Morgenrosa. Christian Friedrich Schultze

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Morgenrosa - Christian Friedrich Schultze


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und jetzt guckt man den Weibern zwanghaft wegen ihrer Titten und ihrer Beine nach. Ziemlich beunruhigender Gedanke, dass man so auf die Arterhaltungsattribute programmiert ist.“

      „Du musst es natürlich gleich wieder so abstrakt sehen“, entgegnete sie amüsiert. Dann erzählte sie ihm den Verlauf der Geburt und dass sie sich vorsorglich den Damm hatte schneiden lassen in der Befürchtung, dass er reißen könne. Und das wollte sie auf keinen Fall haben, denn es sollte ganz ästhetisch wieder zusammenheilen, er wüsste schon warum. Eberhardt hätte brav die halbe Nacht gewartet. Immerhin habe es sechs Stunden gedauert und es sei alles in allem ein ganz schönes Arschaufreißen gewesen – so drückte sie sich wirklich aus.

      Übrigens sei sie jetzt vollkommen rasiert und sie würde sich von der netten Schwester, bevor sie entlassen würde, noch mal nachrasieren lassen, damit sie es ihm zeigen könne. Er könne dann ja sagen, ob sie es so lassen solle. Oder man könne ja auch mal öfters einen neuen Intimbereich kreieren.

      Wauer war ziemlich perplex, dass sie sich mit ihm gleich wieder über Sex unterhielt. Er schloss daraus, dass es ihr den Umständen entsprechend wirklich ganz erträglich ging und dass sie nicht, wie manche Frauen, die Männer wegen deren Benachteiligung, keinen Uterus zu haben und damit keine Kinder kriegen zu müssen, nach solch einem Geburtsgewaltakt zu hassen begann.

      „Kann ich das Kind denn mal sehen“, fragte er

      „Da müssen wir die Stationsschwester fragen gehen. Wir kriegen die Babys ja nur zu den Mahlzeiten. Das ist auch so was, was dringend geändert werden müsste. Wir liegen hier vier Weiber auf einem kleinen Zimmer. Da würden die Babyboxen gar nicht mit hineinpassen. Aber man möchte sie immer bei sich haben. Sie fehlen einem enorm. Den anderen geht das genauso. Sie haben hier ziemliche Angst vor Infektionen. Sie wollen Weltmeister in der Überlebensrate werden.“

      Als sie nach oben gingen, bekam die frischgebackene Mutter die Erlaubnis, dem „Bekannten“ den Säugling vorzuführen. Er wurde aus dem Babysaal herausgebracht und Wauer konnte das verschrumpelte, zart gelblich-rosa schimmernde Menschenbündel, welches ziemlich lange schwarze Haare auf dem Kopf hatte, kurz betrachten. Ob ich auch so hässlich gewesen bin, schoss es ihm durch den Kopf. Allerdings war ihm in der kurzen Minute auch aufgefallen, dass Isabelle herrliche blaue Augen und außergewöhnlich lange Fingerchen an ihren winzigen, vielleicht daumengroßen Händchen hatte.

      Er versicherte seiner Geliebten, dass er nie ein schöneres Baby gesehen habe. Freilich waren es noch nicht viele, zu denen er Vergleiche hätte anstellen können und an das Aussehen seines Sohnes Lothar als Frischgeborener konnte er sich schon gar nicht mehr erinnern.

      Helga war zufrieden. Sie erfuhr auf Anfrage, dass man sie kommenden Montag entlassen werde und teilte dies Wauer mit. Dann wollte sie wieder in ihr Bett und informierte ihn, dass am Nachmittag Eberhard käme, wie übrigens jeden Tag, sie sich aber freuen würde, wenn er Morgen, am Sonntagvormittag, noch mal zu Besuch erschiene, denn wenn sie dann zuhause sei, wäre es in den ersten Wochen wohl ziemlich schwierig, vernünftige Treffen zu organisieren. Was die Umstellung bedeute, wenn man einen Säugling zuhause habe, wisse sie ja nur aus Büchern und könne es sich noch nicht so recht vorstellen.

      Als Wauer wieder zurück in seiner Junggesellenwohnung war, an seinem Wodka-Cola nippte und dazu das Doppelviolinkonzert von Bach aufgelegt hatte, wurde ihm ziemlich schnell klar, dass es mit ihr nie mehr so wie früher werden konnte. Ein Kind verändert alles!

      6.

      M.S. hatte die Dinge im Betrieb so organisiert, dass Wauer nach seinem Sommerurlaub ab dem 1. September des Jahres auf der Baustelle des Industriekomplexes West in Frankfurt-Oder beginnen konnte. Mit Barbara war der zukünftige Bauleiter anlässlich der Osterfeiertage, zu denen er dem Sohn in der Oderstadt einen Besuch abgestattet hatte, übereingekommen, dass er in jenem Jahr Lothar zu einem Zelturlaub nach Strebske Pleso in die Hohe Tatra mitnehmen könne. Der Junge freute sich schon darauf. Immerhin würde er da bereits elf Jahre alt sein, da konnte man mit einem Kind schon einiges unternehmen. Und Campingurlaub war für einen Jungen immer spannend.

      Es gab dann doch noch zwei unschöne Auseinandersetzungen im Betrieb. Eine mit dem Kaderchef, der weiterhin eine Erklärung verlangte, dass Wauer jeglichen Kontakt mit seinem Cousin Robert abbrechen sollte. Wauer weigerte sich jetzt mit einer gewissen freudigen Boshaftigkeit, denn er wollte nicht einsehen, dass er seine Arbeit nur dann machen dürfe, wenn er seine Verwandtschaft verleugne. Schließlich waren sie zusammen mit Lothar und Roberts Sohn Friedhelm die letzten vier männlichen Wauers in der Sippe. Er bot immer wieder an, eine extra Verschwiegenheitserklärung zu dienstlichen Angelegenheiten zu unterzeichnen, obwohl, wie er nicht ohne Bissigkeit bemerkte, dies ja bereits ausführlich im Arbeitsvertrag verankert sei.

      Auch der Parteisekretär Fritz Rauch lud ihn noch mal ganz förmlich zu einem Gespräch in seiner Eigenschaft als Genosse ein. Wauer ärgerte sich extrem darüber, dass er auf diese Weise die indoktrinierende Arbeitsweise des Machtapparates über sich ergehen lassen musste.

      „Weißt du, in welche Kalamität du uns gebracht hast mit deiner Ablehnung?“, fing Rauch an.

      „Wen ‚uns’?“, gab Wauer gallig zurück. „Den Betrieb oder die Partei oder dich?“

      Na, zuerst den Betrieb. Schließlich ist das ja kein Pappenstiel für Schäfer, wenn er wegen dir den halben Laden umorganisieren muss“, erwiderte Rauch.

      Wauer gewann den Eindruck, dass Rauch in Wirklichkeit wenig Lust auf ein solches Gespräch mit ihm hatte und dass er eher gerade eine Pflichtübung absolvierte. „musste er nicht wegen mir, sondern wegen unserer Genossen in der Normannenstraße. Wenn die mir nicht den Nebenjob aufdrücken wollten, gäbe es wohl kaum Probleme.“ Wauer wollte seinen in der Matthäuskirche in Budapest gefassten Vorsatz durchkämpfen, klar seine Meinung zu sagen und seine kleinbürgerlichen Ängste zu bezwingen.

      „Darüber sollst du nicht reden, das weißt du! Es hängt ja wohl eher mit deinem Vetter in München zusammen“, erwiderte der Parteisekretär.

      „Mensch Fritz“, holte Wauer aus, „du weißt doch selber, dass wir dann die halbe Republik nicht mehr an irgend etwas Spitzenmäßigen arbeiten lassen könnten. Es gibt noch so viele verwandtschaftliche Beziehungen allenthalben! Wie könnten sonst die Intershops so florieren? Du siehst doch, wie wenig uns die Jahre vor den Besuchsabkommen gebracht haben. Mag sein, dass der Mauerbau eine weitere Millionenabwanderung verhindert hat, aber ohne internationalen Kultur- und Wissenschaftsaustausch und ohne wirkliche Diskussion um gesellschaftliche Entwicklungsfragen werden wir die gewünschte technologische und ökonomische Überlegenheit, von der die da oben immer faseln, niemals hinkriegen. Es gehen immer noch viel zu viele gute Leute weg. Ich sehe nicht, dass irgendwo in unserer Partei Auseinandersetzungen im leninschen Sinne stattfinden. Ich meine, wir müssten aus dem sowjetischen Entstalinisierungsprozess viel mehr gelernt haben.“

      „Du machst dir´s wie immer zu einfach, Martin. Denkst du, dass die Gefährlichkeit des internationalen Kapitals übertrieben wird? Du siehst doch, was sie überall, in Chile, in Argentinien, überhaupt in ganz Lateinamerika, derzeit auch in Afrika oder in Vietnam, alles angerichtet haben beziehungsweise gerade anrichten.“

      „Ob da in heutiger Zeit ein antifaschistischer Schutzwall als Adaption der Chinesischen Mauer hilft, darf aber bezweifelt werden, oder?“, antwortete Wauer trocken.

      „Na gut, ich sehe, du lässt nicht mit dir reden. Vielleicht solltest du dir überlegen, ob du in der Partei noch richtig bist. Darüber solltest du wirklich mal nachdenken.“

      Daher weht der Wind also auch, dachte Wauer. Laut sagte er: „Wahrscheinlich habe ich von Lenin mehr verstanden als alle die Kleinbürger, die wir inzwischen in der Partei haben.“

      „Ich erwarte, dass du mir wenigstens monatlich einen Bericht über Stimmungen und Meinungen in deinem Kollektiv hochgibst“, sagte Rauch abschließend.

      Martin Wauer sagte nichts, sondern sah Fritz Rauch nur eindringlich an. Er war sich sicher, dass er niemandem je Berichte über Stimmungen und Meinungen seines Umfeldes liefern würde. Sollten diese Idioten doch in die abendlichen


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