Hüben und Drüben. Gerstäcker Friedrich
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Gesammelte Schriften
von
Friedrich Gerstäcker.
Zweite Serie.
Vierzehnter Band.
Volks- und Familien-Ausgabe.
Hüben und drüben.
Jena,
Hermann Costenoble.
Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig
Ungekürzte Ausgabe nach der von Friedrich Gerstäcker für die Gesammelten Schriften, H. Costenoble Verlag, Jena, eingerichteten Ausgabe „letzter Hand“, herausgegeben von Thomas Ostwald für die Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig
Unterstützt durch die Richard-Borek-Stiftung und
die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, beide Braunschweig
Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V. u. Edition Corsar
Braunschweig. Geschäftsstelle Am Uhlenbusch 17, 38108 Braunschweig
Alle Rechte vorbehalten. © 2020
Die Gemeinde-Waise.
1.
Der Mutter Tod.
Im Herbst des Jahres 1848 war es, daß nach Osterhagen, einem ziemlich großen Dorf im -sischen, eine Frau mit zwei Kindern übersiedelte, deren Erscheinung im Anfang den guten Leuten, und besonders dem weiblichen Theil der Bevölkerung, außerordentlich reichhaltigen Stoff zur Unterhaltung bot und eine Menge von Combinationen und Vermuthungen hervorrief.
Paß oder Legitimation brauchte damals natürlich Niemand. Jeder ging und kam, wie es ihm gerade gefiel, aber die Frau betrug sich so still und anständig und verfolgte so harmlos ihre Bahn, daß man sie auch wohl hätte zu anderen Zeiten gewähren lassen - und dennoch war manches Räthselhafte in ihrem Betragen.
Sie mochte etwa dreißig Jahre zählen, und ihr kleines Mädchen mochte etwa sieben, der Knabe zwei Jahre alt sein; ihre Kleidung war so einfach als möglich, und das kleine ärmliche Häuschen, das sie sich am äußersten Ende des Ortes miethete, bezeugte ebenfalls, daß ihr keine großen Mittel zu Gebote ständen. Trotzdem verrieth ihr ganzes Wesen, daß sie einst bessere, viel bessere Zeiten gesehen. Auch bildschön mußte sie früher einmal gewesen sein, ja sie war es eigentlich noch, hätte nicht der Gram oder vielleicht eine Krankheit so tiefe Furchen in ihr Antlitz gezogen. Und was für reizende Kinder hatte sie! Aber jedenfalls kam sie aus einem fremden Land, /2/ denn wenn sie selber auch vollkommen gut Deutsch sprach, und ohne Zweifel aus Deutschland stammte, plapperte das kleine Mädchen doch ganz allerliebst Französisch, und setzte dadurch nicht selten ganze Gruppen aufblühender Straßenjungen in unbegrenztes Erstaunen.
Ihr Name war, der eigenen Angabe nach, Frau Edmund, das kleine Mädchen hieß Valerie, der Knabe George. Wenn sie auch etwas Geld mitgebracht haben mußte, wovon sie im Anfang zehrten, so bemühte sie sich doch bald, Arbeit im Orte selber zu erlangen, um ihr Fortkommen in den schweren Zeiten zu erleichtern.
Sie nähte und stickte wunderbar schön, und wenn auch Osterhagen eigentlich nicht der Platz für solche Arbeit war, so wußte sie den Kreis ihrer Kundschaft doch auch bald auf die nicht ferne größere Stadt auszudehnen, wohin sie anfangs selbst Proben ihrer Arbeit brachte, um später durch die Botenfrau mit dem Ort zu verkehren.
Sie selbst zog sich dabei von jedem Umgang mit den Einwohnern Osterhagens zurück, wenn ihr auch Niemand deshalb Stolz vorwerfen konnte; sie war in ihrem ganzen Wesen freundlich, ja weit eher scheu und fast demüthig mit den Leuten, schien sich aber nie wohler zu fühlen als zu Haus, wo sie nur ihren Kindern lebte, und nur Abends, bei schönem Wetter besuchte sie den Kirchhof zu Osterhagen, und zwar dort ein besonderes Grab, von dem aber merkwürdiger Weise Niemand im Orte wußte, wer darunter lag. Es trug auch weder Namen noch Jahreszahl, und einige von den älteren Bewohnern des Dorfes wollten behaupten, es stamme noch aus den Kriegszeiten her.
Allerdings wurde die Fremde oft danach gefragt, aber sie gab immer nur ausweichende Antworten, und da Niemand ein besonderes Interesse an ihr nahm, ließ man sie eben gewähren.
Dabei versäumte sie aber nicht, sich dem Unterricht ihrer Kinder, besonders des Mädchens, auf das Fleißigste zu widmen, und nach kaum einem Jahre sprach auch die kleine Valerie schon vollkommen gut Deutsch und konnte jetzt in die Schule gesandt werden - aber sie blieb nicht lange dort. Die Kin-/3/der verspotteten und neckten sie fortwährend ihrer etwas fremdartigen Aussprache, ihres ganzen, ihnen viel zu zierlichen Benehmens wegen; sie kam fast jeden Mittag weinend nach Haus, und die Mutter beschloß deshalb, den Selbstunterricht im Hause fortzusetzen.
Im zweiten Jahre traf die arme Frau ein harter Schlag: der Knabe, ihr kleiner Liebling, erkrankte an der Halsbräune1 und starb nach wenigen Tagen in ihren Armen. Sie war ganz außer sich und lag viele Wochen an einem heftigen Fieber auf ihrem Lager.
Die kaum neunjährige Valerie besorgte in der Zeit im Haus die ganze Wirthschaft und pflegte dabei die Mutter Tag und Nacht. Diese erholte sich auch allerdings wieder, aber der Schlag hatte sie zu furchtbar getroffen, und sie kränkelte von da an sichtlich an einem bösen trockenen Husten, der sie häufig am Arbeiten hinderte.
Mit dem Gelde wurde es dabei immer knapper; anfangs war sie ein paar Mal in der Stadt gewesen und hatte, wie es sich in Osterhagen wenigstens aussprach, dort goldenen Schmuck verkauft - davon lebte sie eine Zeit lang; endlich schien auch das erschöpft, und einzelne ihrer wenigen Habseligkeiten mußten veräußert werden. Einmal erholte sie sich wieder, und ein volles Jahr lang schien es, als ob sie ihre Kräfte vollständig zurückerlangt hätte, aber es kam ein Rückfall, und jetzt ging es mit der armen Frau scharf bergab.
Es war drei Jahre nach dem Tode des kleinen George, daß Valerie in einer Nacht ängstlich an die Thür ihrer Nachbarin, einer armen Wittwe, pochte, und diese um Gottes willen bat, zu ihrer Mutter zu kommen, damit sie selber nach dem Arzt laufen könne.
Die alte Frau ging hinüber und fand eine Sterbende. Der Arzt, ein gewöhnlicher Dorfchirurg, kam, aber menschliche Hülfe konnte hier nichts mehr nützen - er wollte ihr den Geistlichen senden, aber sie hob abwehrend die Hand. Es war nur ein protestantischer Pfarrer im Orte, und sie selber gehörte der katholischen Kirche an. Nur ihr armes Kind
winkte sie noch zu sich heran, legte mit ihren letzten Kräften die Arme um dessen Nacken, küßte es, flüsterte ihm ein leises /4/ „Gott schütze dich, meine arme Valerie“ zu und sank dann tot auf ihr Kissen zurück.
Valerie saß neben ihrem Bett, die Hände im Schoß gefaltet, die großen, tränengefüllten Augen auf die lieben, bleichen Züge geheftet. Die alte Nachbarin hatte der Toten die Augen zugedrückt und war dann fortgegangen, um die Anzeige beim Schulzen zu mchen; der Wundarzt wurde ebenfalls abgefuren, so saß sie stundenlang.
Endlich quälte sie der Hunger; sie hatte gestern den ganzen Tag keinen Bissen über die Lippen gebracht, auch heute morgen noch nicht daran gedacht, irgend welche Nahrung zu sich zu nehmen, auch nichts dafür im Hause. Jetzt verlangte die Natur ihr Recht, und sie stand langsam auf, um sich beim nächsten Bäcker Brot zuholen.
Draußen zogen die Leute zu Markt, das lebte auf der Straße, Fuhrleute knallten wie gewöhnlich mit ihren Peitschen, Kinder lachten und jubelten, ein paar Frauen zankten sich, weil die einer der anderen den Korb umgestoßen hatte, und da drinnen in dem kleinen Haus lag ihre Mutter auf dem Totenbett! Kümmerte sich denn gar niemand darum? Hatte kein Mensch einen Trauerblick für sie? Und ging die Welt, während alles Elend der Erde nur allein über das arme Kind hereingeborchen war, indessen ihren ruhigen, fröhlichen Gang?
Wie in einem schweren Traum schritt sie die Straße hinab, dem Hause des Bäckers zu, legte ihre Kupfermüunze auf den Tisch und bat um ein Brot.
„Sollst du haben“, sagte der Bäcker, der mit aufgestreiften Ärmeln und ganz mit Mehl bestaubt hinter dem Fenster stand, „aber von voriger Woche seid Ihr noch sechs Groschen schuldig, sag‘ deiner Mutter, daß sie’s bald herüberschickt.“
„Meine Mutter ist tot“, hauchte das arme Kind.
„O