Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke
Читать онлайн книгу.dieser mit der Schwangerschaft und dem beruflichen Ringen. Luise Agnes legte die Häkelsachen auf den Nebenstuhl, die begonnene Kinderdecke auf ihren Schoss, griff nach seiner Hand und strich ihm zärtlich mit dem Daumen über den Handrücken. Dann sah sie zu ihm auf und sagte, dass er nun etwas erholt aussähe, wenn auch die Rötung aus seinen Augen noch nicht gewichen war. Es war gegen zehn Uhr morgens, der Regen klatschte unverändert heftig gegen die Scheiben, und die Windböen säuselten vor ihnen auf und ab. Auf den Fensterbänken waren zusammengerollte Handtücher ausgelegt, damit das eindringende Wasser nicht die Wände runterlief. „Ich habe uns einen starken Kaffee gemacht“, zog die Kaffeemütze von der Kanne und schenkte den Kaffee ein, wobei sie mit der Tasse ihres Mannes begann, der sich auf seinen Stuhl ihr gegenüber an den kleinen Tisch setzte, die Handbibel schon in der Hand hielt und darin zu blättern begann, während Luise Agnes etwas Milch und einen Teelöffel Zucker in seine Tasse tat und im Kaffee verrührte. Sie wunderte sich nicht, dass Eckhard Hieronymus am 1. Korintherbrief festhielt und aus dem 9. Kapitel las: „Bin ich nicht frei? Bin ich nicht ein Apostel? Habe ich nicht unsern Herrn Jesus gesehen? Seid nicht ihr mein Werk im Herrn? Bin ich andern nicht ein Apostel, so bin ich doch euer Apostel; denn das Siegel meines Apostelamts seid ihr in dem Herrn.“ Er sah auf, blickte über den kleinen Tisch, streifte den Augenblick seiner jungen Frau, die ihm mit dem Lächeln der Unschuld entgegensah, und las dann die letzten Verse vor: „Alles tue ich um des Evangeliums willen, auf dass ich seiner teilhaftig werde. Wisset ihr nicht, dass von denen, die in der Kampfbahn laufen, nur einer den Siegespreis erhält? Darum laufet so, dass ihr den Preis erlangt! Jeder, der da kämpft, enthält sich aller Dinge, damit er einen vergänglichen Kranz empfängt, wir aber einen unvergänglichen. Ich laufe nicht aufs Ungewisse, fechte nicht wie der, der in die Luft schlägt. Ich züchtige meinen Leib und zähme ihn, dass ich nicht den andern predige und selbst verwerflich werde.“ Eckhard Hieronymus klappte die Bibel zu, fasste die Hände seiner Frau, die ihm Luise Agnes über den Tisch reichte, und sprach ein kurzes Morgengebet, in dem er den Herrn um den Beistand im Leben beider dankte, ihn um Schutz und Führung der Familie, um eine komplikationslose Schwangerschaft und um den Frieden in der Welt bat, dass er die Geißel des Hungers und der Gewalt von den Menschen nehme.
Sie nahmen das Frühstück ein und sprachen über alltägliche Dinge. Dabei erwähnte Luise Agnes, dass er nun dringend einen schwarzen Anzug brauche. Sie habe das Geld für den Schneider zusammengespart und mit ihm einen Termin zum Maßnehmen ausgemacht. Er sagte, dass es ihm in zwei Wochen passe, weil er dann seine Bestellungen aufgearbeitet und wieder Luft habe, sich zudem leere Seiten im Kundenbuch für besondere Anlässe reserviert habe. Eckhard Hieronymus setzte die Kaffeetasse ab und stellte die existentielle Frage, ob denn ein neuer Anzug wirklich nötig sei. Er verwies auf die Notwendigkeit einiger Möbelstücke, die erneuert werden mussten, wie zum Beispiel den alten Tisch und die Stühle im Wohnzimmer, die noch aus der Studienzeit stammten, an denen sich die Lehnen an drei der vier Stühle lockerten und einige Stuhlbeine aus der Leimung gingen. Das sei eine Anschaffung, die erforderlich sei, wenn Gäste oder Menschen aus der Gemeinde kämen, die man auf die Wackelstühle nicht setzen könne. Und für beides reiche das G eld nicht aus. Er machte ein ernstes Gesicht, und Luise Agnes sah seine Betroffenheit, wie sie immer aufkam, wenn es um geldliche Dinge ging, um die Bezahlung größerer Vorhaben, wie sie ein neuer schwarzer Anzug und ein Tisch mit vier Stühlen waren. „Wichtiger ist der Anzug“, meinte sie, „wenn du deine Vorstellungsbesuche machst, musst du ordentlich gekleidet sein. Mit dem jetzigen Anzug kannst du dich nicht mehr sehen lassen, die Jacke ist zu eng, die Hosenbeine sind zu kurz, und über dem Gesäß ist ein Flicken aufgenäht. Damit kannst du nicht mehr gehen.“ Eckhard Hieronymus aß die Marmeladenschnitte zu Ende, putzte sich den Mund ab, leerte die Kaffeetasse, faltete die Serviette zusammen und schob sie in den Serviettenring. In der anschließenden Textbetrachtung des verkürzt gelesenen 9. Kapitels aus dem 1. Korintherbrief, ging Eckhard Hieronymus Dorfbrunner auf das Damaskuserlebnis der Erleuchtung des Apostels Paulus ein, wo ihm der Herr auf dem Wege erschien, das Licht seine Augen blendeten, dass er für Tage nicht sehen konnte. Am neuen Glauben, den ihm der heilige Geist tief ins Herz pflanzte, hielt Paulus unerschütterlich bis an sein Lebensende fest. Er war der wortgewaltige Verkünder des neuen Testaments, ein unerschrockener Kämpfer gegen das babylonische Treiben der Menschen nach Lust und äußerem Reichtum und ihren Anfälligkeiten, Sünden jeglicher Art zu begehen. Er war der weit vorausschauende Apostel mit der Einsicht in die Tiefe des gesellschaftlichen Durcheinanders und ihre Folgen, war kompromisslos in der Klarstellung des Wortes, wenn er es vom Ballast der Falschheit, jeder Art von Entstellung und selbstsüchtigen Verdrehung säuberte. Paulus befand sich zeitlebens in der Kampfbahn und schonte sich als Kämpfer nicht. Er war ein mutiger Fechter, der mit dem Degen nicht in der Luft herumschlug, sondern die Spitze des Degens auf das Herz der Menschen gerichtet hielt, wenn er sie zur Besserung ermahnte. In diesem Kampf blieb er unermüdlich, denn es ging ihm um den unvergänglichen Siegeskranz des Glaubens. Eckhard Hieronymus drückte die Bewunderung vor diesem entschlossenen und furchtlosen Kämpfer aus; er sagte, dass er den Apostel Paulus in seiner Glaubensfestigkeit und seinem Eifer, das Wort des Herrn zu predigen, sich als Vorbild nehme, wissend, dass er wohl kaum an seine Wortgewalt herankommen werde. Doch wolle er ihm nacheifern, sich nach Kräften bemühen, ein guter Pfarrer für die Gemeinde zu sein. Er sei entschlossen, das Wort und die Wahrheit des Herrn zu verkünden, die Gemeinde auf die Folgen der Sünden und auf das Liebesangebot des Herrn hinzuweisen, der die Sünden vergibt, wenn der Mensch sie bereut und bereit ist, Babylon den Rücken zu kehren, und sich bemüht, auf den Weg der Wahrheit, der mit harten Steinen gepflastert ist, zurückzukommen.
Der Regen klatschte gegen das Fenster. Luise Agnes räumte den Tisch ab, sah nach den eingerollten Handtüchern auf den Fensterbänken, wrang einige über dem Eimer aus und legte sie auf die Bänke zurück. Dann setzte sie sich an den Tisch zurück und nahm die Häkelarbeit an der Wolldecke wieder auf. Sie hatte es zu jener Fingerfertigkeit mit der Häkelnadel gebracht, dass sie mit ihren Gedanken abschweifen und wandern konnte, was sie auch tat, als sie sich ihren Mann am kommenden Sonntag auf der Kanzel vorstellte, um seine Jungfernpredigt an die Gemeinde zu halten, wenn in der vordersten Reihe der Superintendent und Konsistorialrat Braunfelder sitzt, sich die Predigt anhört und ein Urteil über Inhalt und Aufbau, über Sprache, Aussprache und Stil bilden wird. Luise Agnes hatte diesen gewichtigen Rat persönlich nicht kennengelernt, hatte aber von Eckhard Hieronymus gehört, dass er ein untersetzter Herr um die sechzig mit ergrautem Haar und Stirnglatze war, der einen strengen Eindruck machte, dem ihr Mann bei seinem Vorstellungsgespräch kein Lächeln abgewinnen konnte, der sich vielmehr seiner gehobenen Position bewusst war, die er den andern aus niederer Position rasch spüren ließ, wenn er, nicht ohne Rechthaberei mit wichtiger Gebärde in die Redeweise eines Studienrates in den letzten Berufsjahren verfiel und sich beim Reden mehr gefiel als beim Zuhören. Eckhard Hieronymus drückte es so aus, dass er bei diesem Rat weder ins Hirn noch ins Herz sehen konnte, dass er sich vielmehr wie ein unbeholfener Junge vorgekommen sei, als er ihm am Schreibtisch gegenübersaß und eigentlich gar nicht alles sagen konnte, was er sagen wollte, weil er einfach nicht zu Wort kam und ihn der Konsistorialrat mit einem Redeschwall über die Grundlagen der Auslegung von Bibeltexten zugedeckt hatte, wobei er die Bemerkung mit dem Gemessenwerden am Text unzählige Male fallen ließ, als käme es ihm auf das Messen vor allem anderen an. Luise Agnes merkte ihrem Mann nach der Begegnung mit dem Konsistorialrat Braunfelder die Nervosität an, die zunahm, je näher der Sonntag der ersten offiziellen Predigt kam. Das Bammelgefühl an ihm war nicht zu leugnen. Er tat ihr leid, dass er die Bürde des Neuen allein zu tragen hatte, die statt leichter nach dem Gespräch mit dem Kirchenrat schwerer geworden war. Doch traute sie ihrem Mann mit der dorfbrunnerschen Dickköpfigkeit auch das nötige Durchstehvermögen und die Kraft zu, den ersten Gang auf die Kirchenkanzel heil und mit Würde zu gehen und beim Besteigen der Wendeltreppe nicht abzustürzen.
Luise Agnes dachte an den schwarzen Anzug und den Termin beim Herrenschneider Stein, einem kurzgewachsenen Herrn im mittleren Alter, dem die Haare vorzeitig ausfielen, als zöge er sich die Haare mutwillig aus, und in den Randpartien ergrauten, während sie über dem Hinterkopf die dunkelbraune Farbe behielten. Die Koteletten aus dunklen Mischfarben zogen bis vor die großen Ohrläppchen der abstehenden Ohren herunter; das rechte Ohr hatte die Größe einer ovalen Suppenkelle und stand mehr ab als das kleinere linke Ohr. Vor beiden Gehörgängen kräuselten sich dichte braune Haarbüschel. Anders als im weißen Hemd und dunkler Krawatte mit geschlossenen Ärmeln und runden