Sinnvoll zu betrachten. Geshe Kelsang Gyatso

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Sinnvoll zu betrachten - Geshe Kelsang Gyatso


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      Bei dieser Untersuchung können uns die folgenden nützlichen Fragen und Beobachtungen helfen. Wenn wir nach dem Ursprung unseres gegenwärtigen Körpers suchen, kommen wir schließlich zur Vereinigung von Sperma und Eizelle unserer Eltern. Kann das auch der Ursprung unseres Geistesstromes sein? Wenn wir diese Frage mit Ja beantworten, dann ergeben sich viele Schwierigkeiten. Wie können wir die erheblichen Unterschiede zwischen unserem eigenen Geist und dem Geist unserer Geschwister und Eltern erklären? Wenn unser Geist zu Sperma und Eizelle unserer Eltern zurückverfolgt werden kann, was ist dann die Beziehung zwischen diesen Zellen und dem Geist der Eltern? Ist der Geist etwas, was letztlich auf eine körperliche Ursache reduziert werden kann? Da der Geist aber dem Wesen nach formlos ist, muß er nicht eine eigene nichtstoffliche Ursache haben, völlig getrennt von der Ursache unseres physischen Körpers?

      Einige Menschen behaupten, daß der Geist bei der Geburt - abgesehen von wenigen vorgeburtlichen Eindrücken - einer unbeschriebenen Tafel gleiche. Sie sagen, daß das, was wir Geist nennen, lediglich ein durch Erziehung und Entwicklung erlerntes Verhalten sei. Kann uns diese Theorie zufriedenstellen? Erklärt sie die Unterschiede im Temperament zwischen den Menschen, Unterschiede, die sogar Neugeborene in der gleichen Familie aufweisen können? Erklärt sie die Komplexität des geistigen Verhaltens, das ganz normale Kinder zeigen, ganz zu schweigen von den besonderen Fähigkeiten und Begabungen, die hochbegabte Kinder aufweisen?

      Wenn wir die Natur des Geistes wirklich verstehen und herausfinden wollen, ob er ein anfangsloses Kontinuum ist oder nicht, dann müssen wir diese Frage sorgfältig überdenken. Tatsächlich haben die meisten Menschen, sogar gebildete und solche, die sich beruflich mit geistigen Phänomenen befassen, oftmals nicht mehr als eine sehr vage Vermutung darüber, was der Geist ist. Wenn unser eigener Standpunkt genauso unbestimmt ist - wenn wir keine schlüssige Theorie haben, die die Beziehung zwischen der materiellen Form und dem immateriellen Geist erklärt-, dann ist es nicht weise, die Theorie, die auf Logik, Beobachtung, Erfahrung sowie auf den Aussagen erleuchteter Wesen gründet, kurzerhand abzulehnen. Zumindest sollten wir aufgeschlossen bleiben und das Thema ohne Vorurteile prüfen.

      Gemäß buddhistischem Denken war der Bewußtseinsstrom schon beim Fötus vorhanden. Noch weiter zurück, im Moment der Zeugung drang dieser Geistesstrom in die embryonale Zelle ein, die aus der Vereinigung des väterlichen Spermiums und der mütterlichen Eizelle gebildet worden war. Vor dem Eintritt war dieses Bewußtsein oder Geisteskontinuum das Bewußtsein eines früheren Lebens. Überdies entstand das Bewußtsein jenes Lebens wiederum aus dem Leben, das diesem voranging, und so weiter zurück bis zur Unendlichkeit. Selbst Buddha Shakyamunis allwissender Geist sah keinen Anfang dieses Prozesses. Wenn das Geisteskontinuum anfangslos ist, müssen wir folglich zahllose Wiedergeburten und demzufolge auch zahllose Mütter gehabt haben. Daher gibt es kein einziges fühlendes Wesen, das nicht zu irgendeiner Zeit unsere Mutter gewesen ist.

      Wenn dem so ist, weshalb erkennen wir nicht intuitiv, daß andere Wesen unsere Mütter waren? Der Grund ist der, daß die traumatischen Erlebnisse des Todes und der Wiedergeburt uns üblicherweise der Erinnerung an vergangene Leben berauben. Dazu kommt, daß es wegen der sich ständig ändernden Form der Lebewesen schwierig für uns ist, sie wiederzuerkennen. Wenn beispielsweise unsere gegenwärtige Mutter sterben und als Hund wiedergeboren würde, wären wir nicht in der Lage, sie wiederzuerkennen, auch wenn sie unser Haustier wäre. Deshalb sind wir, trotz gegenteiliger Erscheinung, von unzähligen Wesen umgeben, die alle unsere Mutter waren.

      Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, daß nicht allen Wesen die Fähigkeit fehlt, sich an frühere Leben zu erinnern. Viele Yogis erlangen die Fähigkeit, sich an ihre früheren Leben zu erinnern, als Resultat der meditativen Praxis, die die groben Verdunkelungen des Geistes schrittweise ausmerzt. Auch einige gewöhnliche Menschen, insbesondere kleine Kinder, haben aufgrund von besonders klaren Prägungen im Geist oftmals Erinnerungen an vergangene Leben. Die Tatsache, daß die meisten von uns diese Fähigkeit nicht besitzen, ist aber eigentlich nicht erstaunlich, denn schließlich reichen schon die Verworrenheiten dieses Lebens und die allgemeine Dumpfheit unseres Geistes aus, daß wir viele Ereignisse aus der frühen Kindheit, der Säuglingszeit und der Zeit im Mutterschoß vergessen.

      Wenn wir über Begründungen, wie sie oben dargelegt wurden, nachdenken, d.h. wenn wir genau untersuchen, ob sie logisch, ohne Widersprüche, vernünftig und für uns anwendbar sind, nennt man diesen Prozeß analytische Meditation. Aus diesem Untersuchungsprozeß entsteht eine Schlußfolgerung. In diesem Fall ist es ein starkes Gefühl, daß alle Wesen tatsächlich unsere Mütter gewesen sind. Der nächste Schritt besteht darin, dieses Gefühl oder diese Schlußfolgerung kraft unserer Achtsamkeit zu halten und einsgerichtet darauf zu verweilen. Dieser Prozeß wird verweilende Meditation genannt. Durch die fortgesetzte Praxis der verweilenden Meditation entstehen echte Realisationen in unserem Geist. Wenn sich die Erkenntnis gefestigt hat, daß alle fühlenden Wesen tatsächlich unsere Mütter gewesen sind, dann hat man die Realisation der ersten der sieben Stufen zur Entwicklung von Bodhichitta erlangt.

      SICH AN DIE GÜTE ALLER MUTTERWESEN ERINNERN

      Wenn alle Wesen unsere Mütter gewesen sind, wie können wir uns an ihre Güte erinnern? Unsere jetzige Mutter trug uns neun Monate lang in ihrem Mutterleib. Sie nahm immer auf unsere Anwesenheit Rücksicht, ob sie saß, ging, aß oder schlief. Ihr einziger Gedanke war unser Wohlergehen, und wir waren ein kostbares Juwel für sie. Obwohl ihr unsere Geburt großen Schmerz zufügte, dachte sie nur an unser Glück und Wohlergehen.

      Als Kleinkind waren wir fast so hilflos wie eine kleine Raupe, und wir wußten nicht, was gut und was schädlich für uns war. Unsere Mutter sorgte für uns und gab uns ihre Milch als Nahrung. Wenn wir Angst hatten, dann tröstete und liebkoste sie uns in ihren liebenden Armen und wärmte uns mit ihrem Körper. Sie zog sogar weiche Kleidung an, damit unsere empfindliche Haut nicht gereizt wurde.

      Wo sie auch hinging, sie nahm uns mit. Sie hat uns gewaschen und gebadet und hat uns die Nase geputzt. Wenn sie mit uns spielte, hat sie schöne Lieder für uns gesungen und unseren Namen mit besonderer Zärtlichkeit ausgesprochen. Sie hat uns ständig vor den Gefahren durch Feuer und vor Unfällen beschützt. In der Tat wären wir heute nicht am Leben, wenn sie nicht ständig auf uns achtgegeben hätte. Alles, was wir haben und woran wir uns erfreuen, wurde durch die Güte unserer Mutter ermöglicht. Sie hat sich über unser Glück gefreut und nahm an unserem Leid Anteil. Sie sorgte sich über unser kleinstes Unwohlsein, und sie hätte sogar ihr eigenes Leben für uns geopfert. Sie lehrte uns laufen und sprechen, schreiben und lesen und nahm viele Schwierigkeiten auf sich, um uns eine gute Ausbildung zu ermöglichen, und gab uns stets das Beste von allem, was sie besaß.

      Eine Mutter schätzt ihr Kind von der Zeugung bis zum Tod und betrachtet es mit Zärtlichkeit, großer Hingabe und bedingungsloser Liebe. Indem wir uns die grenzenlose Güte unserer jetzigen Mutter vergegenwärtigen, erkennen wir die unendliche Fürsorge, die wir seit anfangsloser Zeit von allen unseren zahllosen Müttern erhalten haben. Wie gütig waren alle diese fühlenden Wesen!

      DIE GÜTE ALLER MUTTERWESEN ERWIDERN

      Sich an die Güte aller fühlenden Mutterwesen zu erinnern ist nicht genug. Nur ein gefühlloser und undankbarer Mensch würde nicht einsehen, daß es unsere Pflicht ist und wir die Verantwortung haben, diese Güte zu erwidern. Dies tun wir, indem wir anderen Lebewesen materielle Geschenke, Vergnügen, Freude sowie andere vorübergehend nützliche Dinge geben. Die beste Erwiderung der unendlichen Güte, die wir erhalten haben, ist jedoch, alle Wesen zum unübertroffenen Glück der vollen Erleuchtung zu führen.

      ZUNEIGUNGSVOLLE LIEBE ENTWICKELN

      Die nächste Stufe in der Entwicklung von Bodhichitta besteht darin, alle Wesen mit zuneigungsvoller Liebe zu betrachten. Diese Geisteshaltung entsteht als natürliches Ergebnis, wenn wir lange Zeit über die drei vorherigen Stufen meditieren.

      Im allgemeinen entsteht ganz natürlich ein warmes Gefühl der Zuneigung in uns, wenn wir unser Kind, unseren Partner oder unsere Eltern sehen, und sie liegen uns am Herzen. Diese Zuneigung entsteht aber nicht, wenn wir andere fühlende Wesen sehen, und besonders nicht, wenn sie uns stören. Wenn


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