Der Gewalt keine Chance. Martina Dr. Schäfer

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Der Gewalt keine Chance - Martina Dr. Schäfer


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saugen Energie aus dem Opfer. Zombies sind tot und deshalb gefährlich.

       Regeln

      Nie beim Täter nach den Ursachen fragen.

      1.5 Das habe ich gar nicht gewusst. Von Zuschauern, ängstlichen Müttern und anderen Zeugen

      Zu einer Gewaltsituation gehören nicht nur Opfer und Täter. Insbesondere dort, wo sexuelle Gewalt angewendet wird, ist bei diesem üblen Spiel noch eine dritte Figur zugegen: der Zuschauer. Ohne Zuschauer, ohne Menschen, die Hilfe verweigern, die wegschauen, wenn sie laut schreien müssten, wären die meisten Gewaltattacken gar nicht möglich.

      Die «klassische» Struktur dieser Situation ist jene des sexuellen Missbrauchs (als ob es einen Gebrauch geben könnte!) an einem Kind, sagen wir einem zwölfjährigen Mädchen. Täter ist der Stiefvater, die Mutter hat nach dem frühen Tod des leiblichen Vaters wieder geheiratet. Vom neuen Mann hat sie Zwillinge bekommen; ihre Berufstätigkeit hat sie daher aufgegeben und ist mit ihrer Tochter aus der ersten Ehe vom neuen Mann finanziell abhängig.

      Möglicherweise sieht die Zuneigung des Stiefvaters anfänglich sogar echt aus, wahrscheinlich hat er das Mädchen wirklich einmal gern gehabt; doch schleichend geschieht der oben beschriebene Übergang, die Überschreitung der Distanzschwellen. Statt freundlicher Worte kommen erotisierende Bemerkungen aus seinem Mund; statt zu warten, bis das Mädchen seine Freundlichkeit will, lockt er es an sich; statt ihm liebevoll auf die Schulter zu klopfen, wandert die Hand des Täters über die Beine und Knie des Mädchens, der kurze familiäre Kuss auf die Wange landet auf den Lippen usw.

      Es ist fast nicht möglich, dass ein solcher progressiver Prozess Außenstehenden verborgen bleibt. Doch das Problem mit den wegsehenden Leuten ist, dass sie ihren ersten Gefühlen, ihrer Intuition, ihren Beobachtungen genauso wenig trauen wie die Opfer in den ersten Stadien der sexuellen Anmache. Und wenn sie ihre Beobachtungen und Gefühle annehmen, glauben sie ihnen nicht, finden Beschönigungen, Gründe, dass das doch sicher nicht so gemeint war, wie es aussah. Sind sie bereit, die Beobachtungen anzunehmen, geschieht es gar, dass das Mädchen über die Belästigungen berichtet, kann es sein, dass die Zuschauerin sie abwimmelt, denn ein Annehmen der Tatsache, dass der Stiefvater seine Tochter sexuell anmacht, würde bedeuten, ihn aus dem Haus zu jagen, die Ehe aufzulösen, möglicherweise ein Strafverfahren – und sie stünde mit drei Kindern allein da!

      Die meisten Zeuginnen und Zeugen sexueller Gewalt gehören, wie in der geschilderten Familiensituation, zum System. Sie sind mehr oder minder genauso abhängig vom Täter wie das Opfer und seiner Willkür unterworfen.

      Doch ich habe auch schon Situationen sexueller Anmache durch eindeutig weniger eng verbundene Männer – Hausfreunde, Liebespartner, die nicht im gleichen Haushalt leben, längst geschiedene Väter, die nur noch zu Besuch kommen, usw. – erlebt. Abhängigkeiten können sehr subtiler Natur sein, unsichtbar, aber doch so wirksam, dass die Zeugen verhindert sind einzuschreiten, einzugreifen.

      Bei einem Explorationsgespräch saß ich mit einer Mutter keine zwanzig Meter vom Liegestuhl entfernt, auf dem ihre Tochter lag – der leibliche Vater, der längst nicht mehr im Haushalt lebte, in höchst anmachender Position neben ihr. Die Mutter war eine äußerst erfolgreiche Geschäftsfrau, weder emotional noch finanziell von ihm abhängig, sie benötigte ihn weder als Babysitter noch als Kinderbeschäftiger. Obwohl ich sie auf die Szene hinwies, die vom Mann wahrscheinlich sogar in vampirhafter Weise arrangiert worden war, um seine Macht wirklich allen Anwesenden gegenüber auszuspielen, war sie schlicht nicht in der Lage, aufzustehen und ihn anzubrüllen. Aber sein Sohn aus einer anderen Ehe, der etwa zehn Jahre ältere Halbbruder des Mädchens, der beim Gespräch dabeigesessen hatte, sprang plötzlich auf, stürmte auf die Liege zu, schüttelte seinen Vater an der Schulter und schrie ihn an, er solle sofort seine Schwester in Ruhe lassen, sonst sei er nicht mehr sein Sohn.

      Es war, als hätte der junge Mann eine dunstige Glasschale, die über die ganze Szene gestülpt war, mit seinem Aufschrei zerschlagen, als wäre eine trübe Brühe, in der die Beteiligten schwammen, plötzlich abgeflossen, der Stöpsel aus dem Schlammbassin gezogen. Danach erst konnte sich die Geschäftsfrau aufraffen, und unter supervisorischer Aufsicht wurden dem glibberigen Kindsvater die Bedingungen für sein weiteres Verhalten gestellt, insbesondere ein striktes Umgangsverbot mit seiner Tochter.

      Dieser Aspekt des Eingreifens wird uns im Kapitel über Gewalt in fundamental-religiösen Gruppen noch einmal beschäftigen, denn ich halte es für eine mitmenschliche Pflicht, in Gewaltsituationen auch von außen einzugreifen. Da die Zeugen und Zuschauerinnen oft zum gleichen System gehören wie Täter und Opfer, haben sie ein ähnliches Interesse daran, dass die Situation nicht verändert wird. Schweiger sind Mitvampire, Mittäter.

      Da wäre beispielsweise die fortschauende Mutter, die den «Familienfrieden » nicht gefährden will; die schweigende Verwandtschaft, die den übergriffigen Onkel immer wieder zu den Familienfesten einlädt, obwohl er bereits vor zehn Jahren die kleinen Nichten in ihren weißen Röckchen in einer Weise betätschelte, dass allen die Haare zu Berge standen, aber man macht das halt so. Da gibt es Kollegen, welche die Übergriffe eines Vorgesetzten gegenüber dem Lehrlingsmädchen schweigend hinnehmen, fürchten sie doch um ihre eigene Karriere. Ich kannte eine Familie, da war der Grund für das Schweigen die schiere Gewalt, das Schreien und Prügeln des Mannes, unter dessen Knute sich die Ehefrau duckte. Sie schwieg selbst dann noch, als eine der Töchter bereits ein Kind von ihm erwartete, adoptierte dieses stillschweigend und zog es auch noch mit auf.

      In der oben beschriebenen Szene durchbricht der erwachsene Halbbruder diese Glasglocke. Er ist von allen am wenigsten in die Situation verwickelt, von keinem der Erwachsenen mehr finanziell abhängig, und es scheint, als sei seine emotionale Bindung an die kleine Halbschwester auch stärker als die an den Vater, sonst hätte er ihm wohl kein Ultimatum stellen können. Auf der anderen Seite profitierte er aber auch von dieser Konstellation; sie gab ihm die Gelegenheit, den Vater zu stürzen und sich vor einer offensichtlich mächtigeren Person – der Präventionsberaterin – als Ritter des Guten aufzuspielen. Das Risiko, falsch zu handeln, war auch nicht so groß, denn es war offensichtlich, dass ich selber im nächsten Augenblick eingegriffen hätte. Die Voraussetzung für seinen Aufschrei war das mitgehörte Gespräch, das seine eigenen bisherigen unguten Gefühle und Beobachtungen bestätigte. Trotzdem muss der Ritter in unabhängiger Position sein, denn die Mutter hätte ja in diesem Augenblick ebenfalls reagieren können. Aber ihr war es, aus welchen Gründen auch immer, eben nicht möglich.

      Eingreifende Personen sind weit genug entfernt, um unabhängiger als die Hauptbeteiligten zu sein, und nah genug, um die Geschichte zu bemerken und für das Opfer Empathie, Mitgefühl zu entwickeln.

      Schweigende Zuschauer und Zeuginnen leben in der Illusion, dass das System – die Familie, die Gruppe, die Stimmung am Arbeitsplatz usw. – noch in Ordnung sei, dass da vielleicht einer etwas tut, was irgendwie nicht richtig zu sein scheint, was ja aber gar nicht sein kann. Denn die Gruppe ist doch eigentlich in Ordnung, und wenn man zuviel über das redet, was man da sieht – aber vielleicht irrt man sich ja auch und ist überempfindlich? –, zerstört man nur die heile Welt dieser Gruppe.

      Das System ist von dem Augenblick an nicht mehr in Ordnung, da der Vampironkel seine ersten seltsamen Blicke und Bemerkungen an sein Opfer richtet. Ja, er kann sich nur so verhalten, weil die Gruppe, die Familie bereits Risse in der Harmonie zeigt, nicht mehr stabil ist. Das Nicht-Intakt-Sein der betroffenen Gruppe ist die Vorbedingung für einen Vampir, hereinzuschlüpfen und auszusaugen – wie das offene Schlossfenster in Transsylvanien.

      In Gruppen, in Familien, in Arbeitsgemeinschaften, die von offener Kommunikation getragen werden, von Gesprächsbereitschaft, gegenseitiger Achtung und Sympathie und in denen der Schutz der jeweils Schwächsten oder Jüngsten ein unhinterfragtes Prinzip der Solidarität ist, wird ein Vampir wenig Chancen haben. Man wird ihm beim ersten Versuch bereits auf die Finger hauen, mit ihm reden, ihn abdrängen und die potentiellen Opfer warnen.

      Trotzdem sind eine instabile Familie, eine unsolidarische Gruppe kein Grund und schon gar keine Entschuldigung


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