Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke
Читать онлайн книгу.genug zu essen hatten und sich das Gesicht der Leutseligkeit aufsetzten. Das hatte Paulus auch gesehen, wenn ihm die Falschgesichter mit der gelogenen Betretenheit gegenübertraten, ihre scheinheiligen Sprüche klopften und sich enttäuscht, ja beleidigt abwendeten, wenn ihnen der Apostel den Spiegel der Schlechtigkeit vorhielt, den er zuvor vom Sandstaub des Weges gereinigt hatte. Er hielt praktisch den Spiegel direkt vor die Gesichter, dass sich die Betroffenen selbst in ihren Lügen und Betrügereien sehen konnten. Manche mochten sich im Spiegel nicht erkennen, einige drückten das eine oder andere Auge zu, andere stellten sich blind. Da platzte dem Apostel der Kragen, der dann mit Worten nachhalf, die scharf genug waren, um die Heuchler und Täuscher mit dem scheinheiligen, leutseligen, unbekümmerten Falschgesicht ins Fleisch zu schneiden.
In dieser klärenden Weise, der stets die Beispiele der Taten vorangestellt wurden, tat es Paulus auch mit den Menschen von Korinth. Da gab es viele wohlhabende Menschen, dass es nicht in den Kopf der Güte ging, wenn bei all dem Reichtum, der sich da durch den Handel in der Ägäis und über das Ionische Meer häufte, es Menschen und vor allem Kinder gab, die in jämmerlichen Hütten oder hinter Brettern lebten, die sich in ihrem Leben nicht satt essen konnten, sich zu Tode hungerten, denen die Armut das Kleid der menschlichen Würde und Scham zerriss, ja vom Leibe gerissen wurde, die dann, weil sie bettelarm waren, von denen, die genug zum Leben hatten, verachtet, geschlagen und verstoßen wurden. Was waren das für Menschen in Korinth, oder anders gefragt, waren das noch Menschen in Korinth?
Paulus war entsetzt, ja er war bestürzt, als er den Reichtum der einen und die Armut mit dem grenzenlosen Elend der andern sah. Sicher klaffte die Schere zwischen Wohl und Wehe in den anderen Gemeinden auch, doch nicht so weit. Hier in Korinth haben die Menschen das Groteske auf die Spitze getrieben, wo hinter dem blendenden Reichtum die Flecken der Schlechtigkeit durchschimmerten, wo hinter dem aufgetürmten äußeren Glanz die Fürsorge und Liebe um Nächsten, wie über einen steilen Abhang, abgestürzt war, als wäre hinter dem Reichtum die Gletscherwand, an der es keinen Halt mehr gibt. Darum spricht der Apostel vom Götzenopfer, das ein falsches Opfer ist, zumal wir das Wissen haben. Denn wir wissen, was gut und schlecht, was gut und böse ist. Es ist das Wissen der Verleugnung vor der Tat, das sich aufbläht, eine Blase wird, je länger wir reden, herumreden, diskutieren, herumdiskutieren, wenn wir die Entscheidung nicht treffen, die Liebe in unser Denken, Reden und Tun einzubeziehen. Für die, die da begriffsstutzig zurückbleiben, sagt es der Apostel mit seinen Worten, dass es die Liebe, nicht das Wissen, ist, die aufbaut, ob in der Familie oder der Gesellschaft. Denn ohne die Liebe ist auch das Wissen wertlos. Paulus formuliert es schärfer, wenn er sagt, der, der zu wissen meint, weiß noch nicht einmal, wie er zu dieser Meinung kommt, weiß nicht, was und wie er erkennen soll, ob es die Welt im großen oder der Mensch in seiner Persönlichkeit ist. Denn die Erkenntnis ist gekoppelt an die Liebe; wer Gott aufrichtig liebt, der erkennt auch den Menschen in der Liebe zu ihm. Dann baut Paulus am Bekenntnis, dem großen Monument, dass es nur den einen Gott gibt, dem der Mensch nicht mit dem falschen, dem Götzenopfer kommen, näher kommen kann. Es mögen sich Menschen wie Götter verhalten, wie Götter tragen, sich vergöttern lassen; sie bleiben Menschen mit all ihren Fehlern, deren größter die Hybris ist, mehr scheinen zu wollen, als der Mensch wirklich ist. Der Apostel schreitet um das Monument, das dem Universum seines Glaubens, seiner Denk- und Sichtweise entspricht, wenn er mahnend den Finger hebt, dass wir nur einen Gott haben, den Vater, von dem alle Dinge sind und kommen, so auch Jesus Christus, der die Sünden der Welt auf sich nahm, um die Menschheit zu retten.
Liebe Brüder und Schwestern! Kann einer von uns die Größe, die Tragweite dieser Tat, die Lichtwelt, die sich hinter dem Kreuz auftut, ermessen? Ich kann es nicht, auch wenn ich um diese Erkenntnis gebetet habe und nicht aufhöre, um diese Erkenntnis zu beten. Denn aus eigener Kraft kann ich sie nicht erringen; sie muss mir geschenkt werden, wenn nur mein Herz sauber und bereit ist, sie zu empfangen. Der Apostel drückt es so aus, dass, solange wir am Götzenopfer festhalten, wir schwach bleiben, weil unsere Seele mit der Sünde befleckt ist, die vom falschen Opfer kommt. Die reiche Speise mit dem Reichtum, aus dem wir die Speise in egoistischer Weise nehmen, macht uns Gott nicht nur nicht wohlgefällig, sie entfernt uns von ihm, von dem die wahre Erkenntnis mit dem Licht des wahren Lebens kommt. Wenn wir uns bessern wollen, dann nur über die Demut mit dem Bekenntnis, dass wir schwach und sündig sind. Von den Übeln müssen wir uns befreien, müssen uns aus der Schwachheit erheben. Das bedarf allerdings der gegenseitigen Hilfe mit dem einander Helfenwollen. Wir dürfen im Streben nach Freiheit den Schwachen weder aus den Augen verlieren, noch ihm mit Überheblichkeit vor den Kopf stoßen; wir müssen das Wort der Versöhnung finden und dem entgegen sprechen, der es so dringend braucht, weil er es aus eigener Kraft nicht schafft. Wir müssen die helfende Hand dem entgegenstrecken, der mit dem Leben ringt. Wir müssen wieder lernen, aufeinander zuzugehen, den andern nicht weniger zu achten als sich selbst. Das geht aber nur, wenn wir uns aus den Ketten der Ichbezogenheit befreien. Es muss wieder das Du geben, wenn die Dinge in unseren Familien in Ordnung kommen sollen. Denn nur durch das Du kann sich das Ich läutern, bessern und in der größeren Umfassung finden. Mit dem Du im Zentrum des Denkens, Fühlens und Handelns wächst aus dem schwachen das starke Ich heraus, das dann in der Du-Bezogenheit auch das Wissen hat, die Dinge richtig zu erkennen und durch das bessere Tun richtig zu stellen.
Liebe Brüder und Schwestern! Im 11. Vers des 8. Kapitels berührt der Korintherbrief ganz unmittelbar unsere Befürchtungen und Sorgen, wenn Paulus vom Bruder spricht, der durch das vorgegaukelte, falsche Wissen ins Verderben stürzt, um dessen Willen doch Jesus Christus den Tod am Kreuz auf sich genommen hat. Unsere Gedanken gehen zu unseren Brüdern, Vätern und Söhnen, die mit den großen Idealen für das Vaterland kämpften. Das Wissen der Obrigkeit stimmte mit der Erkenntnis, um die es Paulus im Korintherbrief geht, nicht überein. Nun haben wir die Folgen zu tragen, die schwer sein w erden. Nur der Herr kann uns die Kraft zum Tragen dieser Folgen geben. Wir kehren zur Demut zurück und bitten den Herrn um seine Gnade. Amen.
Eckhard Hieronymus las den Text noch zweimal durch, brachte Verbesserungen an, die er dann noch einmal verbesserte, bis ihm die Erleuchtung kam, dass die ursprüngliche Fassung doch die treffendere war. Es war spät geworden. Der Abendtisch war längst gedeckt. Luise Agnes saß am Tisch und setzte ihre Häkelarbeit an der weißen Wolldecke fort. Sie machte schnelle Fortschritte. Ihr Mann hielt geschriebenen Text in der Hand, als er in die Küche kam und sich auf seinen Stuhl setzte. Sie zog die Wärmekappe von der Kanne, goss den Tee in die Tassen und rührte in beiden Tassen den Zucker ein. „Bist Du zufrieden mit deiner Predigt?“, fragte sie nicht ohne Neugier über die Auslegung des 8. Kapitels aus dem 1. Korintherbrief, den auch sie durch mehrmaliges Lesen so gut wie auswendig kannte. Jedes Mal war sie von der Sprache des Apostels ergriffen, weil sie bildhaft plastisch, auch im weiteren Sinne der Bildung, war. Eckhard Hieronymus begann über die Abfassung der Predigt zu sprechen, die noch einige Ecken und Kanten habe. „Wenn ich daran feile, dass die Ecken und Kanten verschwinden, dann verliert die Predigt die Würze, ohne die der Text fahl und geschmacklos wird. Die Botschaft muss rüberkommen, muss an den Nervenenden ansetzen. Das Wort muss zünden, muss unter die Haut gehen, muss an der Lunte der Nervenstränge entlang glimmen und die Botschaft wie ein Geschoss in den Herzen zur Explosion bringen. Da kann ich doch nicht alle Ecken und Kanten glatt feilen, dass man darüber mühelos mit den Rollschuhen laufen oder mit den Schlittschuhen darüber gleiten kann. Ohne den Stolperstein kommt der Mensch doch nicht zur Besinnung.“ Luise Agnes sah ihren Mann an; ihre Neugier wuchs, und noch während des Essens bat sie, dass er den Text doch vorlesen möchte. Er kam ihrer Bitte nach, legte die angebissene Scheibe Brot auf den Teller zurück, fuhr mit der Serviette über den Mund, nahm noch einen Schluck Tee, griff nach den Bögen und las. Luise Agnes unterbrach das Essen und hörte ihm zu. Ihr gefiel die sonore Stimme ihres Mannes; es lag Bestimmtheit in ihr, die man nicht so leicht kippen konnte. Alle Dorfbrunners, der Vater, wie auch die Brüder Friedrich Joachim und Hans Matthias, hatten die kräftige Stimme. Wenn sie sprachen, wusste der Hörer, woran er war. Der Inhalt des Textes sprach sie an. Es gab Abschnitte, die ihr direkt aus dem Herzen sprachen. So gefiel ihr der Satz mit dem Propheten, der da sagt: Andere werden die Früchte von den Bäumen ernten, die ihr mit Fleiß und Mühe gepflanzt und verschnitten habt. Nicht weniger gefiel ihr der Satz zu: Ihr möget säen; ob ihr die Früchte euer Saat ernten werdet, das steht in der Allmacht Gottes. Tief berührte sie der Satz von den Armen, denen die Armut das Kleid der menschlichen