Nest im Kopf. Beate Morgenstern

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Nest im Kopf - Beate Morgenstern


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kalt. Ich riet deshalb dem Vater dringend ab, in den Silvestergottesdienst mit dem Jahresbericht zu gehen, weil der Saal nach der Pause erst angeheizt wurde. Er erklärte aber: Da gehe ich immer hin, und ich war gewohnt zu gehorchen. Nach dem Gottesdienst hatte er stark geschwollene Füße und konnte sich nicht selbständig ausziehen und zu Bett legen. Am 1. Januar früh fragte ich ihn zaghaft: Wie geht es dir? - Schlecht, du hast mich nicht gut versorgt, war seine Antwort. Er hatte eben nicht alles gefunden. Die Füße waren in Ordnung. Vater stand auf, tat alles wie immer, und wir gingen in den Neujahrsgottesdienst. Wir speisten sogar noch im Gasthof zu Mittag, wie wir es an Sonn- und Feiertagen zu tun pflegten. Erst nachmittags bekam Vater Fieber und musste sich legen. Die Krankheit wurde aber nicht heftig und quälend. Wieder wurde ich gleichzeitig krank und bekam Fieber. Am 4. Januar abends versorgte ich Vater für die Nacht. Er schien nicht zu leiden, war aber schwach und antwortete kaum. Aber als ich fragte: Soll ich dir noch die Andacht vorlesen? kam ein deutliches Ja. Wir lasen Andachten, die er selbst verfasst hatte unter Zugrundelegung aller Sonntagsperikopen. An der Reihe war der Text Römer 8, 28-32. Danach schien er friedlich einzuschlafen, während ich nebenan auf dem Sofa bei offener Tür schlief Weil ich selber nicht wohl war, kam Hilde frühmorgens, um uns Feuer zu machen. Sie schloss leise die Tür zum Zimmer des Großvaters. Ich ging dann bald hinein und fand ihn genauso daliegend, wie ich ihn am Abend verlassen hatte, entschlafen: Er sah wunderschön aus, sodass ich nur sagte: Hilde, Großvater ist daheim. Seinen Freunden gibt es der Herr schlafend. Das war einer von Vaters Lieblingssprüchen.

      Im März 1944 habe ich mich als Mitglied des Bruderbundes aufnehmen lassen, weil ich mit den nun frei gewordenen Kräften in der Gemeinde dienen wollte, durch deren gottesdienstliches Leben ich schon so lange gesegnet worden war. Man blieb auch Mitglied der Lutherkirche. Wir lebten in Gottshut sehr gnädig behütet. Hilde machte wohl im Januar 1945 Gebrauch von der Erlaubnis für Ehefrauen, am Standort ihres Mannes eine Arbeit zu übernehmen, in Bremerhaven, wodurch sie dort ein Zimmer bekam. Erst in den ersten Maitagen wurden die Einwohner Gottshuts aufgefordert, den Ort zu verlassen, um den vordringenden Russen auszuweichen. Mit schwerbepackten Leiterwagen zog ein langer Treck bei großer Wärme auf das Gebirge zu, eigentlich ohne Ziel. Gruppen hatten sich gebildet, und nicht alle konnten Schritt halten, auch in meiner Gruppe. Deshalb zweigten wir uns an einem mir wohlbekannten Scheideweg ab, der nach Kretzschmarsdorf führte, wo meine liebe Cousine und Freundin im eigenen Haus wohnte. Sie nimmt alles auf, was zu ihr kommt, und wenn man auch dort nicht bleiben kann, geht man gemeinsam weiter. Zu neun Personen fanden wir bei Elli Heiland Unterkunft. Der Krieg ließ uns aus. Nur Geschosse flogen über das Dorf und trafen auch ein Gebäude in der Nacht, die wir im Kellergebäude zubrachten. Der große Treck ist von Tieffliegern beschossen worden. Das war am 7. Mai. Es waren noch andere Gottshuter nach Kretzschmarsdorf gekommen, wo überall mit weißen Laken geflaggt war. In der Frühe des 8. Mai klopften Russen an unsere Tür: Frau Urrr! Bei uns war eine junge Baltin, die russisch antworten konnte, und mit zwei Taschenuhren begnügten sie sich. Am frühen Morgen des 9. Mai hieß es: Gottshut brennt. Als die Russen in den Ort kamen, waren Schüsse gefallen, und dafür wurde Vergeltung geübt. Einige treue ältere Gottshuter wagten den Rückweg und konnten noch löschen und einiges retten. So verbrannte die Mitte Gottshuts: Kirche, Schwesternhof, Herrschaftshof, Bruderhof, Apotheke und anderes. Erhalten blieben das Krankenhaus und die Witwenhöfe und was mehr außen herum lag. Drei Tage durfte der Ort straffrei geplündert werden. Langsam kehrten die Einwohner zurück. Wie dankbar war ich, dass mein alter Vater diese Flucht und Heimkehr der Alten und Kranken in Leiterwäglein nicht mehr miterlebte. Es folgte eine wunderbare Zeit (das selten so dauerhaft schöne Frühsommerwetter trug dazu bei), wo unter bewährter geistlicher Führung (die leitenden Brüder legten überall vorbildlich mit Hand an) die äußere Ordnung leidlich wiederhergestellt wurde. Jeder Tag begann mit einer Morgenandacht und einem Arbeitsappell im Garten der stehen gebliebenen bisherigen Mädchenanstalt, die Schwesternhof wurde. In der bisherigen Aula fanden auch Gottesdienste statt. Einer half nach Kräften dem anderen. In den Wohnungen sah es wüst aus. Ich fand aber bei Sichtung der aufgetürmten Haufen so ziemlich den Haushalt wieder. Es war nichts zertrümmert, sogar das Silber da geblieben. Infolge der gestörten Postverbindung wusste ich lange Zeit nicht, wo meine Kinder geblieben seien, bis schließlich ein dicker Brief ankam aus Hannover. Im Hause von Johannes treuer Braut hatten sich alle getroffen und berichteten. Elisabeth wohnte weiterhin bei Hannover. Armin war nach Verlegung der Unteroffiziersschule nach Leslau noch zweimal in großer Lebensgefahr, aber mit einigen Kameraden war ihm das Absetzen von Pommern, dann Blankenburg und schließlich nach Bayern gelungen. Dort war er sechs Wochen in amerikanischer Gefangenschaft und suchte jetzt nach neuer Existenz. Also gnädig behütet. Heiner und Hilde Herrlich wohnten noch in einem Zimmer in Bremerhaven. Sie schrieben, dass sie sich entschlossen hätten, fortan ihr Leben unter Gottes Führung zu stellen. Das war gegen ihre frühere Einstellung eine radikale Wendung zu Gott hin. Das hat mich erschüttert und meinen Kleinglauben tief beschämt. Es war die notvolle Zeit des Hungerns und Frierens und vielfacher Unfreundlichkeiten. Hilde erwartete ihr erstes Kind und verlebte die Wintermonate 45/46 bei Johannes' Braut. Am 16. April 1946 wurde ihr Töchterchen Anna in Bremerhaven geboren. Dort hatte Heiner eine Anstellung bei der Stadt gefunden. Bremerhaven blieb unwirtlich, und sie waren einsam. Als meine Untermieter auszogen, lud ich sie darum ein, deren Platz einzunehmen. Es fand sich eine Anstellung am Amtsgericht, und sie entschlossen sich zur Heimkehr nach Gottshut. Mein Sohn Armin hat stark abgeraten, zu den Russen zu gehen. Wir haben es für unsere Führung gehalten. So kamen Herrlichs zu mir, im Herbst 1946, mit ihrer kleinen Anna. Sie haben sich bald in der christlichen Gemeinschaft wohl und geborgen gefühlt. Ich hatte wieder eine neue Lebensaufgabe.

      Kein Wort von Schuld, dachte Anna. Frühe Vollendung der Gerechten. Gnädiges Behüten und Führung der Getreuen und der noch Ungetreuen. Immerhin war in Annas Kindheit noch von Schuld die Rede gewesen, Schuld, die ein ganzes Volk auf sich geladen hatte und an der Anna beteiligt war. Gern hätte sie Schuld abgetragen, denn Schuld auf sich zu nehmen und zu tragen, war ja ein Teil der christlichen Lehre. Die Großmutter hatte das Leben einer bisweilen Kleingläubigen geführt, einer, die im Alltag einmal versagte. Doch von mehr Schuld wusste sie nicht. Wie ähnlich war diese Haltung der neuen Lebenseinstellung der Eltern, die sich als Erwählte Gottes von der Welt abschlossen und allein ihrem Gott lebten.

      Ich greife zurück, um zu berichten, dass ich bald nach Mutters Heimgang (August 1937) in Gottshut gebeten wurde, die erkrankte Kreismutter des dortigen großen Kreises des Deutschen-Frauen-Missions-Gebetsbundes (DFMGB) abzulösen, weil ich in Hannover so stark in diese Arbeit hineingewachsen war. Es handelte sich um eine Monatsstunde des Missionsgebets-Bundes. Durch diesen Kreis wurde mir Gottshut zur Heimat. Hier gab es keine Enge. Veranstaltungen fremder Reichsgottesarbeiten, sofern sie klar biblisch ausgerichtet waren, wurden freudig begrüßt, guter Raum zur Verfügung gestellt, auch Gäste zum Übernachten großzügig untergebracht. So durfte auch unser Kreis Besuch haben von unseren Missionarinnen (aus China, Palästina, Afrika) und von den Führerinnen: Gertrud und Maria von Bülow, Bezirksmutter Gräfin von der Recke. Das war eine große Bereicherung. Der DFMGB steht auf Allianzboden, deshalb kamen zu unserer Gebetsstunde auch freikirchliche Mitglieder, die allen zum Segen wurden. Auch während der schweren Nachkriegsjahre hat es solche Höhepunkte gegeben.

      Das Alltagsleben war ausgefüllt durch Beschaffung der täglichen Nahrung: Ährenlesen, Kartoffeln- und Rübenstoppeln und dergleichen. Das Ährenlesen habe ich in schöner Erinnerung: bei strahlend blauem Himmel, in der lieblichen Landschaft auf weiten Feldern noch einzelne Ähren zu entdecken. Durch die Schrotmühle gemahlen, ergaben diese Körner ein sehr geschätztes Frühstück. Unsere kleine Anna gedieh trotzdem. Es wurde auf den Gütern viel Kohl gezogen, nicht gerade für unsere Ernährung. Lastwagen holten ihn fort. Aber die äußeren Blätter wurden vorher entfernt, und wir durften sie verwenden. Ich erinnere mich, die kleine Anna mit durchgeschlagenen Kohlblättern, die mit geriebenem Leinsamenkuchen angedickt wurden, gefüttert zu haben. Den letzteren wie auch den beliebten Mohnsamenkuchen


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