Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke

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Die Dorfbrunners - Helmut Lauschke


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Kopf hinaus. Sie schaute nach oben, durch die Zimmerdecke hindurch, glaubte sich von den sich vorneigenden Armen des Querbalkens berührt. Dann senkte sie die Hände, legte sie auf die Bettdecke über die spitz gebeugten Knie, sah über die Knie hinweg, ohne einen Erdpunkt zu fixieren. Ihre Augen waren feucht, doch sollte das Salz der Tränen antrocknen, denn, so hielt sie es in der Auflösung des Nachgebets, man soll die Trauer nicht sogleich von den Augen wischen; das Gebet soll seine Wirkung tun. Es war ein volles Gebet, dass die Minute des verlängerten Schweigens doch wie eine Sekunde verstrich, und durch Luise Agnes etwas Festes fuhr, das sie in den Körper zurück steckte, wobei sie ihren Oberkörper aufrichtete, der im Gebet rundrückig eingesunken war. Sie hatte die Kommunikationshaltung der gestreckten Wirbelsäule angenommen, die in der Welt von Rede und Antwort angebracht ist, wenn es etwas zu hören, beziehungsweise zu sagen gibt, was von großer Bedeutung ist. Das einfallende Licht vom kleinen Arbeitszimmer nebenan hatte sich zu einem schmalen Spalt verdünnt, so dass es fast dunkel ums Bett der Luise Agnes und um den neben dem Bett stehenden Eckhard Hieronymus Dorfbrunner geworden ist. Die Tür hatte sich zum Schloss hin bewegt, ein sandkörniges Knirschen, dessen Ursache ein Geheimnis blieb, war zweimal zu hören; es wurde von beiden als das Fanal zur Rückkehr in die körperliche Welt mit den Räumlichkeiten des Schlafzimmers, des Bettes und der anderen Dinge verstanden mit dem Grenzübertritt aus den zeitlosen Weiten in die dunkle Enge der Nachtzeit. So begann Eckhard Hieronymus die Verse zu sprechen, als er, wie auch die im Bett aufsitzende Luise Agnes zu Schattenbildern geworden waren, deren Konturen aus den anatomischen Proportionen gerieten, sich verkürzten oder streckten, je nach dem Winkel der Betrachtung, mit dem eine Person die andere sah und zu sehen suchte.

      Er sprach langsam, holte jedes Wort wie mit einem Meißel aus der Schale: „Was aber das Götzenopfer anlangt, so haben wir ja alle das Wissen.“ Nun setzte er den Meißel an die Silben: „Das Wissen bläst auf, aber die Liebe baut auf. Wenn sich jemand dünken lässt, er wisse etwas, der weiß noch nicht, wie man erkennen soll.“ Als hätte Eckhard Hieronymus nun die Form herausgemeißelt, begann er nun an den Kanten und scharfen Ecken zu feilen, wobei er wie der Künstler ständig sein Werk von allen Seiten betrachtete und aufpasste, dass die markanten Konturen der Ausbuchtungen zu den Höhen und Tiefen nicht verloren gehen, mehr noch, nicht nur erhalten, sondern weiter ausgearbeitet werden. So fuhr er in Betrachtung der bisher ausgewirkten Form mit Hammer und Meißel in den Händen, die Lungen mit festen Zügen durchatmend, fort: „Wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt.“ Nach einer kurzen Kadenz von C-Dur nach e-Moll ging es weiter: „Von dem Essen des Götzenopfers aber wissen wir, dass kein Götze in der Welt ist (als läutete die schwere Glocke) und dass kein Gott ist als der eine.“ Dann in anderer Tonart (nach einem Quintensprung): „Und wiewohl solche sind, die Götter genannt werden, es sei im Himmel oder auf Erden, wie es ja viele und viele Herren gibt, so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von welchem alle Dinge sind und wir zu ihm; und einen Herrn, Jesus Christus, durch welchen alle Dinge sind und wir durch ihn.“ Luise Agnes hielt die Hände gefaltet auf den angewinkelten Knien; sie schaute auf die schattigen Konturen der vor dem Bett stehenden Ehemannes deshalb, weil eine Redepause eintrat, als müsste sich Eckhard Hieronymus neu sammeln, hätte sich seine Kraft verbraucht. Sein Atem ging gleichmäßig und gesetzt, so dass an seiner aufrechten Haltung nicht zu zweifeln war. Luise Agnes sah auf ihre Hände, in der Faltung der Hände das Leidensgesicht des Herrn mit der aufgedrückten Dornenkrone; sie lispelte ein kurzes Amen, das ihr M ann hörte, der im Begriff war, mit dem Aufsagen der Verse fortzufahren. „Es hat aber nicht jedermann das Wissen. „Ja, das stimmt“, bedachte Luise Agnes. Denn etliche, weil sie bisher an die Götzen gewohnt waren, essen es als Götzenopfer; damit wird das Gewissen, weil es schwach ist, befleckt.“ Wieder trat eine Pause ein. Eckhard Hier onymus wischte sich mit dem Taschentuch über den Mund, dann setzte er die Rezitation in einer anderen Molltonart fort: „Aber Speise wird uns nicht Gott wohlgefällig machen. Essen wir nicht, so werden wir darum nichts weniger sein; essen wir, so werden wir darum nicht besser sein.“ Nun ging er zum Türspalt, damit das schwache Licht der Tischlampe im Nebenraum auf die aufgeschlagene Textseite fiel, um die noch verbliebenen Verse vorzulesen, obwohl er sie auswendig aufsagen konnte, eben nicht inwendig genug, um fürs Aufsagen die nötige Sicherheit zu haben, als würde er erneut von einer Anfechtung heimgesucht, die ihn bis in die Grundfeste des Glaubens erschütterte. Nun sah Luise Agnes den Schweiß auf seinem Gesicht, den er sich mit dem Taschentuch abwischte. Es war der Schweiß des Ringens um den rechten Glauben, das ihm aus den Poren rann, mit dem er das Tuch befeuchtete. Er hielt es in der linken Hand, als er die übrigen Verse vorlas: „Sehet aber zu“, sprach er mit fester Stimme, fast hymnisch, „dass diese eure Freiheit nicht zum Anstoß für die Schwachen gerate! Denn wenn dich, der du das Wissen hast, jemand zu Tische sitzen sähe im Götzenhaus, wird nicht sein Gewissen, da er doch schwach ist, bestärkt, das Götzenopfer zu essen? Und so wird über deinem Wissen der Schwache ins Verderben kommen, der Bruder, um deswegen doch Christus gestorben ist.“ Nun hob Eckhard Hieronymus die Bibel in der rechten Hand höher, näher vors Gesicht, und höher hob er seine Stimme: „Wenn ihr aber so sündigt an den Brüdern und ihr schwaches Gewissen verletzt, so sündigt ihr an Christus. Darum, wenn die Speise meinen Bruder zur Sünde verführt, wollte ich das Fleisch nimmermehr essen, auf das ich meinen Bruder nicht verführe.“ Nach Ende der Lesung und einer knappen Schweigeminute, die ihr folgte, sprach er das Amen zur Bekräftigung, dass er die Botschaft der Wahrheit und des Heil empfangen habe, der er nichts hinzuzufügen habe, stattdessen in sein Herzen nehmen und dort weitertragen wolle. Mit einer Sekundenverschiebung sprach Luise Agnes das „Amen“ vor ihm. Dann löste sie die Hände aus der Faltung, hob sie vors Gesicht, drückte das Gesicht in die Hände und setzte in tiefer Stille die Meditation über die vorgetragenen Verse, die auch sie erschütterten, fort.

      In der Nachmeditation wurde es für Luise Agnes klar, wie schwer es sein würde, den Worten des Apostels, die so gewaltig waren, dass sie ein Beben in ihrem Herzen auslösten, noch etwas hinzuzufügen. Sie erkannte die Schwere der Herausforderung, den Geist, der aus diesen Versen sprach, in die Gegenwart hinüber, anders gesagt, in die Gegenwart hinein zu interpretieren, in eine Zeit, in der die Menschen dem äußeren Reichtum nachjagten, ihm verfielen und sich für das Wort der Besserung taub stellten, als hätten sie sich die Ohren zugestopft für die Heilsbotschaft, die allen so vonnöten wäre. Während sie im Bett aufrecht saß, die Hände vors Gesicht hielt und sich selbst auf die Glaubensfestigkeit hin prüfte, legte Eckhard Hieronymus die Bibel aufgeschlagen auf den Tisch im kleinen Arbeitszimmer zurück, legte seine Sachen über den Stuhl, löschte das Licht der kleinen Tischlampe, schloss die Tür zum Schlafzimmer, zog sich das zusammengefaltete, knielange Nachthemd über, gab seiner jungen, meditierenden Frau einen Kuss auf die Stirn und legte sich rechts von ihr ins Bett, zog sich die Decke über und wartete darauf, dass sich Luise Agnes zurücklegte, um mit ihr das Nachtgebet zu sprechen, das eine feste Einrichtung der verbindenden Gemeinsamkeit war, seitdem sie Mann und Frau waren. Es dauerte eine Zeit, bis Luise Agnes ihr Gesicht aus der Handschale nahm und ihren Kopf auf das querformatige Kopfkissen legte. „Ich danke dir“, sagte sie, tastete mit der rechten Hand nach seiner linken Hand und hielt sie fest. „Du hast gut gesprochen, es waren starke Worte.“ „Ja, es waren starke Worte“, erwiderte Eckhard Hieronymus, „so stark, dass meine Stimme an ihnen fast zerbrochen wäre.“ „Das habe ich gemerkt“, sagte Luise Agnes, „du hattest in der Mitte des Kapitels einen Kampf auszufechten, der ein schwerer Kampf gewesen sein musste. Was war geschehen?“ „Es war, wie so oft, ein Ringen um den Glauben“, antwortete er, „ich spürte meine Schwäche, fühlte mich für diese starken Wo rte viel zu schwach, ich meine, dass ich noch lange nicht reif im Glauben bin, den großen Geist, den die Worte des Apostels sprechen, über meine Zunge zu bringen. Da hatte ich das Gefühl, dass ich meinen Mund zu voll nehme, meine Zunge überlade, dass sie steckenbleibt, dass sie abbricht. Dem großen Kaliber seiner Sprache bin ich einfach nicht gewachsen. Beim Aussprechen seiner Worte wird mir schwindelig, habe ich das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen wegrutscht, dass ich jeden Augenblick stürze, umfalle, wie ein Schwächling am Boden liege.“ Luise Agnes drückte fest seine Hand, um ihm den nötigen Mut zum Glauben und Sprechen aus dem Glauben in seine Hand zu drücken. Sie lagen beide auf dem Rücken und schwiegen Hand in Hand. Dann sagte Luise Agnes, dass er es schaffen werde, wenn er den Kampf um den Glauben durchstehe, wozu er die Begabung habe. „Du darfst nicht verzweifeln, ich weiß, wie schwer es ist; ich stehe dir bei, lass mich mit dir gemeinsam um die Wahrheit ringen!“ „Danke“,


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