Der Nachlass. Werner Hetzschold

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Der Nachlass - Werner Hetzschold


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wird nervös: „Auch Sie sind wie ich zu erschüttert, zu aufgewühlt, um Worte zu finden.“

      Vater Boronsky erhält eine Auszeichnung für seine ehrenamtliche Tätigkeit als Theaterfunktionär, obwohl er nie einen Schritt ins Theater setzten wird. Die Auszeichnung besteht aus zwei Opernkarten zu einer sonntäglichen Matinee für ehrenamtliche Theaterfunktionäre. Das ist zu viel für Vater Boronsky. Er soll sich Theater vormachen lassen. Niemals!

      „Mit Vater gehe ich nicht“, sagt Mutter Boronsky entschieden. „Mit dem blamiere ich mich bloß.“

      „Dann geht eben ihr zwei, du und der Junge.“

      „Wer ist Theaterfunktionär, du oder ich? Also hast du zu gehen. Was sollen deine Kollegen von dir denken!“

      „Die sind doch gar nicht da.“

      „Es könnten aber welche da sein. Jedenfalls hast du dorthin zu gehen. Nimm den Jungen mit! Und indem sie sich an Thomas wendet, sagt sie: Pass auf Vater auf! Wenn er einschlafen sollte, versetzt du ihm einen kräftigen Stoß. Bei Kunsterlebnissen wird nicht gepennt.“

      „Das kann ja was werden“, seufzt Vater Boronsky. „Mein Junge, wenn sich deine Mutter einmal etwas in den Kopf gesetzt hat, ist sie nicht mehr davon abzubringen. Jetzt werde ich gezwungen, in die Oper zu gehen, werde gezwungen, mir etwas anzusehen, was ich gar nicht sehen will. Und ich gehe dorthin. Nur um des häuslichen Friedens willen!“

      Seine Mutter wäre von den Plätzen begeistert gewesen. Bestimmt hätte sie gesagt: Das sind sehr teure Plätze, mein Junge. Die lassen sich das was kosten. Das wird ein besonderer Theatergenuss, mein Junge.

      Vater Boronsky beeindruckt nichts.

      Seine Mutter hätte von den Leuchtern geschwärmt, von der Weitläufigkeit des Foyers.

      Frau und Tochter hatten lange auf Vater Boronsky einreden müssen, bis er bereit war, Hemd und Krawatte anzulegen, sich in einen Anzug zu pressen.

      Nun klagt er, während er verzweifelt nach einer Toilette Ausschau hält, dass das Hemd ihm den Hals zudrückt, dass die Krawatte ihm die Luft abschnürt.

      In unmittelbarer Nähe der Bühne hatte Thomas noch nie gesessen. Vater Boronsky, der sonst sehr schlecht sieht, stellt fest, dass der Vorhang fleckig ist.

      „Den könnten die auch mal reinigen“, sagt er laut.

      Thomas stößt ihn an, zeigt auf den gewaltigen Blumenschmuck vor dem Vorhang.

      Vater Boronsky lächelt verschmitzt: „Mutter hat dir wohl Verhaltensregeln mit auf den Weg gegeben.“

      Mutter hätte beim Anblick dieser Blumenfülle laut geschwärmt, hätte sich an den Farben und Formen der verschiedenen Gewächse berauscht, hätte darauf hingewiesen, wie viel Arbeit so ein Kunstgenuss kostet.

      Ein Mann betritt die Bühne, stellt sich vor ...

      „Seit wann gibt es beim Theater einen Doktor.“ Vater Boronsky schüttelt ungläubig mit dem Kopf.

      Der Chefdramaturg spricht lange und viel: über den Spielplan, über Geplantes und Realisiertes, über die Möglichkeiten des Theaters.

      „Wer soll sich denn das alles anhören“, zischt Vater Boronsky seinem Jungen ins Ohr. „Das interessiert doch keinen Menschen. Die spielen doch sowieso, was sie wollen.“

      Die Versuche des Sohnes, den Vater zum Schweigen zu bringen, scheitern. Thomas ist die Situation peinlich. Er versteht die Mutter.

      Verdiente ehrenamtliche Theaterfunktionäre werden ausgezeichnet. Blumen werden überreicht. Viel Beifall gibt es.

      Der Vorhang öffnet sich. Ein Streifzug durch Oper, Operette, Ballett, Schauspiel nimmt seinen Anfang.

      Vater Boronsky sagt nichts mehr. Er hält die Augen fest geschlossen. Gleichmäßig geht sein Atem. Ein Pfeifton entfährt laut seinem Mund. Sein Junge versetzt ihm einen Stoß. Erschreckt reißt der Vater die Augen auf, murmelt: „Mit geschlossenen Augen kann ich besser zuhören.“ Dabei lockert er seine Krawatte, löst den oberen Hemdknopf.

      „Wegen der Luft! Die Luft ist hier ziemlich stickig“. Vater Boronsky bemüht sich, die Augen offen zu halten.

      Marschmusik erklingt. Soldaten erscheinen auf der Bühne.

      Vater Boronsky wird wach, brummelt kritisch vor sich hin: „Die Uniformen stimmen nicht. 1870 hatten die Franzosen andere Uniformen. Und Gleichschritt können die Kerle auch nicht halten. Denen fehlt eine richtige Exerzierausbildung.

      Eine Hand berührt seine Schulter. Eine angenehm klingende Frauenstimme ist zu hören: „Können Sie nicht leise sein. Sie stören.“

      Vater Boronsky begreift.

      Als Vater und Sohn nach der Matinee auf dem Karl-Marx-Platz stehen und Thomas die Richtung zur Straßenbahnhaltestelle einschlagen will, hält ihn der Vater zurück.

      „Wir müssen erst noch ein Bier trinken.“

      „Aber Mutter wartet mit dem Mittagessen.“

      „Lass sie warten. Ewig bleiben wir ja auch nicht weg.“

      In Köhlers Bierstuben finden sie Platz.

      „Weißt du,“ sagt Vater Boronsky, „die Musik war ja manchmal ganz hübsch, aber wenn die Kerle auf der Bühne nicht richtig Gleichschritt halten, die Uniformen nicht echt sind ... und dann nur Gesinge! Das A und O ist und bleibt eine gute Exerzierausbildung. Wenn der Gleichschritt nicht klappt, klappt nichts. Das sollten auch die vom Theater wissen. Sonst bleibt Theater eben nur Theater!“

      Thomas gefällt der Unterricht bei der Künstlerin, wie er die Dozentin nennt. Regelmäßig besucht er ihren Unterricht, regelmäßig begegnet er auch dort Volker.

      „Bedienen Sie sich stets einer gepflegten, kultivierten Aussprache. Lassen Sie keine Oberflächlichkeiten zu“, pflegt die Dozentin in jeder Stunde zu sagen.

      Die Aussprache aller Laute wird durchgenommen. Thomas übt und übt, allein oder mit Volker gemeinsam. In den letzten Stunden vor Semester-Ende liest die Gruppe gemeinsam „Die Räuber“ von Schiller. Thomas ist begeistert. Wie Volker will er Schauspieler werden.

      Eines Abends sagt Frau Boronsky zu ihrem Sohn: „Du hast dich sehr verändert, mein Junge.“

      Sie stehen vor dem Schauspielhaus. Thomas spürt, wie die Unentschlossenheit sein mühsam erworbenes Selbstvertrauen beiseiteschieben will. Zögernd öffnet er die breite Glastür, durch die die Schauspieler immer gehen, lässt Volker den Vortritt, der wie immer Selbstsicherheit ausstrahlt. Hinter der Glastür erwartet sie eine weitere Tür, auf die Volker rasch zugeht, sie - ohne eine Sekunde zu zögern -- öffnet, den Raum betritt. Thomas muss sich beeilen, wenn er dem Freund folgen will. In der Pförtnerloge sitzt ein älterer Mann. In der rechten Hand hält er ein mit Wurst belegtes Brot, die linke umklammert eine Kaffeetasse. Überrascht schaut er Volker und Thomas an. Ihm ist die Verärgerung anzusehen. Thomas ist klar: Sie stören. Er hat Verständnis für die Verärgerung des alten Mannes, der gerade isst und trinkt und bei dieser Beschäftigung gestört wird. Schon will er eine Entschuldigung stammeln, da kommt ihm Volker zuvor.

      „Einen wunderschönen guten Tag und guten Appetit. Lassen Sie sich bitte nicht stören, aber ...“

      „Ihr wollt wohl Künstler werden?“

      „Statisten.“ Dabei lächelt Volker wie ein Filmstar.

      Der Pförtner wählt eine Nummer, wechselt ein paar Worte mit der Stimme am anderen Ende der Leitung, dann wendet er sich wieder Volker und Thomas zu: Durch diese Tür! Im dritten Stock den Gang geradeaus! Letzte Tür links! Da sitzt der Kollege Schlehmilch.

      Volker und Thomas klettern die Stufen hinauf, laufen den Gang entlang, der in einer Tür mündet. Links neben dieser Tür befindet sich noch eine weitere Tür. Vor dieser Tür bleiben Volker und Thomas stehen.

      „Das muss die Tür sein“, verkündet Volker. Kurz entschlossen klopft er kräftig


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