Der Nachlass. Werner Hetzschold
Читать онлайн книгу.die er streng gescheitelt trägt, ihn älter erscheinen lassen. Äußerst gepflegt wirkt er. Die Krawatte passt zum Anzug. Er erweckt den Eindruck, als wäre er einer Modezeitschrift entsprungen.
Volker beginnt seine Rede. Leicht kommen die Worte ihm über die Lippen. Schweigend hört der Mann zu. Dann holt er ein großes, dickes Buch aus seinem Schreibtisch. Lässig blättert er in dem Buch, bis er die richtige Seite gefunden hat. Er lässt sich die Namen der Jungen geben, ihre Anschrift. Mit großer Geste trägt er alle Angaben in das große, dicke Buch ein. Jede seiner Bewegungen wirkt würdevoll, so als habe er sie vorher bis ins kleinste Detail vor dem Spiegel einstudiert. Nichts scheint dieser Mann unbewusst zu tun.
„Morgen Abend um 19:00 Uhr seid ihr hier. Wir geben „Die Räuber“. Noch irgendwelche Fragen?“
Als Volker und Thomas an der Pförtnerloge vorbeigehen, nickt ihnen der Alte freundlich zu.
Um wie vieles wirkt er sympathischer als der Komparserie-Chef. Um wie vieles natürlicher, denkt Thomas. Er ist ein Mensch wie ich. Der Komparserie-Chef spielt sein Leben.
„Wann geht es denn los“, erkundigt sich teilnahmsvoll der Pförtner.
„Morgen!“ Das ganze Gesicht von Thomas ist ein Strahlen. Auch er hat es geschafft. Nun gehört er der Statisterie an, ist Künstler, darstellender Künstler. Eine Wortschöpfung von Volker.
„Na, dann viel Erfolg bei den ‚Räubern‘.“
Es ist 19:00 Uhr. Obwohl Volker und Thomas zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit bereits vor der Tür stehen, ist und bleibt sie verschlossen.
„Wir werden uns ein wenig umsehen“, schlägt Volker vor. Während er das sagt, klopft er kurz, aber energisch an die Tür neben der von Herrn Schlehmilch, anschließend drückt er die Klinke nach unten.
Die Tür öffnet sich, und die beiden stehen am Beginn eines neuen Ganges mit neuen Türen. eine der Türen ist angelehnt. Sofort geht Volker auf diese Tür zu. Hinter ihr sind viele Stimmen zu hören. Ohne zu zögern, betreten beide den Raum. Sie befinden sich in der Garderobe der Statisterie.
Thomas ist erstaunt. Nie hätte er es für möglich gehalten, dass sich so viele junge Männer zum Theater hingezogen fühlen.
Wie alte Bekannte werden sie begrüßt. Sie schauen sich um. Nirgends ist Herr Schlehmilch zu entdecken. Ein junger Mann tänzelt auf sie zu.
„Ihr seid sicher die beiden Neuen. Ich bin der Garderobier. Wir werden uns gleich einmal nach einem geeigneten Kostüm umsehen. Ihr gestattet, ich gehe voran. Schließlich bin ich hier zu Hause.“
Überall hängen Kostüme. Reihe folgt auf Reihe.
„Hier habe ich etwas Geeignetes für euch.“ Begeistert klatscht er in die Hände, ergreift eine Stange mit Harken, holt die Kostüme herab, prüft sie kurz. Die müssten passen. Streift sie einmal über.
Volker und Thomas verkleiden sich als Räuber. Sie betrachten sich im Spiegel, müssen lachen. Die Kostüme sind viel zu knapp. Sie stellen sich dem Garderobier vor.
Begeistert klatscht er in die Hände, ruft entzückt aus: „Kinder, süß seht ihr aus. Richtiggehend süß. Zwei richtige kleine süße Räuber seid ihr. Abwechselnd wendet und dreht er Volker und Thomas vor dem Spiegel hin und her, klatscht dabei jedes Mal in seine Hände, wobei er ausruft: Zwei richtige kleine süße Räuber seid ihr. Zum Anbeißen süß. Ihr könnt so bleiben, meine Süßen. Jetzt geht ihr zu unserem Maskenbildner und lasst euch anhübschen.“
Während Thomas geschminkt wird, erzählt der Maskenbilder, der wie der Garderobier ein sehr junger Mann ist, dass er von Beruf eigentlich Friseur ist, aber schon immer zum Theater wollte. Und jetzt ist er am Theater. Und er ist glücklich. Für ihn gäbe es nichts Schöneres als das Theater.
Volker und Thomas müssen lachen, als sie sich im Spiegel betrachten. Braun verschmiert ist ihr Gesicht. Ein gemalter riesiger Schnurrbart ziert den Raum zwischen Nase und Mund.
Herr Schlehmilch ist inzwischen eingetroffen. Er nähert sich Volker und Thomas.
„Na, ihr beiden, wie fühlt ihr euch?“
„Prächtig“, meldet sich Thomas zu Wort.
„Wenn wir jetzt auf die Bühne gehen, bleibt ihr in der Nähe von Matthias. Er wird euch zeigen, wie ihr euch zu verhalten habt. Matthias, du bist so freundlich und kümmerst dich um die beiden. Ich bin überzeugt, schon in der nächsten Vorstellung werden sie wissen, wie sie sich zu verhalten haben, wo es langgeht.“
Die jungen Männer verlassen die Garderobe, steigen treppauf, treppab. Nun haben sie die Hinterbühne erreicht. Deutlich ist Karl Moor auf der Bühne zu hören. Das Stichwort ist gefallen. Die gesamte Statisterie brüllt: „Hauptmann, Hauptmann, wir kommen!“ Enge, dunkle Stiegen klettern sie hinauf und wiederholen lautstark: „Hauptmann, Hauptmann, wir kommen!“ Jetzt stehen sie im Scheinwerferlicht. Thomas ist geblendet vor Glückseligkeit. Vor sich sieht er den Hauptmann, dargestellt von Günter Grabbert, seinem Lieblingsschauspieler. Schaumfetzen fliegen aus dessen Munde. Und noch immer steigert sich der Schauspieler in seine wilde Entschlossenheit hinein, brüllt, schreit, rast, ergreift einen Statisten bei den Schultern, schüttelt ihn und schleudert ihm die Worte ins Gesicht: Ich könnte dir noch mehr erzählen ..., lässt von ihm ab. Der junge Mann wankt, scheint das Gleichgewicht zu verlieren, fängt sich aber, wischt sich mit der Hand über das Gesicht.
Thomas blickt in den dunklen Zuschauerraum. Nur das Publikum in den ersten Reihen ist deutlich zu erkennen. Sichtlich ergriffen sitzt es auf seinen Plätzen. In Gedanken ist Thomas nicht mehr der anonyme Räuber, der anonyme Statist, er verwandelt sich in Karl Moor, reißt das Publikum von den Plätzen ...
Das Stück ist zu Ende. Erst Stille, dann tosender Applaus. Die Lichter im Saal nehmen an Stärke zu, immer mehr Gesichter sind zu erkennen. Thomas hält Ausschau nach Freunden, Bekannten. Kein ihm vertrautes Gesicht ist zu sehen. Der Vorhang wird geschlossen, um gleich wieder geöffnet zu werden. Der Komparseriechef gibt seine Anweisung durch: Beim nächsten Vorhang Abgang!
Auf dem Weg zum Hauptbahnhof sagt Volker zu Thomas: „Hast du auch wie ich den Eindruck gewonnen, dass der Schlehmilch, der Garderobier und der Maskenbildner Schwule sind?“
„An so etwas habe ich gar nicht gedacht“, gesteht Thomas freimütig, ich finde sie nur sehr freundlich und zuvorkommend.
Es ist Juli. Thomas ist froh, die elfte Klasse hinter sich zu wissen. Die Naturwissenschaften quälen ihn, verweigern ihm jeden Erfolg. Immer wieder stellen sie Hindernisse in den Weg, über die er stolpert. Immer wieder gefährden sie seine Existenz als Oberschüler.
Thomas steht vor dem Haus seines Freundes Volker. Im Vorgarten hinter dem schmiedeeisernen Zaun blühen Blumen. Die ergraute Fassade des Hauses sieht freundlicher aus, wenn die Sonne scheint. Rasch steigt Thomas in den dritten Stock, drückt mit Gefühl den Klingelknopf. Statt seines Freundes öffnet dessen Mutter. Freundlich lächelnd bittet sie ihn einzutreten. Im Wohnzimmer stellt Thomas fest, dass er mit dieser Frau allein ist.
„Volker hatte keine Möglichkeit, dir abzusagen. Ihr habt doch zu Hause kein Telefon, nicht wahr?“
Thomas nickt.
„Nun setz dich doch erst einmal, mein Junge. Ich beiße doch nicht.“
Thomas lässt sich in den Sessel gegenüber der Couch gleiten. In seiner Haut fühlt er sich nicht wohl. Die Gegenwart dieser attraktiven und selbstbewussten Frau beunruhigt ihn, irritiert ihn, bringt ihn in Verlegenheit.
„Die Schule liegt nun erst einmal hinter euch,“ setzt Volkers Mutter das Gespräch fort. „Ich nehme an, du hast alles gut überstanden. Und nun habt ihr erst einmal Ferien.“
Thomas nickt wieder.
„Bist du immer so gesprächig“, lacht sie und zeigt dabei ihre gepflegten Zähne.
„Es ist auch dieses Mal wieder alles gut gegangen“, Thomas hat das Gefühl zu stottern. Wieder verspürt er diesen Kloß im Hals.
„Wusste ich es doch!“