Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke

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Die Dorfbrunners - Helmut Lauschke


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So sprach Luise Agnes das Gebet, wobei sie seine Hand in ihrer hielt, sie sanft in seine legte. Eckhard Hieronymus hörte ihr mit geschlossenen Augen zu. Es war ein langes Gebet, das ihm das geistige Auge weit öffnete, weil da gesprochen wurde, was ihm einerseits sehr hilfreich war, andererseits viel zu denken gab. Es gab den tiefen Einblick in die Nöte des Menschen, der sich im Morast der Sünde befindet mit seinen körperlichen Schwächen, dem Lustverlangen sich zu vergnügen, ohne rechtzeitig die Bremse zu ziehen, und sich deshalb verirrt, weil er die Kraft zur Umkehr auf den richtigen Weg nicht findet; es der Mensch ist, der an sich denkt und nicht an den andern, zwar schöne Worte redet, das Wort aber nicht hält und deshalb in seinem Tun rücksichtslos ichbezogen und bedenkenlos böse ist. Luise Agnes bat den Herrn um Vergebung ihrer Sünden und um seine Hand, sie auf den richtigen Weg zu führen, in ihr den Glauben zu stärken, den gestärkten Glauben in den Herzen lebendig werden zu lassen, damit das Böse mit der Rücksichtslosigkeit überwunden und das Gute im Tun begonnen werden kann, dass die Menschen zu essen und zu trinken, ein Dach über dem Kopf haben, wenn es draußen stürmt und friert, dass sie ein Bett und genügend Decken haben, um zu schlafen und nicht zu frieren, dass die Eltern es sich gut überlegen sollen, wenn sie ein Kind in die Welt setzen wollen, in der es lieblos zugeht, ja drunter und drüber geht, dass Kinder, die nun einmal da sind, gute Eltern brauchen, die ihnen die ganze Liebe schenken, dass die Menschheit doch zur Vernunft gebracht werden soll, um Schluss mit den Kriegen, den Vergewaltigungen und der Ausbeutung wehrloser Menschen zu machen, die in ihrer Armut versinken und ersticken. Sie bat den Herrn um den Frieden in den Familien, in den Schulen und Dörfern, im Kohlerevier und in der Gesellschaft als ganzem; „stoß uns Menschen mit all den Sünden nicht von deiner Hand, halt uns fest und führe uns, auch dann, wenn wir widerspenstig sind und so tun, als hätten wir das Wissen, das wir nicht haben, aber zu eitel sind, das Nichtwissen vor dir und den Mitmenschen zu bekennen. Gib uns den Glauben und die Kraft, die uns fehlen, damit die Dinge in Ordnung kommen und die Erde ein freundlicher Platz für die Kinder, Witwen, Waisen und Gebrechlichen wird, damit die Alten sich nicht schämen müssen, wenn sie die Augen schließen.“ Ihr Gebet bewegte sein Herz, dessen Schlichtheit sich dem Format des Großen nahte, aus dem der Glaube kommt, der Zweifel nichtig wird und das Leben in der Fülle von Licht und Hoffnung neu zu schöpfen ist. Ihre Worte des Gebets gaben auch ihm neue Zuversicht und Stärke, lösten seine Zweifel an der Standfestigkeit im Glauben auf; er sah das Licht der Hoffnung mit dem violetten Kranz der tätigen Nächstenliebe vor sich, das machte ihm Mut, im Ringen um die Wahrheit und den Glauben nicht nachzulassen, den Anfechtungen und der Arroganz zu widerstehen.

      Neu in diesem Nachtgebet war, dass Luise Agnes das Wort „Familie“ häufiger als sonst gebrauchte. Es gab ihm noch mehr zu denken, als sie dieses Wort auf sich und den neben ihr liegenden Mann bezog und dem Kind einen guten Start wünschte, um dessen Beistand sie den Herrn mit einer Innigkeit bat, die ihn hellhörig machte, weil sich in ihr die Mütterlichkeit entfaltete, sich wie eine Knospe öffnete und geöffnet blieb, als Luise Agnes um den Schutz des mütterlichen Leibes bat, um das Kind in ihr durch eine ungestörte Schwangerschaft zu tragen. In ihm, dem Eckhard Hieronymus, zündete das Licht des Neuen, das Licht der Gründung einer Familie ging in ihm auf. Das konnte er so schnell nicht fassen. Er drückte die Hand seiner jungen Frau und Mutter; er hielt sie fest in seiner Hand, sah nach oben gegen die Decke, als schaute er zum Himmel, und schwieg. Nach dem gemeinsam gesprochenen Vaterunser hob er seinen Kopf über den ihren und küsste sie auf die Stirn. „Davon hast du mir nichts gesagt, meine liebe Luise“, sagte er im Flüsterton. „Du weißt um meine Scheu, wenn es um die Dinge geht, mit denen sich die Frauen abzufinden haben“, antwortete sie im gleichen Ton. „Ich habe ein Baby von dir, da brauche ich die Kraft, um es durch die Monate hindurch zu tragen, damit es ein gesundes Kind ist. Steh mir bei, du weißt, wie empfindlich junge Mütter sind“, sagte sie sanft, doch mit einer Bestimmtheit, die ihm aus ihrem Munde neu war. Sie legte beide Arme um seinen Hals und küsste seinen Mund.

      Die Nacht der Apokalypse

      Es war eine ungewöhnliche Nacht. Hatte doch Luise Agnes ihrem Mann zum ersten Mal anvertraut, dass sie schwanger war. Eckhard Hieronymus hätte es am Gesicht seiner Frau ahnen, ja ablesen können, an den Augen und den noch weicheren Zügen um den Mund. Nun wusste er es, dass der Nachwuchs unterwegs war. Da gingen ihm viele Fragen durch den Kopf, so die Frage, wie Luise Agnes die Schwangerschaft verkraften würde, denn sie führte den Haushalt allein, da für eine Hilfe das Geld fehlte. Dann kreisten seine Gedanken um die Frage, ob die kleine Dreizimmerwohnung für die Familie groß genug sei, ob er mit dem kleinen Salär die Familie unterhalten könne, ob er zur Aufbesserung des Gehalts wieder Nachhilfestunden geben solle, wie er es während des Studiums in Breslau getan hatte, um die Zimmermiete zu bezahlen und sich einen bescheidenen Aufstrich aufs Brot zu leisten. All diese Fragen, die auf eine Antwort warteten, hielten ihn vom Schlaf ab. Eckhard Hieronymus lag auf dem Rücken, die Hände über dem Brustkorb gefaltet, die Augen weit offen mit dem Blick gegen die Decke, an der ein matter Lichtstreifen stand, der von der Straße durchs Fenster einfiel. Die Zukunft hat begonnen. Die Frage war, wie die Anforderungen, von denen neue hinzukamen, zu bewältigen waren. Die Nachtgedanken verließen den familiären Bereich, genauer, sie kehrten zur Familie zurück, kreisten über ihr, fanden keine Auflösung der Fragen, schwirrten davon, durch die Zimmerdecke hindurch, oder beim Blick nach dem einfallenden Licht durchs Fenster irgendwo in den Himmel hinaus, bis sie dann doch wieder aus dem Weltall zurückkehrten und ihre Kreise über der Familie, beziehungsweise dem Schlafzimmer, genauer dem Bett mit der schlafenden Luise Agnes und dem schlaflosen Ehemann zogen. Eckhard Hieronymus hörte das ruhige Atmen seiner Frau, die in Frieden und der Verheißung eines Kindes in ihrem Mutterleib schlief; er bewunderte sie in ihrer Ausgeglichenheit und Ästhetik, wie sie lag und atmete, und erfreute sich an ihrem frischen Hautgeruch. Er liebte seine Frau und war im Grunde seines Herzens glücklich, dass er vor der Gründungspforte der Familie angekommen war.

      Dann wandte er sich auf dem Rücken liegend, die Hände über der Brust gefaltet, dem Beruf des Pastors zu. Ihm war die Prüfung wichtig, ob der Beruf voll identisch mit der Berufung war, wenn nicht, welches Ausmaß die Berufung in seinem Beruf hatte. Er strebte nach der Kongruenz der beiden. Doch wurde er von Anfechtungen befallen, die an ihm nagten, die ihn verunsicherten, so dass er sich die Kongruenzfrage täglich stellte und sie mit dem, wie er sich sah, mit der Identität seiner Person in Beziehung setzte. Ständig gab es so etwas wie eine innere oder Identitätskrise, etwas, was nicht stimmig war zwischen Beruf und Berufung, oder schlichtweg nicht stimmte, wenn er sich für glaubensfest hielt, obwohl alles im Glauben wackelte, durcheinander geriet mit der Wahrheit von Wollen und Tun. So lag Eckhard Hieronymus Dorfbrunner in der Nacht, als ihm seine Frau von ihrer Schwangerschaft, übrigens ihrer ersten, berichtete, im Bett und konnte nicht einschlafen. Er hatte die Oberlider über die Augen geschoben, weil ihn das lästige Reiben beim Lidschlag störte, von dem er sich befreien wollte. Es war nach Mitternacht, ein frischer Herbstwind zog durch das halb geöffnete Fenster, als er sich die Frage stellte, ob er den richtigen Beruf ergriffen hatte, mit anderen Worten die Frage nach der Liebe zum Beruf. Dabei tastete er seine kritischen oder Schwachstellen ab, denn in punkto Selbstkritik ging er hart gegen sich vor. Da wollte er sich nichts vormachen, was nicht war. Er erinnerte sich an bestimmte Vorlesungen und Übungen im Studienverlauf, so an das Thema: „Der Römerbrief und seine Bedeutung als Botschaft an den Menschen der Gegenwart“. Es war das Thema einer Hausarbeit im dritten Studienjahr, das ihm bei der Ausarbeitung Kopfzerbrechen und bei Rückgabe mit der unbefriedigenden Note, vollgespickten Randnotizen kritischer Art und einer niederschmetternden Beurteilung einen länger anhaltenden Kopfschmerz bereitet hatte. Ein anderes, allgemein gehaltenes Thema: „Ist der Mensch zum Glauben noch fähig?“, das für eine Klausurarbeit im vierten Studienjahr gestellt wurde, brachte ihm dagegen die Note „Vorzüglich“. So konnte die Bandbreite der Benotung nicht größer sein, in der Eckhard Hieronymus hin und her schwankte, im Ringen um die Wahrheit des Glaubens hin und her taumelte. Dieses weitgrätschige Taumeln war eigentlich nie mehr zur Ruhe gekommen, die Bewegung im kritischen Überdenken blieb heftig, teils zermürbend heftig, die Sache mit dem Zweifel hatte sich nie wieder gelegt, der Bammelfaden hatte sich nie ausgebaumelt. Er erinnerte sich an solche Fäden, an denen unten etwas angehängt war, sei es ein Kringel mit einem Tier oder Tierkopf, oder eine Glocke oder eine Weihnachtskugel, in der, wenn der Abstand stimmte, er als Kind mit der


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