Morgenrosa. Christian Friedrich Schultze

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Morgenrosa - Christian Friedrich Schultze


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Diese Strecke war nicht besonders anstrengend, vermittelte dem Jungen aber bei dem herrlichen Wetter dieses Tages wunderbare Aussichten und ein erstes Gefühl für die Schönheiten eines Hochgebirges. Von da fuhren sie mit der Zahnradbahn hinunter zur Station der Tatrabahn, mit der sie dann in ihr Zeltlager zurückkehrten.

      Die größte Tour des Urlaubes und erste wirkliche Bergfahrt für Lothar fand dann eine Woche später statt. Ohne besondere Probleme zogen sie gemeinsam die bekannte Wanderung von Tri studnicky auf den Gipfel des Krivan durch. Dieser westliche große, fast frei stehenden Eckpfeiler der Hohen Tatra sah dem Matterhorn ein wenig ähnlich, faden die beiden. Für den Aufstieg benötigten sie geschlagene vier Stunden. Nach der Gipfelrast bewältigten sie den ebenso langen Abstieg hinab in den Flecken Strebske pleso mit seinem gleichnamigen See und dem charakteristischen großen Berghotel mit nur einer kurzen Rast.

      Der Junge hatte sich derart wacker gehalten, dass er nach einem Eis am Stiel, das er am Kiosk bekam, am oberen See noch eine halbe Stunde Ruderboot fahren wollte. Vom See aus hatten sie wunderbare Ausblicke auf die rundum gelegenen Gipfel des östlichen Bergkammes und Wauer schoss eine Reihe kalenderreife Erinnerungsfotos fürs Familienalbum. Sie erreichten knapp die letzte Bahn, um in ihr Lager zurückzukehren.

      Zwischen solche harten Bergwanderungen legte Wauer aus weiser Vorsicht ausreichend Erholungstage, an denen sie an ihrem Flüsschen faulenzten und sich ausgiebig sonnten.

      Auf diese Art wurde der Tatra-Urlaub von beiden, Vater und Sohn, als großer Erfolg und ihre bisher schönste gemeinsame Zeit empfunden. Auf der Heimfahrt musste Wauer dem Jungen versprechen, dass für das kommende Jahr wieder ein Zelturlaub in den Bergen eines sozialistischen Bruderlandes organisiert werden würde. So hielten sie es dann die nachfolgende Zeit mit Ausnahme des Jahres 1985. Da unternahm Wauer mit seiner Geliebten Helga eine Reise in einem Autokonvoi durch die Sowjetunion bis hin nach Jerewan, der Hauptstadt Armeniens.

      In jenen Vater-Sohn-Urlauben erwanderten sie zusammen das Riesengebirge in Tschechien, das Fogarascher Gebirge und das Retezat in Rumänien, das Pirin- und das Rilagebirge mit seinem weltberühmten Kloster in Bulgarien und natürlich das Elbsandsteingebirge in der sächsisch-deutschen Heimat. Nur die Alpen, von denen Wauers Vater immer geschwärmt hatte und von denen es in Großmutters Bücherschrank einige Bildbände gab, blieben für sie in unerreichbarer Ferne.

      9.

      Martin Wauer hatte sich im ersten Halbjahr ´83, so wie er es sich geschworen hatte, in erster Linie um die Verbesserung seiner Beziehungen zu seinem Sohn, und damit einhergehend zu seiner geschiedenen Frau, bemüht. Während dieser Zeit begannen seine Querelen mit der Partei und den Organen, die ihn zwangen, sich auf die neue Aufgabe in Frankfurt-Oder vorzubereiten und seinen Nachfolger in der Berliner Projektierungsabteilung einzuarbeiten. Er und die Kollegen mussten viele Überstunden ableisten, um alle diese Vorhaben termingerecht noch vor seinem Slowakeiurlaub mit Lothar abzuschließen.

      Die politischen Ereignisse der Welt, ja sogar die besonderen Geschehnisse jenes Jahres in der DDR, waren dabei ein bisschen an ihm vorbeigerauscht. Außerdem hielt er sich seit seinem letzten Gespräch mit dem Parteisekretär Fritz Rauch mit Diskussionsbeiträgen in der Brigade zurück. Es ließ ihn in jenem Jahr relativ kalt, dass die DDR, die offensichtlich zunehmende internationale Zahlungsprobleme bekam, einen Kredit von einer Milliarde D-Mark von der Bundesrepublik Deutschland annahm, den ausgerechnet der von Karl Eduard von Schnitzler9 am meisten attackierte westdeutsche Politiker, der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß, mit dem Spezialagenten des DDR-Außenhandels, Schalck-Golodkowski, ausgehandelt hatte. Dieser Milliardendeal kostete die DDR-Führung eine Reihe von Zugeständnissen im Reise- und Telefonverkehr zwischen den beiden deutschen Staaten.

      Dann war der Bayrische Ministerpräsident mitsamt seiner Familie kurz nach dem Besuch des UN-Generalsekretärs Perez de Cuèllar am 23. Juli in die DDR gekommen. Der Staatssekretär im Außenministerium, so lautete Schalck-Golodkowskis offizieller Titel, holte ihn selbst in einem Volvo von der innerdeutschen Grenze ab. Die Straußens weilten im Schloss Hubertusstock in der Schorfheide nördlich von Berlin und trafen dort auch Erich Honecker.

      Dieses Anwesen war einst von den Nazis erbaut worden und hatte Hitler für ähnliche Anlässe gedient, wie jetzt der Partei und Staatsführung des deutschen Arbeiter- und Bauernstaates. Es war außerdem zum beliebtesten Wochenenddomizil einer Reihe ostdeutscher Arbeiterführer geworden, allen voran Erich Honecker und Erich Mielke, von welchem aus sie ungestört, abgeschirmt von den sonstigen Werktätigen und hofiert von kundigen Helfern, ihrer Jagdleidenschaft frönen konnten.

      Strauß hatte sich bei Honecker ausbedungen, die Städte Dresden und Erfurt besuchen und sich dort so frei wie möglich bewegen zu können. Er entblödete sich bei diesen Touren auch nicht, Kassiberbotschaften von DDR-Bürgern aufzusammeln, die ihm in den Innenstädten nahe zu kommen und ihm diese zuzuwerfen versuchten. Es war ein kafkaeskes Bild zu sehen, wie die DDR-Sicherheitskräfte und Strauß versuchten, jeweils am schnellsten an diese Papierfetzen heranzukommen. Im DDR-Fernsehen wurden diese Aufnahmen nicht gezeigt, aber die meisten Bewohner, bis auf die Menschen im Bezirk Dresden, konnten inzwischen Westfernsehen empfangen und waren nicht wenig erstaunt über diese Begebenheiten.

      Mit zunehmendem Fortgang jenes Jahres bekam Wauer das Gefühl, dass sich die Liebesbeziehung zwischen ihm und Helga, seit ihr Kind auf dieser Welt war, abkühlte. In der Zeit von April an hatten sie sich höchstens ein oder zweimal monatlich, und dann auch nur für wenige Stunden, sehen können, da ihre Mutterpflichten sie in streng reglementierte Tagesabläufe einbanden. Wie jede junge Mutter litt sie in den ersten Monaten an akutem Schlafmangel und die Umgewöhnung daran, dass es nun stets ein Wesen gab, das ihrer fast ungeteilten Fürsorge bedurfte, war für die an beinahe absolute Freiheit gewöhnte Frau sehr schwer.

      Zwar konnte sie, nachdem sie das erste Vierteljahr zusammen mit ihrer prächtig gedeihenden Tochter überstanden hatte, ihren Mann Eberhard wenigsten einmal im Monat dazu verpflichten, am Sonntag die kleine Isabelle zu betreuen. Wauer spürte bei ihren Zusammenkünften jedoch deutlich, dass sie Mühe hatte, sich auf ihn und ihre Begegnung zu konzentrieren. Er war nicht mehr die Nummer Eins für sie. Und obwohl er sich verstandesmäßig klar machte, dass dies so sein musste und dem natürlichen Gang der Dinge entsprach, wurmte es ihn im Innersten seines Herzens doch, dass ihre Beziehung diese Wendung genommen hatte. Irgendwann, dachte er, würde es wohl zu Ende gehen mit ihnen, wenn nicht noch ein unvorhergesehenes Wunder geschähe.

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