Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke

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Die Dorfbrunners - Helmut Lauschke


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oberste Heeresleitung an der Spitze, dass die Mahnungen, die sich mehrten, nicht zur Kenntnis genommen und die neuen politischen Methoden nicht zur Anwendung kamen. Der militärische Apparat steckte fest, die Offiziere warteten auf die Befehle Ludendorffs, die nicht kamen, und taten nichts. Sie erstarrten im Phlegma der Befehlshörigkeit. Es jammerte und verbitterte die ausgemergelten Soldaten, dass aus den Siegern von vor vier Jahren nun die Verlierer wurden, dass die unsagbaren und unzählbaren Opfer alle umsonst gewesen waren. Während die Truppe an der Front hungerte, am Senfgas erstickte und sinnlos verblutete, passierte in Berlin nichts. Mit dem Zerfall der deutschen Front lösten sich die Verbündeten, die Bulgaren und Österreicher, die sich um die russische und rumänische Beute zankten, aus dem deutschen Verband. Sie ergaben sich dem Gegner bedingungslos. Österreich suchte nach einem Sonderfrieden, als die Front in Italien wankte und die türkische Front zusammenbrach. Die Parteien im Reichstag, vom Zentrum über die Fortschrittler bis zu den Sozialdemokraten und den annexionsfreudigen Nationalliberalen, übten ihre Kritik an der miserablen Situation, ohne deshalb ein Programm zur Lösung aufzustellen noch an die Macht zu drängen, in deren Ausübung sie ja auch völlig ungeübt waren, vielmehr erwarteten sie die Entscheidung mit der Tat vom Kaiser, der am 30. September den Erlass verkündete, dass das Volk wirksamer als bisher an der Bestimmung der vaterländischen Geschicke mitwirken solle. Darauf nahm nach kurzer Tätigkeit der sensible Reichskanzler, Georg Freiherr von Hertling, seinen Abschied. Der Erlass ging in Richtung parlamentarische Monarchie, war aber unseligerweise mit dem Erlass vom Vortag verknüpft, den Gegner um einen sofortigen Waffenstillstand zu ersuchen, währenddessen man in die Friedensverhandlungen eintreten könnte. Als neuer Reichskanzler versuchte sich der vom Kaiser vorgeschlagene badische Thronfolger, Prinz Max, weil er in der verfahrenen Situation aufgrund seiner politischen Klugheit, Redegewandtheit und sittlichen Integrität als der beste Vermittler zwischen den alten und neuen Mächten und zwischen den Kriegsgegnern auserkoren wurde. Es ging nun darum, die belgische Souveränität wiederherzustellen und durch kluge Zugeständnisse auf die angelsächsische Meinungsbildung einzuwirken. Im März hatte man auf den Prinzen nicht gehört, als der Augenblick für eine Verhandlungspolitik günstig gewesen war. Nun, nach der Kette von Niederlagen war dieser Augenblick vertan. Der Prinz dachte an eine Schadensbegrenzung durch einen Verlustfrieden, der sich in Grenzen halten sollte, um einer bedingungslosen Kapitulation vorzubeugen. Um dieser Politik Nachdruck zu verleihen, forderte er die Heeresleitung um das Durchhalten der Truppe für einen weiteren Monat auf, um die deutsche Armee zu retten, sie vor der letzten Schande der Niederlage zu bewahren. Doch Ludendorff bestand auf dem sofortigen Waffenstillstand, dem schließlich der Prinz nachgab, der Forderung nachgeben musste und damit seine, die bessere deutsche Verhandlungsposition aufgab, die dann auch für immer verloren ging. Der bornierte Ludendorff hatte das politische Problem der Aushandlung des Waffenstillstandes nicht kapiert; das sollten die erschöpften und verstümmelten Soldaten noch bitter zu spüren bekommen. Die Alliierten gönnten den Deutschen keine Waffenruhe. Von Ritterlichkeit war keine Spur; nur der Vorteil galt. Die Arroganz der Generalität, gepaart mit der größten politischen Dummheit, musste der deutsche Soldat auf den blutigsten Schlachtfeldern bis zur eigenen Blutlosigkeit ausbaden. Ein deutscher General bemerkte zu der sich anbahnenden Katastrophe: „Das haben wir unserer Torheit und Selbstüberhebung zuzuschreiben. Seit Jahr und Tag war meine große Sorge, dass Ludendorff den Bogen unserer Kraft überspannen würde.“ Die oberste Heeresleitung dachte weder politisch noch psychologisch an die Folgen, die ihr Waffenstillstandsangebot auf die Massen in Deutschland haben musste. Dort war es still, wo man noch vor wenigen Monaten im Taumel des russischen Beutefriedens schwelgte.

      Durch den Regen hatte sich der Postmann verspätet. Es war gegen zwölf, als er sein Fahrrad vor dem Haus anhielt und die Post durch den engen Briefschlitz in der Tür warf. Luise Agnes hörte das dumpfe Geräusch beim Durchschieben der Sendung, die auf den Flur fiel, und das Zuschlagen der metallnen Klappe über dem Schlitz. Sie öffnete die Tür, um dem Postmann einen guten Tag zu wünschen, sah ihn aber mit Postmütze und Regenjacke für alle Fälle auf dem Fahrrad davonfahren. Nach einem Blick auf die Straße, auf der große Pfützen standen, das ablaufende Wasser in den Gossen floss, und nur wenige Menschen waren, die zu Fuß oder auf Rädern unterwegs waren und sich um die Pfützen herum bewegten, schloss sie die Tür, hob die Post vom Boden und brachte sie ihrem Mann, der in seinem Arbeitszimmer am kleinen Schreibtisch saß und zu Papier brachte, was zu schreiben er für notwendig hielt. „Hier ist die Post; ich hatte nicht mehr mit ihr gerechnet nach dem schweren Regenguss am Morgen.“ Sie legte ihm den Schlesischen Anzeiger und die zwei Briefe auf den Tisch. „Ich danke dir“, sagte Eckhard Hieronymus und bat seine junge Frau um eine Tasse Kaffee. Er unterbrach seine Schreibarbeit, öffnete mit dem Bleistift beide Umschläge und zog die zwei handbeschriebenen und zusammengefalteten Blätter aus dem ersten Umschlag. Es war der Brief von seinem Vater, der andere mit dem offiziellen Schreiben kam vom Konsistorialrat Braunfelder. Natürlich begann er das Lesen mit dem Brief seines Vaters, Georg Wilhelm Dorfbrunner, der Oberstudienrat und stellvertretender Rektor am Stiftsgymnasium für Knaben in Breslau war, an dem er Geschichte und Geographie in der Oberstufe unterrichtete. Es war ein langer Brief mit drei beschriebenen Seiten. Am Schriftbild, dem eine gewisse Nervosität abzulesen war, weil manche Zeilen schief hingen, meist am Ende leicht kurvig abfielen, einige Worte durchgestrichen und durch andere überschrieben waren, und der Schriftzug im Allgemeinen nicht mehr die flüssige Eleganz und Schönheit hatte, wie er sich in früheren Briefen auszeichnete, sondern sich in ihm etwas Krakelhaftes eingenistet hatte, erkannte der Sohn nicht nur das zunehmende Alter des Vaters, der drei Jahre vor dem Pensionsalter stand, sondern vielmehr eine innere Unruhe, die ihm Sorgen machte. Kannte er doch seinen Vater als einen willensstarken Mann von hoher Disziplin und großem Fleiß, der fest im reformierten Glauben stand und sich von Dingen, selbst wenn sie unvorhergesehen hereinbrachen, nicht so schnell erschüttern ließ. Dann setzte Eckhard Hieronymus zum Lesen der väterlichen Briefes an, schaute zuvor noch einmal ans Ende auf der dritten Seiten, wo der Brief mit „In Liebe und Gott befohlen! Dein sich sorgender Vater“ abschloss. Dann las er von Anfang an und ließ sich beim Lesen viel Zeit, suchte und untersuchte den Inhalt nicht nur eines jeden Satzes, sondern eines jeden Wortes, achtete, wo der Vater Punkt und Komma setzte und fuhr mit dem Wunsch, sich an die Kindheit möglichst genau zurück zu erinnern, und mit der Anhänglichkeit eines Kindes dem Schriftzug buchstäblich nach.

      Der Brief sei seiner Bedeutung wegen, die er für den Sohn Eckhard Hieronymus Dorfbrunner zeitlebens behielt, hier wiedergegeben:

       Breslau, den 3. November 1918

       Mein lieber Sohn!

       Deine Mutter und ich hoffen, dass es Dir und Luise Agnes gut geht. Unsere Gedanken sind täglich bei Euch. Auch nachts, wenn wir nicht schlafen können, sprechen wir immer wieder von Euch, wie es Euch wohl gehen mag, wie Du Dich in Deinem Beruf entwickelst, ob Du stark genug bist, den Herausforderungen kraftvoll entgegenzutreten, ob Du das Vertrauen der Menschen Deiner Gemeinde gewinnst, was Du heraushören kannst aus dem, was sie Dir sagen, und wie sie zu Dir sprechen. Wir sprechen von Luise Agnes und ihrer Schwangerschaft, die sie hoffentlich gut verträgt. Es erfüllt uns mit Dankbarkeit und Glück, dass Ihr auf gutem Wege seid, eine Familie zu gründen; wenn wir uns auch Sorgen um die Zukunft machen, in die Ihr mit dem Kind hineingehen werdet.

       Wie Ihr wisst, gehen wir in eine Zukunft hinein, die voller Ungewissheit ist, die für viele Menschen Elend, Trauer und bittere Armut bringen wird. Der Vaterländische Krieg ist so gut wie verloren; und verloren sind so viele unserer besten Söhne. Deutsche Männer, die mit Elan und Idealismus an der F ront gekämpft haben, werden nicht mehr zurückkehren; sie sind auf den Schlachtfeldern für das Vaterland verblutet, sie haben das größte Opfer gebracht. Wer weiß, wer von den Soldaten zurückkommen wird; wer weiß, wie verkrüppelt sie heimkommen werden, dass sich die Väter erschrecken und die Mütter in Ohnmacht fallen werden. Diese Ungewissheit gilt ebenso für Deine Brüder Friedrich Joachim und Hans Matthias, von denen uns die letzten Feldpostbriefe vor gut einem Jahr erreichten. Ob sie noch leben oder auch ihr Leben dahingeopfert haben, wir wissen es nicht. Die Mutter trauert bereits um ihre Söhne, sie hat den Appetit verloren und wacht nachts mit schrecklichen Träumen auf. Ich warte ab und versuche mich zu fassen, wenn die Söhne vor der Tür stehen werden oder der Postbote mit der Nachricht vom Schlimmsten. Du kannst Dir vorstellen, wie das Warten an unseren Kräften zehrt. Seit Wochen leide ich daran, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren.


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