Hüben und Drüben. Gerstäcker Friedrich
Читать онлайн книгу.Stunden Unterricht geben sollte, sah es nicht, oder wollte es nicht sehen. Er hatte gerade Aerger genug mit der Bande auf eigene Faust, und gedachte nicht, sich noch in Privatsachen zu mischen. Ueberdies gehörten ja auch die ungezogensten Bälge gerade den reichsten Bauern im Orte an, und mit denen mochte er es ohnehin nicht verderben - der Dirne aus dem Armenhaus wegen.
Das war eine furchtbare Zeit für das arme Kind, ein stärkerer Charakter, als ihn Valerie besaß, hätte dazu gehört, sie unbeeinflußt von ihren bösen Wirkungen zu ertragen.
Wie hatte ihre selige Mutter für sie gesorgt, um ihren Geist und Körper auszubilden, wie auf Reinlichkeit gesehen, /14/ und selber Alles in ihrem kleinen, wenn auch noch so ärmlichen Haus so sauber gehalten, daß das Ganze wie ein Puppenstübchen aussah - und wie anders, wie furchtbar anders war das jetzt geworden!
Was vermochte der alte mürrische Schullehrer sie noch zu lehren, was selbst das jetzt zwölfjährige Kind nicht schon wußte! Was lag ihm auch daran, ob seine Schüler und Schülerinnen etwas lernten - er hielt eben seine Stunden, käute die alten, schon tausendmal gebrauchten Phrasen und Formen wieder und dankte Gott, wenn es Sonnabend Mittag war.
Geistig erhielt Valerie deshalb von diesem Lehrer gar keine Hülfe und Unterstützung, und körperlich ging sie in ihrer wüsten Umgebung täglich mehr zu Grunde.
Wohl sträubte sie sich lange dagegen; die Lehre, das gute Beispiel ihrer wackern Mutter wurzelten noch zu fest in ihrem Herzen, und sie versuchte fast das Uebermenschliche, sich über dem Schlamm zu halten, der sie von allen Seiten umgab - aber lieber Gott, es war ja doch nur ein Kind, das geleitet sein wollte; es fehlte ihr ja noch der freie feste Wille der Erwachsenen, und wie eine alte Eiche starr und eisern gegen den Sturm die Wurzeln in den Boden krallt, so biegt sich der junge Schößling seiner Gewalt und behält die Neigung, die er ihm gezeigt.
So gab sich auch Valerie mehr und mehr dem bösen Einfluß hin, der auf sie einwirkte; was half ihr auch alles dagegen Ansträuben, sie konnte sich ihm ja doch nicht mehr entziehen. Anfangs, ja, suchte sie sich noch die Sauberkeit zu erhalten, in der sie ihre verstorbene Mutter erzogen; sie wusch und besserte an ihrem Kleidchen, an ihrer Wäsche aus, wo ihr nur ein Augenblick Zeit blieb; als aber der Winter mit Eis, Schnee und bitterer Kälte hereinbrach, und ihr kein eigenes Plätzchen blieb, an dem sie sich aufhalten konnte, fing sie ebenfalls an, gleichgültig gegen sich selber zu werden; trieb sie doch schon der bittere Frost hinter den Ofen, da ihr die dünnen Kleider keinen Schutz gegen die Kälte gewährten.
Auch Morgens scheute sie sich aufzustehen und Feuer anzuzünden, bis sie die Alte von ihrem ärmlichen Lager jagte; dann natürlich konnte sie sich ihr Haar nicht machen, band die /15/ vollen, aber wirren Locken nur flüchtig in einen Knoten zusammen und ging an ihre Arbeit. Auch ihr Kleid war so fadenscheinig geworden, daß Ausbessern gar nichts mehr half; es zeigte dabei überall Spuren von Fett und anderen Flecken; kurz, sie begann zu verwildern, und Niemand war, der sie gewarnt und ermahnt hätte - nicht einmal der Schullehrer, dessen erste Pflicht es gewesen wäre.
Begegnete ihr der Geistliche dann einmal in einem solchen Aufzug, so blieb er wohl kopfschüttelnd vor ihr stehen und schalt sie ihres unordentlichen, schmutzigen Aussehens wegen, aber der alte Mann hatte auch andere Dinge im Kopf, um der Sache auf den Grund zu gehen. Daheim lagen ihm zwei Kinder schwer krank am Nervenfieber fast den ganzen Winter hindurch, und das lastete ihm mit einem solchen Druck auf dem Herzen, daß er seiner nächsten Umgebung kaum mehr als einen flüchtigen Blick widmen konnte.
So verging der Winter, und der Sommer kam wieder, aber keine bessere Zeit für das arme Kind, dem die Gesellschaft in dem öden Gemeinde-Haus immer entsetzlicher wurde. Der alte Bänkelsänger trank. Wo er das Geld dazu herbekam, wußte Niemand; aber er hatte fortwährend wenigstens einige kleine Münzen, und wenn ihn Jemand darum frug, behauptete er immer lachend, er wisse einen verborgenen Schatz im nächsten Berge, aus dem er sich hole, was er brauche. Manchmal war er allerdings zwei bis drei Tage fort, Niemand wußte wohin, und wenn ihn der Ortsvorstand dann zur Rede setzen wollte, und ihn frug, wo er sich ohne Legitimation im Lande umhergetrieben, lachte er jedesmal und behauptete, er habe oben in den Hügeln Kräuter gegen seinen bösen Husten gesucht - brachte auch in der That jedesmal einen ganzen Arm voll Pflanzen mit, die er aber, allem Anschein nach, irgendwo auf's Gerathewohl ausgerissen hatte, denn der Dorfbader, der die Sache verstehen mußte, erklärte sie sämmtlich für werthlos in der Medicin, und der alte Lüdrian benutzte sie auch nie weiter, sondern warf sie nur in eine Ecke, wo sie ein paar Tage lagen und welkten, und dann von Valerie hinausgetragen wurden.
Der Zustand des blinden Schusters verschlimmerte sich /16/ ebenfalls mit jedem Tage, ohne daß die geringste Veränderung mit ihm getroffen und er an einen sichern Platz geschafft worden wäre. Sein bis dahin stiller Wahnsinn ging oft in laute Tobsucht über, daß sich das arme Kind oft in Angst und Schrecken aus dem Haus flüchtete und draußen im offenen Feld Schutz suchte.
Der Schulze hatte eine Eingabe gemacht, und es kam ein Arzt aus der Stadt heraus, um den Schuster zu untersuchen; da er sich aber gerade in der Zeit vollkommen ruhig verhielt, erklärte der Arzt, es hätte noch nichts zu sagen, und man solle wieder zu ihm schicken, wenn er auf's Neue in einen Wuthanfall geriethe.
Die Zeit rückte jetzt auch heran, wo Valerie zur Confirmation vorbereitet werden sollte, und es verstand sich von selbst, daß das im protestantischen Glauben geschah; der ganze Religionsunterricht war ja auch in der Richtung gewesen, und Valerie selber hatte dabei keinen Willen, wagte auch nicht den geringsten Widerspruch. Jetzt aber mußte sie viel lernen; ganze Seiten voll Bibelsprüche und Katechismusverse, und wenn ihr das auch ziemlich leicht wurde, so ließ ihr der Lärm im Hause doch selten dazu Ruhe. Der blinde Schuster sang seine Psalmen dazwischen, der alte Bänkelsänger brüllte seine frechen Lieder, und dazu hatten sie jetzt noch eine arme Frau mit zwei kleinen Kindern, Zwillingen, einbekommen, die beide den ganzen Tag und die halbe Nacht schrieen.
Da brach der wilde Geist eines Abends wieder bei dem Tollen los - Valerie saß gerade in ihrem Eckchen, mit dem Buch auf dem Schooß, hinter dem Ofen, als er in das Zimmer stürmte und mit solcher Gewalt gegen den Ofen anrannte, daß dieser zusammenbrach und die niederstürzenden Stücke das Kind schwer am Kopf beschädigten.
Glücklicher Weise kamen gerade ein paar Knechte von der Arbeit aus dem Feld an dem Haus vorüber, die den jetzt vollständig Wüthenden fassen und mit ihren Geschirrleinen binden konnten.
Valerie hatte eine nicht unbedeutende Verletzung erhalten und lag Stunden lang ohne Bewußtsein; der Bader wurde gerufen, ließ ihr natürlich zur Ader und verband sie, und sie /17/ kam wieder zum Leben, mußte aber lange das Bett hüten und durfte in der ganzen Zeit nicht lernen. Pflege hatte sie auch weiter keine als die alte mürrische Frau, und sie verbrachte auf ihrem harten Strohsack eine lange, trostlose Zeit.
Aber auch das ging vorüber; ihre jugendliche Natur half ihr über die sonst vielleicht gefährlichen Folgen der Verwundung hinweg, und sie konnte sogar in einiger Zeit wieder die nöthigen Arbeiten für ihr Examen vornehmen.
Der Aufenthalt im Hause wurde indessen immer trostloser, denn der Bänkelsänger schien durch das Fortschaffen seines bisherigen Cumpans, des blinden Schusters, fast außer sich gerathen. Allerdings hatte er mit diesem bisher in ewigem Zank und Streit gelebt, aber gerade dieser Zank war ihm zuletzt Bedürfniß geworden, und als er ihn entbehren mußte, wurde er vollständig unleidlich - und trotzdem schien er eine Art von wunderlicher Zuneigung zu dem Kind gefaßt zu haben, die er sich aber doch nicht wollte merken lassen, weil sie ihm vielleicht selber absurd vorkam. So lange sie aber krank lag, war seine erste Frage an jedem Morgen, wie es der ,,Falleri" ginge, und Nachts saß er manchmal Stunden lang an ihrem Lager und half mit, ihr nasse Tücher um den Kopf zu legen, oder reichte ihr auch wohl den Becher mit Wasser, wenn sie danach verlangte. Der alten Schulmeisters-Wittwe erzählte er dabei einmal, daß er früher ein Kind gehabt, ein kleines Mädchen, so zart und hübsch wie die „Falleri", aber sie war ihm gestorben, die Mutter ebenfalls, und wie sie auf dem Todtenbett gelegen, hätte sie gerade so ausgesehen wie die „Falleri".
Diese Zuneigung schien übrigens nur so lange zu dauern, wie das Kind wirklich krank und halb bewußtlos war. Kaum erholte sie sich wieder, als er sein altes Leben begann und sich gar nicht weiter um sie bekümmerte; ja, als sie nur eben erst ein klein wenig im Haus herumwirthschaften