Sexy Zeiten - 1968 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.den osteuropäischen, ehemals deutschen Protektoraten und aus „der Zone“. Zwanzig Jahre lang hatte ihnen die antidemokratische Hugen- berg-Presse vor der und während der Hitler-Ära Angst vor den Kommunisten, vor den bösen „jüdisch-bol- schewistischen Untermenschen“ gemacht.
Nach dem Krieg, nach dem Untergang der unsäglich konservativen Hugenberg-Presse schlug die US-hörige Presse in dieselbe Kerbe. Axel Springer hatte – nach eingehendem CIA-Briefing – von den Amis die Lizenz für die BILD-Zeitung erhalten. Sie wurde zum angstmachenden Sprachrohr des Kalten Krieges für die Massen, befeuert aus dem Amerika des Kommunistenjägers und Antidemokraten McCarthy. Nun flohen die Menschen scharenweise vor der „roten Gefahr“, denn sie wussten von den Rückkehrern, wieviel Blut die Deutschen im Osten vergossen hatten. Sie fürchteten böse Rache.
Nach der Befreiung vom Faschismus schloss sich Otto – gewohnheitsmäßig, wie schon einmal – den Durchschnitts-Lemmingen an, die sich nun zwar nicht mehr in den Abgrund, aber in die Arbeit stürzten. Ar- beit, Arbeit, Arbeit.
„Ich muss arbeiten.“
„Ich habe keine Zeit, ich habe so viel zu tun.“
Arbeit. Arbeit. Arbeit!
Wir Jugendliche verstanden nicht, weshalb die Erwachsenen tagein tagaus über Arbeit sprachen. Waren unsere Alten nicht allesamt verrückt?
*
Kaum aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt, hatte mein Vater einen bautechnischen Kurzlehrgang besucht und konnte sich nun beim bundesdeutschen Neuanfang mit seiner früheren Erfahrung in der Baubranche und bei der Baupolizei als Bauingenieur betätigen. Aber er wählte nicht den goldenen Weg der Selbständigkeit, der in der Aufbauphase des Wirtschaftswunders – bei kriegsbedingtem männlichem Arbeitskräftemangel – schon einfache Bauleiter zu Millionären werden ließ. Otto wählte den sicheren Weg des Beamten, der er auch als ewig treuer Staatsdiener war, und wurde Leitender Ingenieur beim Hessischen Staatsbauamt in Frankfurt.
In dieser Funktion baute er nach 1949 sämtliche durch Bombardierungen beschädigte Kirchen im Rhein-Main-Gebiet wieder auf, was ich schon als Sechsjähriger mitbekam, denn des Öfteren kamen einige Pfarrer zu uns zu Besuch, um sich bei Otto zu bedanken und über weitere Bauprojekte zu sprechen. Er baute aber auch das Preungesheimer Gefängnis, das Frankfurter Arbeitsamt, das Landesarbeitsamt und alle Arbeitsämter im Umkreis von Frankfurt.
Mein Vater war ein absoluter Familienmensch, was mir später arg zu schaffen machte, denn eigentlich sah „unsere Revolution“ die Überwindung solcher bourgeoisen Institutionen wie der Familie vor. Otto hatte in meiner Mutter Erna die ideale Partnerin gefunden. Bei- de lebten in unseren Kinderaugen ein harmonisches und gleichberechtigtes Leben. Nur später, Anfang der 1960er Jahre, als Mutter gerne arbeiten und eigenes Geld verdienen wollte, rumpelte es in der Ehe eine Zeit lang.
„Warum soll ich nicht arbeiten gehen und zusätz- lich Geld verdienen dürfen?“, fragte sie Otto beim Abendbrot.
„Ich habe dir doch bereits die Eröffnung eines ei- genen Kontos bei der Sparkasse erlaubt, was darf es denn noch alles sein? Meinst du die Friedel bekommt von ihrem Mann die Genehmigung, einen Arbeitsver- trag zu unterzeichnen? Peter hat seiner Friedel noch nicht einmal eine Bankgenehmigung erteilt. Er sagt, was er alleine verdient, will er alleine auch kontrollieren. Frauen haben sich da rauszuhalten. So ist es ja auch vom Gesetz vorgesehen!“
„Ich will nicht länger nur Taschengeldempfängerin sein! Was unsere Freunde machen, ist deren Sache. Aber ich möchte, dass deine Liebe sich im Vertrauen zu mir beweist. Frau Zimmermann geht in einem amerikani- schen Offiziershaushalt putzen und hat Zugang zur PX und erhält immer die neuesten Sachen von dieser Fami- lie geschenkt. Neulich bekam sie sogar Nylonstrümpfe.“
Nylonstrümpfe waren purer Luxus wie meine Armbanduhr oder wie die uns zugeworfenen Kaugummis der amerikanischen Soldaten.
Die PX im Stadtteil Eschersheim war der Super- markt für die Soldatenfamilien der amerikanischen Be- satzungsmacht. Deutsche durften da nicht einkaufen – es sei denn, sie wurden als Hilfspersonen beim Einkauf mitgenommen. Frau Zimmermann war eine Nachbarin im Wohnblock und wusste stets die Vorteile der ameri- kanischen Kasernennachbarschaft zu nutzen. Ihr Sohn, in meinem Alter, war vom gleichen Kaliber und der Chef-Bettler vor den Kasernenfenstern gewesen. Ich glaube, damals, als ich noch Kind war, habe ich mich das erste Mal in meinem Leben für einen anderen Men- schen fremdgeschämt.
*
Freitagabends, Anfang September 1966, besuchten Hanna und ich den Club Voltaire. Das war ein legendärer Club für die aufrührerische Jugend. Politik, Kultur, Literaturkritik, Musik, Zusammensein, Diskussionen – das war das tägliche Programm rund um die Woche. Dort verkehrten aber auch junge Anwälte, kritische Banker und Journalisten. Wir waren mit sechzehn Jahren zweifellos die Jüngsten, aber keiner fragte nach unserem Alter. Wenn man die Tür reinkam, war linker Hand der Tresen, hinter dem mit wachen Augen Else zugange war und Bier zapfte, Wein einschenkte oder Limo und Wasser über die Theke reichte. Brezeln hingen an einem Hirschgeweih, und Soleier lagen in einem Glas, daneben ein großer Bottich Senf.
Else schmierte uns auch Schmalz-Brote, die sie mit amerikanischem Sound in der Flötenstimme „Sandwich“ nannte. Das Licht war etwas schummrig, doch vorne in Richtung der kleinen Bühne wurde es heller. Hier fanden Streitgespräche, Lyrikvorträge, Filmvorführungen und Bildungsabende statt. Heute Abend waren auch einige stadtbekannte Gammler und Provos hier. Provos waren die politisierte Ausgabe von Hippies und Gammlern, hatten ihren Ursprung in Amsterdam und wollten auf witzig-pazifistische Weise die bürgerliche Gesellschaft an ihren Schwachpunkten packen und provozieren.
Ich kannte die Leutchen vom Marshallbrunnen und von meinem ersten Sit-in vor dem amerikanischen Generalkonsulat wegen des Vietnamkrieges. Thema des Abends war „Sex und Revolution“, Referent war der Student Günter Amendt vom SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Er fragte an jenem Abend, was bei uns zu Hause in puncto Sex alles verboten sei. Es folgte eine heiße Diskussion.
Einer aus unserer Clique, Kai, zwei Jahre älter als ich, antwortete ihm: „Ich weiß nicht genau, wie ich das beschreiben soll. Eigentlich gab es bei uns in der Familie keine direkten sexuellen Verbote, als ich jünger war. Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter oder mein Vater gesagt hätten, tu die Hand vom Sack oder so was. Das Thema wurde eher totgeschwiegen. Nur wenn andere Erwachsene dabei waren, wurde darauf geachtet, dass ich mir nicht zwischen die Beine gegriffen habe.“
Wir lachten, und Kai, der mit achtzehn in meinen Augen schon erwachsen war, obwohl die Mündigkeitsgrenze damals noch bei einundzwanzig Jahren lag, erzählte weiter: „Mit den Verboten ging es eigentlich erst los, als ich älter wurde. Sie haben mir auch dann nicht gesagt, ich soll nicht onanieren oder keine Mädchen küssen. Die Verbote liefen über den Umweg der Ausgangssperre und derlei Sachen. Sie hätten nie gesagt, dass ich die Finger von einem Mädchen lassen solle, sie haben einfach nur gesagt, ich habe um die und die Uhrzeit zu Hause zu sein, oder sie ließen mich erst gar nicht weg. Auf die Art haben sie Einfluss auf mein Sexualleben genommen. Nach Hause konnte ich sowieso kein Mädchen mitbringen.“
Ein Pärchen, er sechsundzwanzig, sie dreiundzwanzig Jahre, erzählten, dass ihre Eltern ihre Heirat mit allen Mitteln, bis hin zum Erbentzug, verhindern wollten. Er war Landwirt an Frankfurts Stadtrandsiedlung Bonames und sie Frisörin. Vom Abend im Club Voltaire hatten sie von einer Kundin erfahren.
„Alle anderen dürfen schon viel früher heiraten, nämlich mit einundzwanzig und achtzehn Jahren. Was sollen wir da bloß machen?“
Da stand eine der älteren Mädels auf, ich schätzte sie damals auf halbtot, das bedeutete, so um die Dreißig, und sie sagte: „Wenn ihr euch liebt und zusammenbleiben und Kinder haben wollt, dann macht ein Kind, und schon kriegt ihr den Freifahrtschein zur Hochzeit. Denn ein uneheliches Kind wird eure Verwandtschaft als das schlimmere Übel sehen!“
„Mein Vater sagt, dass er einer Mischehe nicht zustimmen könne, weil ich katholisch und Fritz evangelisch ist“, meinte das