Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke
Читать онлайн книгу.zuwarfen, während eine ältere Frau in schwarzem Kopftuch gebückt die Erde in den schmalen, lang gezogenen Tulpen- und Vergissmeinnichtrabatten an den Wegseiten vor dem Eingang mit der Harke lockerte.
Hinter der weiß gestrichenen Kirche mit dem kurzen Spitzturm, in dem die G locke hing, die bis vor einem Jahr Walter Lehmann, der Vater von Fritz, sonntags und zu anderen festlichen und traurigen Anlässen läutete, bog der Einspänner den breiten Weg links ab. Der gescheckte Schimmel kannte offenbar den Weg, denn Fritz auf dem Kutscherbock hatte die Leine locker durchhängen lassen und dabei zum Kirchturm hoch geschaut, als sähe er den Vater die Glocke schwingen. Die Räder rollten weich und still über den gut ausgebauten Weg, dem sich von rechts ein langes Roggenfeld entgegenzog, dem der Schnitt kurz bevorstand. Links säumten hohe Birken den Weg, die sich im leichten Windstoß federnd verneigten. Hinter dem Birkenzug öffnete sich die Weite einer sattgrünen Wiese, auf der die Pferde weitläufig grasten, die Fohlen ungläubig dreinschauten, winklig umhersprangen und dabei den Stuten zwischen die Beine fuhren, um den Kontakt zum Gesäuge zu befestigen. Oberlehrer Dorfbrunner saß bedeutungsvoll steif und zurückgelehnt, fuhr mit der rechten Hand über die linke Jackenschulter, dann mit der linken Hand über die rechte Jackenschulter, um den aufgefahrenen Staub, den es auf beiden Schultern nicht gab, abzuwischen. Er mochte sich als gefahrene Hoheit gefühlt haben, die er sich vom Bildungsrang und der Lehrbedeutung ohne jeden Zweifel zubilligte. Er strich den dunkelblauen Schlips nach unten, der sich über dem Hosenbund wellte, weil das Schlipsende in der Hose steckte. Sohn August Emanuel fühlte sich weniger entspannt, saß aufrecht mit seinen unausgegorenen Gedanken neben dem Vater, sah durch die stehende Birkenreihe mit den leicht wogenden Wipfeln und Zweigen zu den weidenden Pferden auf der Wiese mit den staksig stehenden und umherspringenden Fohlen und hätte den Vater gern über das anstehende Gespräch mit dem Gutsherrn fragen wollen. Er verfolgte, wie der Vater in unregelmäßigen Abständen seinen Schlips nach unten glatt strich, mit der rechten Hand mal über das rechte, mit der linken Hand mal über das linke Hosenbein bis zum Knie fuhr, als gäbe es den Fahrtstaub abzuwischen, der nicht zu sehen war. Er blickte ihm von unten links ins P rofil, wo der vorgezogene Unterkiefer beim Geradeausblick der Augen die konzentrierte Strenge und ihm die schweigende Zurückhaltung signalisierte. So schluckte der Sohn die Frage nach seiner Zukunft runter, wie er sie aus Furcht vor seiner Strenge, die mit einer unberührbaren Unnahbarkeit gekoppelt war, schon viele Male, ohne ein Wort von sich zu geben, runtergeschluckt hatte. Stattdessen betrachtete August Emanuel den verkür zten Körperstamm des Kutschers Fritz mit dem rechts ausladenden Buckel unter seiner braunen Kutscherjacke. Bei der Betrachtung fuhren ihm verkürzte Erdgeister und verbogene Zwerge durch den Kopf, die wie Kutscher Fritz auch eine Schirmmütze aufhatten, unter der ein Auge nach außen schielte. Die kräftigen Arme und Beine der normalen Längen machten das Zerrbild der verfehlten Proportion, beziehungsweise der verfluchten Disproportion, der der Teufel im Rücken steckte, komplett, warum die Schiefheit des zusammengesackten Brustkorbs mit dem spitz hervorstechenden Buckel ein Brennpunkt der magisch anziehenden Betrachtung mit dem stets wiederkehrenden Ergebnis des magisch abstoßenden Erschauderns vor dem teuflischen Einbruch mit der menschlichen Verknickung war. Die Fahrt führte über eine kurze Schneise dur ch einen dichten Wald aus Birken, alten Buchen und Eichen. Am Ende der Waldschneise öffnete sich ein weiter Blick über satte Getreidefelder mit dem hellen wilden Rot der Mohnblüten an den Seiten. Nach der Öffnung begrenzten Holunderbäume den Weg, der durch dichten Grasbezug und den eingefahrenen Spuren sich weich den leise und geschmeidig rollenden Rädern des Einspänners unterlegte. Als nach einer Kurve das Herrenhaus zwischen alten dickstämmigen Linden und Nussbäumen zum Vorschein kam, gab Oberlehrer Dorfbrunner seinem Sohn die letzten Anweisungen für ein ordentliches Benehmen während des Gespräches mit dem jungen Gutsherrn, der den Adel in seinem Namen trug. Der Vater legte auf den letzten hundert Metern bis zum Haus die linke Hand aufs rechte Knie des Sohnes August Emanuel. Er tat es väterlich rücksichtsvoll, um dem Sohn die Erregung vor dem Unbekannten zu dämpfen. „Mach ein freundliches Gesicht und sprich nur, wenn du gefragt wirst“, sagte ihm der Vater, als der Einspänner den weiten Vorplatz erreichte, der von den riesigen Bäumen gesäumt war. Kutscher Fritz hielt die Leine locker in der linken Hand, während der gescheckte Schimmel den Wagen weich und ohne Kratzgeräusch der eisernen Radbänder die letzten Meter auf das Hauptportal zu zog. Sein leichtes Schnaufen signalisierte, das Ziel erreicht zu haben, als er mit dem Wagen vor dem breiten Treppenaufgang anhielt, wozu Kutscher Fritz mit einem langgezogenen „Brrr“ das Anhaltkommando gegeben hatte. Er schlug das Leinenende einige Male um die Haltestange neben dem Bock, stieg vom Wagen herunter, wandte sich dem Oberlehrer Dorfbrunner und seinem Sohn zu, wobei er, wenn er sie mit dem rechten Auge fixierte, mit dem linken Auge an ihnen vorbeisah. Er zog die braune Schirmmütze vom Kopf, hielt sie am abgegriffenen Schirm vor die zugeknöpfte Fahrerjacke über seine verkürzte Schiefbrust mit dem rechten Spitzbuckel am Rücken, setzte die braunen, mit Lederriemen verschnürte Schuhe zusammen, deren Schaft die Knöchel bedeckte, und wünschte dem Oberlehrer einen guten Tag, wobei er auch diesmal den Oberlehrer wörtlich erwähnte. Herr Dorfbrunner stand noch im Wagen und neben ihm sein Sohn, als Kutscher Fritz die Achtungsposition mit vorgehaltener Mütze einnahm. Erst der Vater, dann der Sohn, so stiegen sie rückwärts die zwei Stufen vom Wagen herunter. Sie passierten den achtungsbemühten Kutscher Fritz, der durch seine verkürzte Schiefbrust mit dem Rückenbuckel und dem daraus resultierenden Jackenschiefsitz wie ein gealterter Gnom wirkte. Hinzu kam sein Schielfehler, dass er im Seitwärtsstand und nach vorn gerichtetem Gesicht mit dem linken Auge praktisch um die Ecke in die Gesichter der vom Wagen Gestiegenen und ihm Entgegenkommenden blickte, während das rechte Auge im Geradeausblick nur kurz die Profile streifte, als der Oberlehrer Dorfbrunner und sein Sohn vor seiner Nase vorbeigingen. „Auch ich wünsche dir alles Gute, Fritz!“, war der Rückgruß des Oberlehrers, als er an ihm vorüberging. Sohn August Emanuel folgte dem Vater in zwei Meter Abstand, der dem Kutscher Fritz wegen des Schielfehlers ins Gesicht sah, dabei an den eigenen dachte, der trotz Operation in der Leipziger Uni-Klinik nicht völlig behoben war. August Emanuel, dem die Hosen zu lang waren, obwohl die Mutter den Bund am Hosenträger schon höher gezogen hatte, war zu aufgeregt, als dass er ein Wort herausbrachte. Er folgte schweigend und mit linkischem Schritt dem Vater, der bereits auf der ersten Treppenstufe stand, sich nach dem Sohn und dem Weitblick über das fruchtbare Land umdrehte. „Ist das nicht ein herrlicher Blick, so viel Land mit dem voll stehenden Roggen und Weizen und den grünen Wiesen?“, fragte er den Sohn, der sich auf die zweite Stufe stellte, drehte und nach den weidenden Pferden mit den jungen Fohlen Ausschau hielt.
Sie gingen die Stufen hinauf, Sohn August Emanuel links vom Vater, und hatten die letzte der sieben Stufen noch nicht erreicht, als sich die breite, matt glänzende Rotbuchentür mit dem eingeschnitzten Wappen von Widderkopf und Adler vor gekreuzten Schwertern, dem Familienzeichen der von Wittkopfs, öffnete und der junge Gutsherr ihnen in grüner, abgetragener Jagduniform und braunen wadenhohen Stiefeln entgegentrat. „Guten Morgen, Herr Dorfbrunner! Ich hoffe, Sie hatten eine gute Fahrt. Sie sehen, dass wir in diesem Jahr einer guten Ernte entgegengehen, wenn uns das Wetter nicht vorzeitig dazwischenfährt.“ Er gab Vater und Sohn vor der weit geöffneten Tür die Hand und rief dem unten stehenden Kutscher Fritz, der die Mütze wieder aufgesetzt hatte, vor dem Wagen stand und auf Weisung wartete, zu, dass er den Schimmel ausspannen und zum Stall bringen könne. Oberlehrer Dorfbrunner, der noch die Hand des jungen Gutsherrn hielt, ihm einen guten Morgen wünschte, stellte bei der Begrüßung den Sohn August Emanuel vor, der verschüchtert blassgesichtig dastand und die Begrüßungszeremonie mit dem Fremdgefühl des Unbehagens verfolgte. Herr von Wittkopf gab ihm mit den Worten die Hand: „dann bist du der August Dorfbrunner, ein Sohn des Oberlehrers.“ „Ja, das bin ich“, sagte der Junge eher unbeholfen, der nicht mehr weit von seinem 15. Geburtstag entfernt war. Da ihm der Gutsherr nur beiläufig ins Gesicht sah, war es möglich, dass ihm der zurückgebliebene Schielfehler des rechten Auges entgangen war, zumal er etwas rechts seitlich gedreht vor Herrn von Wittkopf stand, als er ihm die Hand reichte. „Kommen sie doch rein“, und er ging den Dorfbrunners voraus, führte sie durch einen breiten Flur, dessen Wände mit geweihtragenden Jagdtrophäen vollgehängt waren. Am Ende des Flures siegreicher Jagden, dessen gefülltes Panoptikum wegen der Vielzahl die Jagderfolge des Vaters, wenn nicht auch des Großvaters einschloss, öffnete der Gutsherr den klinkentragenden Flügel einer ebenfalls breiten Tür aus Rotbuche mit unterschiedlich groß ausgewirkten Karrees zwischen tiefer eingeschnitzten Hoch- und Querfugen. Die Zapfen quietschten beim Drehen die Trockenheit des hohen Alters