Sexy Zeiten - 1968 etc.. Stefan Koenig
Читать онлайн книгу.Mitte der 60er Jahre kam es zu vielen Demonstrationen gegen althergebrachte Gesellschaftsstrukturen. In einem Café wurde ich einmal Mithörer eines Gesprächs zwischen zwei krawattenbetuchten Anzugmenschen, und der eine meinte: „Wir leben in einem durch und durch braun-schwarz durchtränkten Land“. Das gab mir zu denken, denn wenn selbst Krawattenmenschen so aufmüpfig redeten, dann musste etwas dran sein. Ich begann zu recherchieren und meine Lehrer zu befragen. Das aber waren die Falschen. Trotzdem fand ich heraus, dass Hunderttausende ehemaliger Funktionsträger der Nazis immer noch – oder schon wieder – in den Amtsstuben, in Ministerien und als Richter in den Hallen von Justitia saßen.
„Wird Zeit, was zu unternehmen. Die Christdemokraten sind die Schutzherren der braunen Garde. Auf einen parlamentarischen Wechsel unserer Politik können wir lange warten“, sagte der eine Krawattenträger, und sie erwähnten drei Buchstaben, die mir damals noch nichts sagten: APO.
Das war die Außerparlamentarische Opposition. Hier organisierten Unorganisierte regelmäßige Protestaktionen auf der Straße und in den Vorlesungsräumen der Universitäten wegen der bundesdeutschen Wiederaufrüstung, wegen des westdeutschen Strebens nach Atomwaffen, wegen der geplanten Notstandsgesetzgebung und wegen des grausamen US-Krieges in Vietnam. Der Protest hatte viele Gesichter, wie ich bald erkannte, und er war mit einem Mal allgegenwärtig. Die Polizei stand mit ihren oft unangemessenen Mitteln im öffentlichen Scheinwerferlicht und war ständiger Kritik ausge- setzt. „Die Bullen haben wieder eine Schülerdemo niedergeknüppelt!“ Das Schimpfwort für die Polizei nahm Gestalt an.
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Zu Hause begannen wir aufmüpfige Literatur zu lesen. Woher aber hatten wir die Schriften von Marx, Engels und Freud? Wir gammelten tagsüber am Opernplatz rum, wann immer wir Zeit fanden. Statt Hausaufgaben zu machen, zwitscherte ich ab. „Lollo!“, rief ich meiner Mutter zu – so nannte ich sie, weil mein Vater sie so nannte, denn sie sah in den Augen meines Vaters der italienischen Schauspielerin, Fotografin und Bildhauerin Gina Lollobrigida recht ähnlich: „Ich fahre mal mit der Tram in die Stadt.“ Wir wohnten zwar in der Stadt, im urbanen Stadtteil Bornheim, aber wenn man in „die Stadt“ ging, dann bedeutete es, dass man zur Zeil, jener bekannten Einkaufsstraße der Wirtschaftswundermetropole, oder zum Opernplatz oder zur Hauptwache ging.
Am Opernplatz befand sich der Marshallbrunnen, der seinen Namen dem von 1947 bis 1949 amtierenden US-Außenminister zu verdanken hatte. Der Marshall-Plan pumpte gleich nach dem Sieg über die Nazis aus dem völlig unzerstörten Nordamerika 13 Milliarden Dollar nach Westeuropa, um hier gegen die durch den Krieg fast völlig deindustrialisierte Sowjetunion zu punkten.
Verkauft wurde uns diese Aktion von der BILD-Zeitung und von anderen US-hörigen Pressesatelliten Jahr für Jahr in einhämmernder Weise als „großzügige und uneigennützige Hilfe aus den Vereinigten Staaten“. So hatte ich es auch in der Grundschule gelehrt bekommen. Und von meinen Eltern gehört. Und von meinen Verwandten. Und so sprachen und dachten auch unsere Nachbarn. Und diese Lehre saß sehr tief. Sogar äußerst tief, und sie wirkte äußerst lange nach – bis zu meinem sechzehnten Lebensjahr, als ich begann, Fragen zu stellen.
Ein uralter Gammler, er war gewiss schon Mitte zwanzig, erklärte mir bei einem Protest-Sit-in wegen des US-Vietnamkrieges an der Alten Oper, was er von der amerikanischen Nachkriegs-Hilfe hielt. „Die sogenannte Hilfe ist nichts weiter als das umfangreichste Bestechungsgeld, das weltweit jemals floss.“
Ein Jahr später arbeitete ich diese Aussage in mein Geschichtsreferat ein: „Die Marshallplan-Hilfe entspricht heute rund 129 Milliarden Dollar. Damit schufen sich die USA wirtschaftlich-politischen Einfluss und sicherten sich langfristig einen großen westeuropäischen Absatzmarkt für ihre Waren und Ideologien.“ Mein sozialdemokratischer Sozialkunde- und Geschichtslehrer gab mir darauf eine „ungenügend“. Er war sechs Jahre zuvor aus der „Zone“ geflohen.
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Am Marshallbrunnen saßen all die Outlaws, die Beatniks, Hippies, Gammler und Provos. Dort hatte Kurt, einer der ewigen Langzeit-Studenten, einen sogenannten wilden Bücherstand aufgebaut. Er wurde wohl geduldet, denn die Bullen ließen ihn in Ruhe. Bei ihm gab es längst jene Bücher, die zu dieser Zeit noch keine der normalen Buchhandlungen in ihrem Sortiment führte. Ich hatte von meinem 10-DM-Taschengeld im Laufe der Monate etwas zusammengespart und kaufte jede Woche bei Kurt mindesten ein Buch im Wert von fünf bis acht Mark. Ein wirkliches Taschengeld-Opfer. Ansonsten saßen wir am Brunnen und gammelten.
»Gammeln« war ein neuer Lebensstil, das war Ausbruch pur. Wir wollten raus aus der absoluten Leistungsgesellschaft, der schulischen „Leistungshysterie“, in der wir uns bereits in jungen Jahren nur als kleine Rädchen in einem undurchschaubaren Getriebe vorkamen. Und Noten waren Scheiße. Wie konnte Mensch sich erdreisten, andere Menschen zu benoten! Was ein autoritärer Kack!
Die Gammler von Frankfurt trugen wie die Gammler in München, Hamburg oder Westberlin Zottelhaar, Militärjacken, Parkas, Fellwesten und Fellmützen, Ketten und Amulette. Jacken und Parkas waren meist aus amerikanischen Armeebeständen, die mit Parolen wie Ban The Bomb, Namen von Beatbands und dem Ostermarschabzeichen versehen wurden. Die männlichen Vertreter dieser Spezies trugen Bart. Am Opernplatz traf sich der Frankfurter Ableger jener einzigartigen Subkultur, die sich durch lässige Haltung und Vorliebe für Beat- und Folkmusik auszeichnete. Aber sie stand für keine politischen Inhalte, die über eine Verweigerungshaltung hinausgingen. Deutsche und ausländische Beatniks und Gammler hatten hier ihr Durchgangslager vor ihren Reisen in fremde Länder aufgeschlagen. Für den Spießbürger waren es schmarotzende Arbeitsverweigerer. Und so wurden wir mit ausdrucksstarken Worten bedacht: „Adolf hätte euch in Arbeitslager geschickt!“
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Nun war ich kein echter Gammler, denn ich war als Gymnasiast fest im Würgegriff der bürgerlichen Gesellschaft. Aber ich hatte Haare, die waren so schrecklich lang – so „lang“ wie die Haare der Beatles, jener „Affen“, die mit afrikanischer Trommelmusik nur Unheil in den Köpfen der Jugend anrichteten – wie Nachbarn, Tanten, Onkel und manche Pauker meinten. Dabei reichten meine Haare noch nicht einmal bis zu den Schultern.
Als ich einmal zu Fuß unterwegs in die Stadt war, fuhr plötzlich ein LKW langsamer und dann im Schritttempo mit mir auf einer Höhe. Gleich darauf wurde auf der Beifahrerseite die Scheibe runtergekurbelt und ein stoppelhaariger Prolet warf mir einen Groschen mit den Worten zu: „Spar mal auf‘n Friseur!“ Solche Erlebnisse teilten wir uns am Marshallbrunnen natürlich mit, und es stellte sich heraus, dass dieser Satz wohl unabdingbarer Bestandteil unseres blutjungen Lebens sein sollte: „Geh mal zum Friseur!“
Eines Tages kam mein Vater vom Friseur, der hieß Oskar. Die beiden waren gleichaltrig und kannten sich aus frühen Zeiten und vom Sportverein. Irgendwie war Vater an diesem Abend komisch. Ich hatte bisher vor den Eltern geheim halten können, dass ich mich am Marshallbrunnen rumtrieb.
„Machst du da bei den Nichtsnutzen vom Opernplatz mit?“, fragte er mich.
„Nein, wieso?“
„Irgendjemand hat dich dort wohl gesehen“, antwortete mein Vater.
Ich schüttelte den Kopf und stammelte, dass ich nur mal dort vorbeigekommen bin. Aber ich war ein schlechter Lügner, und Otto sah mich scharf an. „Ich will nicht belogen werden. Merk dir das!“
Damit war die Sache erledigt. Später erfuhr ich von Pit, der nur zwei Tage später beim selben Friseur war, dass mein Vater dort die Tränen nicht mehr an sich halten konnte, als er von Oskar erfuhr, wo ich mich rumtrieb. „Ich hab ihn doch so ordentlich erzogen!“, soll er gesagt haben. Das war mir voll peinlich. Aber „Ordnung und Sauberkeit“ waren nun mal die alles bedeutenden Messwerte jener grauen Zeit.
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Mein Vater war nach dem frühen Tod seines