Morgenrosa. Christian Friedrich Schultze

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Morgenrosa - Christian Friedrich Schultze


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Wauer an Jakob gewandt.

      „Ja, schon zwei Mal“, antwortete Jakob. „War wirklich schön und es gab viel Schnee.“

      „Habt ihr da ein Quartier?“

      „Ja, haben wir, ich weiß aber nicht genau, wo es ist. Da musst du Vater fragen.“

      „OK, ich frage ihn.“

      „Ich will aber nur mit dir dahin“, sagte Lothar plötzlich.

      „Ist schon klar“, entgegnete Wauer. „Aber bis dahin ist ja noch eine Weile Zeit. Erstmal kommt Weihnachten. Was machen wir Weihnachten?“

      Lothar druckste einige Sekunden herum.

      „Ich kann ja Silvester nach Berlin kommen. Da ist es bei Mutter sowieso immer langweilig“, sagte er dann.

      Wauer musste innerlich lächeln. So würde es in Zukunft vermutlich immer laufen. Der Junge würde sich schon seinen Teil holen. Er würde die Möglichkeiten des Getrenntseins seiner Eltern so gut wie möglich für seine Zwecke zu nutzen wissen. Opportunismus blieb das erfolgversprechendste Überlebensprinzip.

      „OK, wir besprechen das noch mit Mama.“

      Sie machten an diesem schönen Spätsommervormittag noch einen Ausflug auf den Trümmerberg in den Friedrichshain und an die dortigen Kioske, wo sie Bratwurst aßen, Berliner Weiße und Limo tranken, bevor sie nach Karlshorst fuhren, damit die Jungs in den Zug nach Frankfurt-Oder steigen konnten.

      Nur beim Abschied auf dem Bahnsteig bemerkte Wauer beim Sohn die gleiche Unsicherheit, die ihn selber plötzlich erfasste. Es war ein merkwürdiges schmerzhaftes Gefühl in der Zwerchfellgegend, dass erst nach einigen Stunden vorüber ging. In den folgenden Monate, bei den späteren Treffen, verflüchtigten sich diese Beklemmungen von Mal zu Mal mehr.

      2.

      „Genosse Wauer, du weißt sicher, dass du hier im Betrieb von den Genossen und Kollegen sehr geschätzt wirst“, begann der namenlose Mann, der zwanglos an Uwe Singers mächtigem Besprechungstisch lümmelte und Martin Wauer eingehend musterte, ohne irgendwelche Zurückhaltung zu üben. Der Kaderleiter selber war nicht anwesend, obwohl er diesen Termin durchgestellt hatte. Dafür nahm der neue Parteisekretär an der schon Ende August avisierten Besprechung teil.

      Der Verbindungsmann, der hier für den Betrieb die DDR-Staatssicherheit repräsentierte, hatte sich nicht vorgestellt und Wauer wunderte sich darüber, dass alle, auch er selbst, diese Machtdemonstration wie selbstverständlich über sich ergehen ließen. Niemandem, auch ihm nicht, würde es einfallen, den Genossen von „der Firma“, wie man diese Behörde, wenn man unter sich war, im allgemeinen Umgangston flapsig betitelte, zu bitten oder gar aufzufordern, sich vorzustellen.

      „Na ja, dass ich nach all den Jahren nicht gerade unbeliebt bin, weiß ich“, entgegnete er, indem er sich bemühte, seine Abneigung nicht zu zeigen.

      „Du wirst auch besonders wegen deiner konstruktiv kritischen und direkten Art gelobt, vor allem vom Genossen Schäfer“, fügte der sehr korrekt gekleidete, mittelgroße, vierschrötige Mann hinzu. Ein großer Kopf mit schlohweißem Haar krönte seinen massigen Leib. Seine Aussprache war die, die Wauer von in Berlin eingewanderten Schlesiern kannte, und er rollte das „R“ in der charakteristischen Art dieser Landsleute. Der Stasimann mochte schon über sechzig Jahre alt sein, genau ließ sich das nicht ausmachen, da er ein glattes Gesicht mit nur wenigen Fältchen um Mundwinkel und Augen und den rötlichen Teint östlicher Bauersleute hatte. Der Tschekist wirkte nicht unfreundlich, jedoch lächelten seine Augen nicht, wenn er sprach.

      „Der Genosse Wauer übt meist die heftigste Kritik in Bezug auf Mängel, die die Arbeitsproduktivität in unseren Bereichen betreffen. Er wurde schon zwei Mal als Aktivist und einmal zusammen mit seiner Brigade als Kollektiv der sozialistischen Arbeit ausgezeichnet“, warf Fritz Rauch beflissen ein.

      Als ob er das nicht schon alles wüsste, dachte Wauer und er fing an, sich innerlich aufzuregen über die unwirkliche, schizophrene Atmosphäre, die infolge dieser nichtssagenden Floskeln plötzlich im Raum vorherrschte.

      „Es besteht wohl hier allgemein kein Zweifel, dass ich stets für den Frieden und die Erhöhung der Arbeitsproduktivität in unserem Staat eintrete. Besonders übrigens für die Verbesserung der Arbeitsmoral!“, hörte er sich plötzlich sagen, erschrak sogleich leicht wegen des sarkastischen Tons, den er angeschlagen hatte und bemühte sich dann, den Stasimann anzulächeln.

      „Ja, ja“, sagte dieser gelangweilt, „das hörte ich ja eben schon. Die Frage, die mich interessiert ist, ob du nicht noch mehr für unsere Republik tun kannst. Seit dem KSZE-Prozess legt unsere Partei- und Staatsführung, wie du ja wohl weißt, gesteigerten Wert auf engagiertere Mitarbeit vor allem kritischer Leute, sofern ihre Kritik konstruktiv ist. Das ist manchmal nicht so leicht zu unterscheiden, ob es sich um subversive Diskussion oder um vorwärts bringende Beiträge handelt.“

      „Was denn mehr? Ich engagiere mich schon immer mehr als viele andere. Manche reden auch nur sozialistisch daher. Wenn man dann guckt, was sie für Arbeit abliefern, hält sie leninschen Forderungen eher weniger stand“, erwiderte Wauer, Sicherheit gewinnend.

      „Ja, die leninschen Prinzipien. War ein bisschen schwierig, die Sache zwischen Lenin, Trotzki und Stalin. Vielleicht war es ganz gut, dass es Dzerzhinsky und Berija gab. Was meinst du?“, erwiderte der Genosse der Firma und grinste.

      „Na ja, Stalin und Berija haben im Spiegel der Geschichte wohl nicht gerade für den wirklichen Sozialismus gestanden“, gab Wauer, im vollen Bewusstsein, dass er sich damit auf einen schmalen Grat begab, kampflustig zurück. Nikita Chruschtschow sollte zum 20. Parteitag der KPDSU nicht umsonst mit diesen beiden abgerechnet haben.

      „Wir brauchen auch keine Duckmäuser heutzutage. Aber die Welt ist schlecht und der amerikanische und westdeutsche Imperialismus sind noch immer stark. Sie zwingen uns zu Rüstungsanstrengungen, die wir dringender für die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern benötigen würden. Und sie nehmen über die Medien und alle möglichen anderen Kanäle Einfluss auf unseren Staat. Du siehst ja, was gerade in Sachen „Lutherjahr“ und Raktenbeschluss läuft. Das sind Dinge, die gar nicht spaßig sind. Und manche sind auch bisschen naiv in ihrer Vorstellung, was da seit dem Papstbesuch in Polen und Reagens Berlinbesuch wirklich läuft. Nachdem, was mir der Genosse Singer erzählte, als ich ihn fragte, erscheinst du manchmal etwas blauäugig. Kann das sein?“

      „Wenn ich geradlinig bin, muss das ja nicht blauäugig sein, oder woraus schließt man sowas? Findest du mich auch naiv, Fritz?“

      Der gutmütige neue Parteisekretär wand sich fast sichtbar in dieser unangenehmen Situation. „Ich mag ja, dass du manchmal so heißblütig bist. Viele andere sagen gar nichts oder nicht das, was sie denken“, äußerte er schließlich.

      Es entstand eine Pause.

      „Unser Verein möchte dich zur Mitarbeit haben“, sagte der namenlose Genosse plötzlich ohne Übergang. „Du hast einen Cousin in München, der arbeitet bei so einer großen Chemiebude. Du schreibst dich mit ihm, wie wir wissen, und hast dich voriges Jahr in Warschau mit ihm getroffen. Du arbeitest hier aber in einem sicherheitsrelevanten Bereich und niemand weiß, für wen dein Cousin noch tätig ist. Also musst du die Verbindung zu ihm abbrechen oder dich dem Staat gegenüber so verpflichten, dass wir was von ihm erfahren, er aber nichts über diesen Betrieb hier.“

      „Ich habe nicht die Absicht, Geheimagent zu werden!“, warf Wauer nach kurzer Überlegung ein. Außerdem liegt meine persönliche Geheimhaltungserklärung bereits in der Kaderakte. Wenn ich dagegen verstoßen würde, hätte das ja wohl arbeitsrechtliche und sogar strafrechtliche Konsequenzen.“

      „Das meine ich doch nicht!“, fuhr der Genosse unwirsch dazwischen. „Es geht darum, verlässlichere Informationen über die Zuverlässigkeit bestimmter Genossen und Kollegen zu erhalten und darüber, wie unser sozialistischer Bewusstseinsstand wirklich ist. Was drüber in den Zeitungen steht, wissen wir schon.“

      Jetzt


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