GEN CRASH. Peter Schmidt

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GEN CRASH - Peter Schmidt


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glaubt, man könnte überrascht werden bei seinen Gedanken, und dann stünden sie einem so verräterisch auf der Stirn, dass man sich eine Anklage wegen Ketzerei oder Gotteslästerung einhandelte.

      Angesichts von soviel sinnlosem Leerlauf fragte ich mich natürlich, ob ich nicht schon bald meinem frischgeweißten, aufgeräumten Büro im Allerheiligsten am Südrand von München nachtrauern würde. Dem Blick durch die Bäume mit den Wagen des Außendienstes, die wie Fahrzeuge auf der Geisterbahn in der Tiefgarage verschwanden und irgendwann wieder auftauchten. In anderen Farben oder mit anderen Nummernschildern, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man die Sache betrachten wollte.

      Klarissa, meine Lieblingssekretärin, verstand es meisterhaft, mich von allem abzuschirmen, was nicht zu meiner Arbeit gehörte.

      "Um ein Feld wie die Ostpolitik zu beackern", pflegte sie zu sagen, "brauchen Sie Ruhe und noch einmal Ruhe, Adrian. Und viel schwarzen Kaffee."

      Sie kochte vorzüglichen Kaffee. Sie beherrschte das Geheimnis, ihn weder nach Entkalker noch wie Spülmittel schmecken zu lassen.

      Gegen Mittag läutete ein Kurier an der Pforte und warf zwei Briefe durch den Schlitz. Als ich die Tür öffnete, hatte er schon sein Mofa bestiegen und machte sich über den Sandweg durch die Dünen davon.

      Der eine war eine Aufforderung Sehlens, mich noch ein wenig zu gedulden – bis zum Abend, wo wir in den Zandvoorter Kneipen kräftig einen draufmachen und "ein paar strohblonde holländische Meisjes" aufreißen würden. Er sei nach Belgien gerufen worden, Konferenz der Eierköpfe. Unter seinem Namen leicht verschmiert, als wäre die Kugelschreibermine ausgelaufen: "PS: Holen Sie sich was zu futtern in den Büdchen am Strand. Matjes ist am besten bei 'De Windroos'". Im anderen befand sich ein leeres, weißes Blatt Papier.

      Ich hielt den Umschlag gegen das Licht, roch daran und prüfte, ob er mit einer chemischen Flüssigkeit getränkt war, um Nachrichten unsichtbar zu machen. Oder ob es winzige Zeichen gab, die sich nur mit einer starken Lupe entziffern ließen. Aber weder auf dem Blatt noch am Umschlag fanden sich irgendwelche Spuren. Vielleicht war man ja endgültig über das Stadium solcher Albernheiten hinausgelangt – oder jemand erlaubte sich einen Scherz mit mir.

      Sehlen musste längst wissen, was ich über unsere Methode, den Stein des Sisyphus auf den Berggipfel zu rollen, dachte. Er machte sich keine Illusionen darüber. Er hörte die Greise husten und sah, wie viel Grabesschleim sie von sich gaben, um einen Ausdruck aus der Literatur zu gebrauchen. Ich verkörperte für ihn den neuen Aufbruch, einen Typ von Kanalarbeitern, die nicht mehr in den alten Kategorien dachten.

      Spionage und politische Beeinflussung – Desinformation und Diffamierung – sind zwar ursprüngliche menschliche Verhaltensweisen. Ein Kind lenkt man gern von seinem Schmerz ab, indem man seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes richtet, den Schnuller, die Rassel: das Grundmuster der Desinformation, nämlich einen glauben zu machen, man habe keinen wundgelegenen Hintern, sondern fühle sich ausgezeichnet.

      Aber seitdem Gorbatschows frischer, neuer Wind durch die Politik wehte, waren die alten Methoden in Verruf geraten. Man praktizierte sie weiter, wenn auch in dem Gefühl, nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit zu sein. Man argwöhnte, die Entwicklung könnte leicht über einen hinweggehen, und dann stände man genauso belämmert da wie die alte Garde im Ostberliner Politbüro, nachdem sie in die Verbannung geschickt worden war.

      Also lieber Flexibilität demonstrieren, nachgeben, wo es nicht viel kostet. Ein paar liberale Sprüche klopfen; düstere Kommentare zum kalten Krieg; Einsichten über die Schwächen der menschlichen Psychologie. Verführbarkeit, Rücksichtnahme. Dumpfes Unbehagen schon immer gehabt und so weiter.

      Forum hatte mich dazu auserkoren, die Fahne des neuen Denkens vor uns herzutragen. Aber Rücksichtnahme auf die Gefühle der Veteranen. Man kann durchaus darauf verzichten, bei der Parade immer in vorderster Reihe zu laufen, manchmal genügt auch das vierte oder fünfte Glied.

      Nicht einmal Michail Sergejewitsch Gorbatschow gehörte zu den Unsterblichen, bei aller Gottähnlichkeit. Um einen Platz im marxistischen Olymp zu erlangen und wie die anderen Klassiker in den Himmel gehoben (und später geköpft) zu werden, musste er erst einmal das Zeitliche segnen. Nach seinem Tode oder politischen Knockout konnte die Windstille leicht die westlichen Zentren erreichen.

      Dann würde man wieder süffisant Veränderungen im Osten fordern, die den Gegner moralisch ins Hintertreffen brachten. Dass Reformen nicht rückgängig zu machen seien, ist ein Satz, den die Geschichte gründlicher widerlegt hat als jeden anderen.

      Was Forum selber dachte, war sein Geheimnis. Mag sein, dass er überhaupt nichts dachte. Wozu denken, wenn man die Probleme auch intuitiv bewältigen kann? Mag ebenso gut sein, dass ich ihm damit bitteres Unrecht tat. Jeder, der sich mit dem Winde dreht, ist verdächtig. Obwohl auch ein Mitläufer guten Glaubens sein kann.

      3

      Als ich nach München zurückkehrte, war ich so klug wie am Anfang. Ich tappte weiter im dunkeln. Vielleicht glaubte Sehlen ja, Orientierungslosigkeit sei kein Beinbruch, und ich hätte Gott sogar dafür zu danken, dass ich nicht alles wusste?

      Es gibt diese Weltenturner, die sich auf allen möglichen Drahtseilen bewegen, ohne etwas von der Tiefe und den Abgründen unter sich zu ahnen, und bei ihren dumpfen Spielen auch noch Spaß empfinden. Ich für meinen Teil habe immer danach getrachtet, mich zu orientieren, und ziehe eine Straßenkarte dem Umhertappen in der Finsternis vor.

      Er sagte, unsere Operationsbasis sei wie gewöhnlich die bayerische Landeshauptstadt. Zandvoort, Brüssel und Amsterdam nur ausnahmsweise. Weshalb und warum, darüber schwieg er sich aus. Er hatte mich beauftragt, eine Sammlung aller Artikel über Gorbatschows neue Politik zusammenzustellen, die mir in die Finger kämen.

      "Authentisches Material, Amb, keine Schmierereien aus zweiter Hand. Ich komme Sie und Ihre Frau in München besuchen, sobald ich ein paar Stunden erübrigen kann. Richten Sie ihr meine besten Grüße aus."

      Der Gedanke, er könnte mir und Slava ein ganzes Wochenende auf die Nerven gehen, versetzte mich in düstere Stimmung. Dass er Margrit auf die Nerven ging, hielt ich für ausgeschlossen. Besuch ging ihr so gut wie niemals auf die Nerven, am wenigsten, wenn sie einen aufmerksamen Zuhörer erwartete. Sehlen würde der aufmerksamste Zuhörer des Jahrhunderts sein.

      Ich konnte ihm seinen Besuch nicht gut abschlagen. Es wäre unhöflich gewesen, eine offene Kampfansage, die weit über unsere Wortgeplänkel hinausging.

      Außerdem wusste er von Forum, dass ich den größten Teil des politischen Materials in meiner Wohnung aufbewahrte. Es war weder brisant, noch unterlag es irgendeiner Geheimhaltung.

      Er würde sich ein paar Mappen Zeitungsausschnitte zeigen lassen und dann mit Margrit über die quietschende Wendeltreppe im Esszimmer verschwinden. Keine Gefahr, Margrits sexueller Appetit könnte auf dem geblümten Sofa am Fenster unerwartet ins Kraut schießen! Da fürchtete ich schon eher ihren unverhohlenen Drang nach Aufstieg und Beförderung. Wenn sie erst einmal beim Thema angelangt war, brachte sie selbst einen ausgetrockneten Flusskiesel dazu, ein paar Tränen des Mitleids abzusondern. Sie konnte hysterisch und autoritär sein. Alles nacheinander oder zusammen, ganz wie es die Situation erforderte.

      Und danach, wenn das Tete-á-tete beendet war und Sehlen zum x-ten Male beteuert hatte, dass er sich bei Forum für meine Beförderung zum Großmogul der vereinigten westlichen Dienste verwenden wollte, würde er sich auf der Stelle in Slava verlieben.

      Schon aus taktischen Gründen. Weil es nützlich war, sich die Tochter eines wichtigen Mitarbeiters gefügig zu machen. Nach dem Motto "Abhängigkeit und Rücksichtnahme". Unser Gewerbe ist nun mal ein Geschäft von Beziehungen. Darin unterscheidet es sich kaum vom übrigen Leben, sieht man einmal davon ab, dass unsere Stärken und Schwächen noch ein wenig deutlicher hervortreten. Wenn man zwischen Wölfen und Schafen unterscheiden will, würde ich mich immer auf die Seite der Wölfe schlagen, und nicht etwa bloß aus Opportunismus. Forum hätte sicher den Ausdruck Loreleigesinnung vorgezogen. Von Wölfen redete er lieber, wenn es um die Gegenseite ging. Die Schöne, die ihr güldenes Haar kämmte und alles ins Verderben


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