Ende 1967
Ob es mir gelingen wird, in meinem 85. Lebensjahr mit abnehmenden Sinnen und Gedächtnis noch einmal ein Stück Vergangenheit lebendig zu machen? Im ersten Teil meines Lebenslaufs wollte ich berichten, was Gott in meinem und meiner Familie Leben getan hat. Nur seine Gnade zu bezeugen und Euch nicht vorzuenthalten bewegt mich zu dem Versuch zu erzählen, wie es weiterging.
Lange war uns der Aufenthalt meines zweiten Sohnes Friedemann bei Kriegsbeginn unbekannt, bis die Nachricht kam: Westwall, nicht Polen. Noch einmal geschenktes Leben.
Mein ältester Sohn Johannes wurde erst im Januar 1940 nach Hamburg eingezogen. Er war durch kurze Übungen schon Feldwebel geworden und nun Offiziersanwärter. Kurz zuvor war Friedemann als Unteroffizier vom Westwall nach Hamburg