Morgenrosa. Christian Friedrich Schultze
Читать онлайн книгу.er die Wohnungstür aufgeschlossen und den kleinen Vorraum betreten hatte, beschlich ihn einen kurzen Augenblick das Gefühl, dass er nicht allein sei. Er musste lächeln und beruhigte sich gleich wieder. So wichtig war er für die Organe nun auch nicht! Und versuchte Republikflucht war ihm im Fall seiner Dienstreise nach Budapest kaum nachzuweisen. Er hatte alle dienstlichen Aufträge im Partnerwerk erledigt und war sogar einen Abend mit Ferenc und Kati im Budapester Nachtleben unterwegs gewesen. Sie hatten ihn erst in die Oper und dann in einen der unvermeidlichen Weinkeller mit ungarischer Zigeunermusik eingeladen.
Das Hotel, in dem er gewohnt hatte, hatten die Budapester Kollegen gebucht und auch bezahlt, so war das auf Gegenseitigkeit üblich. Die Dinge hatten also nach außen ihre vollkommene sozialistische Ordnung.
Das Westgeld, welches Robert nicht hatte wiederhaben wollen, musste gut versteckt werden, falls man ihn doch überwachte. Und das schizophrene Reden, welches man in der Öffentlichkeit und unter Kollegen pflegte, musste am Telefon eben zur Perfektion getrieben werden. So hoffte er, dass im Betrieb alles wie bisher gewohnt weiterging. Schließlich verstand er sich mit den Kollegen und seinem Chef wirklich sehr gut und selbst mit dem Parteisekretär gab es so etwas wie ein kollegiales Verhältnis.
Es war nicht so, dass man in den Parteiversammlungen überhaupt nichts sagen konnte. Nur wenn man als Dauerstänkerer aufzufallen begann, war der betriebliche Sekretär erst mal verpflichtet, ein klärendes Gespräch zu führen. Solch eine Unterhaltung war natürlich absurdes Theater, denn weder dieser kleine Funktionär der Parteigruppe, noch der abweichlerische Genosse sagten auch nur annähernd das, was sie wirklich dachten. Und Fritz Rauch war weder ein Stalinist noch ein wirklicher Denunziant, so dass solche Pflichtübungen zwar Zeit kosteten, aber niemandem etwas schadeten.
Wauer schmiss sein Köfferchen auf das kleine Ledersofa in seinem Arbeitszimmer, inspizierte kurz Schlafzimmer, Wohnküche und Bad, holte die Post aus dem Postkasten und begann dann auszupacken. Er nahm die Mappe aus dem Koffer und begann, die Scheine der westdeutschen Währung vorsichtig aus ihren Verklebungen zwischen den Blättern der Unterlagen, die er für seine Dienstberatungen in Budapest benötigt hatte, zu lösen und zählte nochmal dieses Geld. Es waren zweitausend Westmark, ein kleines Vermögen für einen Ostangestellten, wenig für einen Westmanager wie Robert.
Er machte ein Bündel aus den Scheinen, spannte einen Gummi darum und ließ es in die Vase fallen, die in der oberen Etage seines Bücherregals stand. Ob das ein gutes Versteck war, bezweifelte er selber. Er hoffte, dass ihm bald ein besseres einfiel. Den teuer erworbenen österreichischen Pass mit sich zu führen, hatte er sich nicht getraut. Sie vernichteten ihn mit widersprüchlichsten Gefühlen gemeinsam auf der Margareteninsel, indem sie ihn feierlich verbrannten. Er war ziemlich unruhig und darauf gespannt, was ihm die nächsten Wochen bringen würden. Er würde am frühen Abend versuchen, Helga zu erreichen. Nachdem er seine Reiseutensilien aufgeräumt und die Wohnung gelüftet hatte, setzte er sich hin, und schrieb einen Brief an Barbara und Lothar, die seit zwei Jahren in Frankfurt an der Oder lebten und arbeiteten. Er bat sie, möglichst schnell einen Termin zu nennen, wann er ein Vaterwochenende mit Lothar, möglichst in Berlin, verbringen konnte und schrieb die dienstliche und die private Telefonnummer dazu.
Er klebte den Brief zu, pappte eine Briefmarke darauf und machte sich zum Ausgehen fertig, um den Umschlag zum Postkasten bringen zu können. Er musste auch noch Lebensmittel in der HO-Halle einkaufen, denn der Kühlschrank war leer. Er hatte ihn, bevor er nach Ungarn aufgebrochen war, ordentlich abgetaut und mit offener Tür stehen lassen. In den nächsten Wochen musste er alles Inventar wieder ranholen, welches er vor seiner Abreise verkauft oder anderswo untergebracht hatte. Eine aufreibende Aufgabe!
Morgen jährte sich der Mauerbau zum einundzwanzigsten Male.
3.
Er hatte wenig geschlafen während der nächtlichen Heimfahrt im Zug. Robert, die Inkarnation an Anstand und Freundlichkeit, hatte ihn noch zum Nyugati pu, dem Westbahnhof auf der östlichen Pester Seite, von welchem aber die meisten Züge in Richtung Westen abfuhren, begleitet, noch einen starken ungarischen Kaffee mit ihm getrunken und immer wieder geseufzt und ihn gefragt, ob er sicher sei, die richtige Entscheidung getroffen zu haben und er diese lange vorbereitete Chance wirklich verstreichen lassen wolle. Wauer wunderte sich, dass ihm der Abschied, so schwer er auch war, keine tieferen Schmerzen bereitete. Er war sich auch sicher, dass er Robert in nicht allzu ferner Zeit wiedersehen würde und sprach mit ihm auch darüber. Nach den neuen Abkommen zwischen den beiden deutschen Staaten war es für Westdeutsche leichter, ihre Verwandten in der DDR zu besuchen. Bisher hatten sie sich nur das eine Mal zur Beerdigung von Wauers Vater im März dieses Jahres in Großschönau in Ostsachsen getroffen. Vorangegangen waren die Treffen in Prag und Warschau. Gerade, wenn er an Warschau dachte und an die Gespräche zu dritt mit seiner Geliebten Helga, überkam ihn wieder das Gefühl von Gewissheit, dass es richtig war, im Osten zu bleiben.
Mit dem gleichmäßigen Hämmern der Waggonräder über den Schienenstößen der altertümlich verlegten Bahngleise war er in der ersten Stunde eingeschlummert, dann aber vom Schaffner und den Grenzkontrolleuren zur Tschechoslowakischen Grenze unsanft geweckt worden. Danach konnte er lange nicht mehr einschlafen. Ihm fiel ein, dass er seit dem Polenbesuch im Herbst 1981 wenig aufmerksam gegenüber den Dingen um ihn herum gewesen war. Einerseits war er von der fixen Idee besessen gewesen, nach drüben abzuhauen und er hatte allerhand mit den Vorbereitungen dazu zu tun gehabt. Andererseits saß der Schock des Weihnachtsfestes des vergangenen Jahres, als ihn Helga inmitten der kleinbürgerlichen weihnachtlichen Idylle seiner neu bezogenen Wohnung wegen der Kindsfrage von einer Minute auf die andere verlassen hatte, noch viel zu tief.
Im Grunde, das wusste er im Tiefsten seines Herzens, waren jene ersten Monate des Jahres 1982, als sie ihm so schmerzhaft fehlte und dann auch noch sein von ihm ungeliebter Vater elendiglich an Krebs gestorben war, die Zeit, die ihn zu seinem Entschluss gebracht hatte, die DDR verlassen zu wollen. Barbara, seine Geschiedene, hatte ihm zudem allerhand Schwierigkeiten wegen des Umgangs mit Lothar gemacht. Bis auf ein paar Tage im Sommer des letzten Jahres und zum Begräbnis des Großvaters im März, hatte sie jegliche Besuche unterbunden. Aber Lothar war jetzt zehn Jahre alt und die Zeit war reif, sich wieder, so gut es ging, um einen Umgang mit ihm zu bemühen. Zeit heilt Wunden! Warum sollte sich in dieser Sache nichts bessern lassen?
Natürlich hatten auch die politischen Entwicklungen, vor allem in Polen, dazu beigetragen, dass sich sein Wunsch, dem Arbeiter- und Bauernstaat den Rücken zu kehren, ständig verstärkt hatte. Der polnische General Wojciech Jaruzelski hatte am 13. Dezember unter massivem sowjetischen Druck das Kriegsrecht über Polen ausgerufen und die Solidarnosz1 verboten. Der Westen hatte den NATO-Doppelbeschluss verkündet und in den USA hatte der Schauspieler Ronald Reagan, ein republikanischer Hardliner, die Präsidentschaftswahlen souverän gewonnen. Dieser ordnete sogleich den Bau einer Neutronenbombe an. Eine neue heiße Phase des kalten Krieges zwischen den NATO-Staaten und dem sozialistischen Lager war eingeläutet worden.
Dass der König von Spanien in Madrid durch persönlichen Einsatz einen Putsch francophiler Militärs verhindert hatte, wurde im Osten kaum wahrgenommen. Auch der Falklandkrieg der Engländer und Argentinier um eine Inselgruppe im Südpazifik, auf der es nur wenige einstmals englische Siedler gab, drang kaum ins Bewusstsein der DDR-Bürger.
Für die meisten Menschen in der DDR war womöglich der Besuch des Bundeskanzlers Helmut Schmidt, den Erich Honecker am 11. Dezember im Schloss Hubertusstock am Werbellinsee empfing, am bedeutsamsten. Die Bürger des antifaschistischen deutschen Staates waren mit den existenzielleren Sorgen ihres täglichen Versorgungskleinkrieges und des Kampfes um die Erfüllung des gerade beschlossenen neuen Fünfjahresplans der Staats- und Parteiführung beschäftigt. Dass in China Hu Yaobang neuer Staatsführer wurde und in Amsterdam und in Bonn Hunderttausende gegen den NATO-Doppelbeschluss demonstriert hatten, interessierte sie weniger. Und dass im April Matthias Domaschk, ein Jenaer evangelischer Dissident, festgenommen wurde und kurz darauf unter mysteriösen Umständen im Stasigefängnis verstarb, oder dass der MfS-Hauptmann Werner Teske wegen seiner Vorbereitungen zum Seitenwechsel hingerichtet wurde, erfuhren die DDR-Bürger erst 1990.
Vorläufig schrieb man das Jahr 1982 – nach christlich berichtigter gregorianischer