Morgenrosa. Christian Friedrich Schultze

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Morgenrosa - Christian Friedrich Schultze


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      Am 30. Dezember packten sie ihre Sachen und fuhren ab in Richtung Berlin. Die Straßenverhältnisse waren winterlich miserabel, Landstraßen und Autobahn nur mangelhaft beräumt und sie benötigten über Bischofswerda und Dresden mehr als sieben Stunden, ehe sie am Abend in Berlin anlangten. Sie waren am Morgen nach spätem Frühstück losgefahren und erreichten die Libauer Straße erst kurz vor sechs. Es war schon eine Zeitlang dunkel in der Stadt und die Straßen waren auch in Berlin glatt. In Wauers Wohnviertel waren bei diesen Kältegraden nur wenige Bürger unterwegs.

      Am Silvestermorgen fuhren Vater und Sohn gemeinsam einkaufen und besorgten Fisch, Bratwurst und Getränke für die Tage des Jahreswechsels. „Wir bekommen Besuch“, hatte Martin Wauer dem Jungen erklärt. „Es ist eine Frau.“ Der Junge hatte darauf hin nichts gesagt. Abends achtzehn Uhr traf sie ein. Wauer war hinuntergelaufen, um ihre kleine Reisetasche und den Beutel, in dem sich zwei Flaschen und einige essbare Sachen befanden, hinauf zu tragen. Sie keuchte hinter ihm her.

      Wauer machte Bratwürste mit Biersoße, während sich Helga Nowak mit dem Sohn bekannt machte. Lothar bemerkte ihren Bauch, sagte dazu aber zunächst nichts. Obwohl sie nun bereits deutlich schwanger war, war sie dennoch schön. Wauer hatte schon damals, als Barbara mit Lothar schwanger ging, darüber sinniert, wieso beim Menschengeschlecht ausgerechnet der zartere, kleinere und schönere Teil neun Monate Nachwuchs im Bauch tragen und dann mit ziemlichen schwerer Arbeit zur Welt bringen musste. Im Tierreich war das ganz überwiegend anders, da waren die Weibchen meist die kompakteren. Schwangere Frauen waren schön und faszinierend, das stand für ihn fest. Aber er fragte sich, ob alle schwangeren Weiber so verrückt auf Sex waren, wie seine Geliebte. Heute würde es jedenfalls damit nichts werden, zu dritt in der kleinen Wohnung.

      Eine gewisse Spannung lag in der Luft, aber Helga verstand es, Lothar in Gespräche über Schule und das Wissen eines Zehnjährigen zu verwickeln.

      Während Wauer das Silverstermahl bereitete, lief nebenbei der Fernseher und Helga schaltete in regelmäßigen Abständen zwischen dem Ost- und dem Westprogramm hin und her und sie konnten in schwarz-weiß sehen, wie man im Osten, im Westen und in der übrigen Welt den Jahreswechsel feierte.

      Sie hatte, wie fast immer, eine Flasche Whisky, diesmal Marke Graggenmore, und eine Flasche Mumm-Sekt aus dem Intershop mitgebracht. Als sie Lothar auf die Couch gebettet hatten, fühlte sich Wauer ziemlich angetrunken und sie war sauer. Sie legten sich auch bald auf das am Fenster bereitete Lager und schliefen lange in den Neujahrsmorgen hinein, nachdem sie früh gegen vier Uhr, während Lothar noch schlief, ihr Sexualleben wieder ins Gleichgewicht gebracht hatten. Wauer stand als erster auf und machte das Frühstück. Als Lothar aufwachte, es war bereits gegen zehn Uhr, lotste sie ihn in das nächtliche Lager, erklärte ihm einiges zu Fragen der Schwangerschaft und zeigte ihm ihren Bauch. Wauer hatte dazu gemischte Gefühle und fragte sich, was Lothar Barbara erzählen würde. Aber die Hexe hatte den Sohn vollkommen in ihren Bann gezogen.

      Als Wauer den Sohn am Neujahrsnachmittag mit dem Trabant nach Frankfurt an der Oder fuhr, was sich als ein ziemlich schwieriges Unterfangen erwies, da auf der Fernstraße Nr. 1 Glätte und Schneeverwehungen herrschten, fragte dieser plötzlich: „Wird das eine Schwester oder ein Bruder für mich?“

      Wauer stutzte kurz. Er sagte: „Ich werde nicht Vater. Helga ist von einem anderen Mann schwanger.“ Dazu sagte Lothar nichts, aber Wauer konnte beobachten, wie es in ihm arbeitete.

      So hatte für sie das Jahr 1983 begonnen.

      4.

      Anfang Februar bat Manfred Schäfer Martin Wauer nachmittags kurz vor Feierabend zu sich ins Büro. Das war eine Woche, bevor Wauer mit seinem Sohn in die Niedere Tatra zum Wintersport oberhalb von Jasna am über 2000 Meter hohen Chopok fahren wollte. Der Winter war zum Jahresbeginn auch in Deutschland streng. Das Reisebüro hatte jedoch versichert, dass die Wintersportbedingungen in der Slowakei noch wesentlich besser seien.

      „Kannst dir sicher denken, warum ich dich hergebeten habe“, fing M.S. ohne Umschweife an.

      Wauer sah ihm gerade ins Gesicht und sagte: „Ja, ich kann´s mir denken.“

      „Dieses Gespräch gibt´s eigentlich gar nicht. Ich bin auch nicht zuständig. Fritz Rauch ebenfalls nicht. Eigentlich niemand hier im Betrieb. Und doch war ich zur Bezirksleitung bestellt mit der Maßgabe, dich noch mal zu bearbeiten. Also rede ich dir jetzt ins Gewissen. Das machen wir aber nicht hier. Es wäre gut, wenn du sofort Zeit hättest und wir uns treffen könnten; im Friedrichshain, in einer Stunde. Das Wetter ist gut, schön kalt, und ein Spaziergang auf den Trümmerberg ist bestimmt gesund. In der Kneipe wär´s allerdings noch schöner, geht aber nicht. Also, bis nachher am Märchenbrunnen.“

      Wauer stieg am Alexanderplatz, aus dem U-Bahnhof kommend, in die Straßenbahn Nr. 11, um hinüber zum Leninplatz zu fahren und dann die Friedensstraße am Volkspark entlang bis zum Märchenbrunnen zu laufen. Eigentlich war das umständlich. Er hätte auch gleich den Bus vom Luxemburgplatz aus nehmen können, aber er hatte Zeit und wollte laufen. M.S. war pünktlich am Platz. Obwohl es bereits dämmerte, rodelten noch einige Mütter und Väter mit ihren Kindern auf der an den westlichen Hängen des Trümmerberges eingerichteten Rodelbahn hinunter. Es war ein schöner Winterabend, wie es sie nur selten in der Stadt gab. Denn durch die Abgase der Fabriken, Häuser und Zweitakter und durch das Laugen der Straßen und Schienen wurde der Schnee schnell grau und schmolz bald dahin. Im Park lag er heute noch einigermaßen weiß und gleichmäßig. Nur wo die Kinder ihre Rodelbahn hatten, lugten schon braune Erdstreifen oder schmutziggrüne Rasenfetzen hervor.

      „Inwiefern sollst du mich noch mal bearbeiten?“, fragte Wauer den Chef. Er hätte nicht vermutet, dass die Firma selbst in Einzelfragen Einfluss auf Generaldirektoren von Kombinaten nahm.

      „Singer hat interveniert. Er sagte, dass du nicht unterschreiben wolltest, dass du die Kontakte mit deinem Cousin in München abbrichst. Du weißt aber, dass das höchst problematisch wird. Du arbeitest in einem sensiblen Bereich und dazu noch mit den Ungarn zusammen.“

      „Und außerdem mit den Finnen, jedenfalls in einigen Teilbereichen der technischen Ausrüstungen“, fügte Wauer hinzu und empörte sich innerlich darüber, wie sie das Ding wieder zurecht gedreht hatten. Jedenfalls hatte die Stasi M.S. nicht direkt angesprochen und der Chef wusste womöglich gar nichts von dem Gespräch Ende Oktober des vergangenen Jahres im Büro des Kaderleiters.

      „Singer verlangt, dass ich dich aus der Projektierung ´rausnehme“, sagte der Generaldirektor langsam und einigermaßen tonlos. „Die arbeitsrechtlichen Voraussetzungen sind wegen der Geheimhaltungsbestimmungen gegeben. Ich überlege schon einige Zeit, wie wir eine einvernehmliche Lösung hinkriegen könnten. Am besten wäre es natürlich, wenn du selber um Versetzung bittest, aus gesundheitlichen oder sonstigen privaten Gründen. Ich kann dir einen Arbeitsvertrag als Bauleiter in irgend einem Tiefbaubereich geben.“

      Das war es also! Wauer staunte, wie sie es machten. Wenn er abschwor von seinen Vorstellungen von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit, konnte er weitermachen und früher oder später womöglich aufsteigen. Wenn nicht, schickte man ihn in die Wüsteneien des DDR-Aufbaus. Er sagte: „Ich hab´ doch bereits unterschieben, das habe ich Singer auch gesagt. Liegt doch in der Kaderakte. Was will er denn noch?“

      „Er sagt, dass er Druck von den Sicherheitsorganen hat. Sie haben ihm von einem Treffen von dir und deiner damaligen Lebensabschnittskameradin mit deinem Cousin im Herbst ´81 in Warschau berichtet. Ausgerechnet in Polen, als das Theater mit der Solidarnosz war. Da musst du dich nicht wundern, dass sie hellhörig geworden sind.“

      „Sie wollen von mir Stimmungen und Meinungen meines Umfeldes hören. Und natürlich Informationen, die ich von meinem Vetter abschöpfen könnte. Wer weiß, vielleicht müsste ich dann über deine Stimmungen und Meinungen ebenfalls berichten, und über meine Ex und so weiter. Das wird dann heiter.“

      „Das ist ja die Scheiße, die mir auch so stinkt. Natürlich gibt es andere im Betrieb, die schon lange für die Stasi arbeiten. Ich kenne die auch nicht. Wenn wir uns jetzt gegenseitig immer nur noch misstrauisch überwachen, wird aus dem


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