Die Dorfbrunners. Helmut Lauschke
Читать онлайн книгу.der Dorfbrunners und dritter Sohn des Dorfschullehrers Julius Martinus Dorfbrunner in Pommern in der Oberlausitz, dem Oberlehrer nach Glaubenswechsel mit der beurkundeten Gefolgschaftsaufkündigung der Wittenberger Thesen des Reformators Dr. Martin Luther, war mit einem Augenfehler im Sinne des Einwärtsschielens zur Welt gekommen. Es bekümmerte den Vater sehr, der sich durch das Hänseln und den Spott der anderen Kinder persönlich gekränkt fühlte. Er suchte mit seinem schielenden Sohn mehrere Ärzte in Bautzen, in Hoyerswerda, dann in Dresden auf, die ihm nicht helfen konnten. Er machte mit dem kleinen Gehalt eine größere Reise nach Leipzig, weil ihm versprochen wurde, dass da an der Universität die Augenspezialisten mit der erforderlichen Einrichtung seien, um den Augenfehler des Sohnes durch eine Operation zu beheben und dem Schielen ein Ende zu setzen. Der Sohn wurde operiert und blieb zur Beobachtung zwei Wochen in der Universitätsklinik, so dass sich der Vater für diese Zeit in einer Pension einquartierte. Die Kosten waren höher als erwartet, so dass er die Verwaltung um eine Ratenzahlung bat, die ihm nicht nur diese Art der Begleichung zugestand, sondern ihm für die Bezahlung über die Hälfte der Kosten erließ. So kehrte der Oberlehrer mit seinem Sohn nach neuntägiger Fahrt mit der zweispännigen Postkutsche und acht Übernachtungen in kleinen Pensionen an der Straße und Scheunen etwas abgelegener Bauernhöfe nach Pommern in der Oberlausitz zurück. Er zahlte den Kutscher buchstäblich mit dem letzten Taler, der ihm schon einen Vorzugspreis gewährte.
Der Abschluss der achten Klasse in einer Grundschule der Kreisstadt Bautzen war bei August Emanuel Dorfbrunner weniger erfolgreich als bei seinen älteren Brüdern Claudius Markus und Matthias Johannes, die bereits das Gymnasium in der Kreisstadt besuchten und dort mit ihren Leistungen zum guten Durchschnitt zählten. Der Vater wog mit pädagogischer Genauigkeit die Begabungen seines dritten Sohnes ab, fand dabei heraus, dass sie mehr den Händen als dem Kopf zusprachen, und beschloss, ihn den Beruf seiner Vorfahren, den Brunnenbau erlernen zu lassen. Die Bodenkenntnisse, die für diesen Beruf erforderlich waren, sollte er in einem praktischen Jahr der landwirtschaftlichen Arbeit auf einem Gut erwerben, das sich ans Dorf Pommern anschloss. Es war ein Herrengut mit weitläufigen Feldern, Wäldern mit Birken, Buchen, Linden und Fichten, dem das Dorf als kleine Wohneinheit vorgelagert war. Viele der Dorfbewohner hatten sich zur Feldarbeit auf dem G ut verdingt und bestritten das Leben ihrer Familien mit dem bescheidenen Einkommen, das ihnen der Gutsherr zugestand, der den Adel im Namen führte gleich unterhalb eines Grafen, dessen Grafschaft sich weit über das Land erstreckte, der auch die Kreisstadt zugehörte. Der Gutsherr führte zu seinen reichen Erträgen aus der Bewirtschaftung des guten Bodens noch ein Gestüt, das einen renommierten Namen hatte, der bis nach Dresden reichte und seit langem in den kurfürstlichen Ohren einen guten Klang erzeugte.
Der Vater machte sich mit seinem dritten Sohn an einem Mittwochmorgen, für den er den Schulkindern nach Rücksprache mit seinem Vorgesetzten einen schulfreien Tag gegeben hat, auf den Weg zum Gutsherrn, mit dem er einen Besprechungstermin für diesen Tag vereinbart hatte. Der G utsherr mit dem Adel im Namen schickte dem Oberlehrer, Julius Martinus Dorfbrunner, aus diesem Grunde früh genug den offenen Einspänner vors Nebengebäude des Schulhauses, in dem der Lehrer mit seiner Familie residierte. Vater und Sohn hatten sich sonntäglich angezogen. Frau Dorfbrunner hatte beiden tags zuvor die Haare geschnitten, fehlende Knöpfe an den weißen Hemden angenäht, Hemden und Anzüge mit dem schweren Dampfeisen gebügelt und die Sachen mit den passenden, dunkelblauen Schlipsen und den schwarzen Socken auf den Stühlen zurechtgelegt, während der Sohn am Abend vorher seine und des Vaters schwarze Schuhe auf Hochglanz polierte.
Der Kutscher Fritz Lehmann, der den Lehrer Dorfbrunner zwecks Nachhilfeunterricht schon etliche Male zum Herrenhaus gefahren hatte, wartete draußen vor dem Schulhaus, wischte mit einem gelben Wolllappen den Staub von der gepolsterten Sitzbank und Rückenlehne und schlug dann mit demselben Lappen den Staub aus dem rechten und linken Einstieg vom Boden vor der Sitzbank. Der Kutscher Fritz nahm die Kutschermütze vom Kopf, als der Oberlehrer Dorfbrunner und sein Sohn August Emanuel aus der Türe des Nebengebäudes traten und auf den offenen Einspänner zugingen. Herr Dorfbrunner, dem die Disziplin im Blute war, freute sich über das Benehmen mit der ihm entgegengebrachten Achtung als Oberlehrer des Dorfes. Er sah Fritz mit freundlichen Augen in das arglos gutmütige Gesicht und wünschte ihm einen guten Morgen. Mit zusammengestellten, verstaubten, dunkelbraunen Schuhen mit knöchelhohem Schaft, die mit ledernen Schnürriemen geschlossen waren, denen eine saubere Riemenschleife aufgesetzt war, grüßte Fritz zurück, wobei er zur Begrüßung die Worte „Herr Oberlehrer“ gebrauchte und dabei die Kutschermütze am abgegriffenen Schirm vor die zugeknöpfte braune Jacke seiner verkürzten Schiefbrust mit der verkrümmten Brustwirbelsäule und dem nach hinten rechts ausladenden Knick nach einer durchgemachten Tuberkulose als Kind hielt. Das alles entging dem Oberlehrer Dorfbrunner nicht, dem bei der Begrüßung ins Gesicht auch der schielende Auswärtsblick des linken Auges nicht entging. Der Oberlehrer kannte den Kutscher Fritz von Kindheitsbeinen an, der als gewöhnlicher Feldarbeiter auf dem Gut angefangen, sich nach vielen J ahren zum Kutscher des Vaters des derzeitigen Gutsherrn hochgearbeitet hatte und die gehobene Stellung beim jungen Gutsherrn beibehielt. Herr Dorfbrunner kannte auch die Eltern von Fritz Lehmann sowie seinen jüngeren Bruder Oswald und seine ältere Schwester Emilie, die zusammen ein kleines Haus am Dorfende bewohnten, das vom Dorfbrunnerschen Haus keine fünfhundert Meter entfernt war und sich trotz der Putzschäden über dem Eingang und den beiden Fenstern an der Ostfront und anderen baulichen Alterungserscheinungen durch sein gepflegtes Äußeres und den stets gehegten Gemüsegarten von den anderen Häusern unterschied. Walter Lehmann, der Vater von Kutscher Fritz, war bis kurz vor seinem Tode in der Kirchenarbeit tätig, sorgte für die Sauberhaltung, erledigte selbst kleinere Reparaturen wie die Auswechselung eines Haupttürschlosses nach abgebrochenem Schlüssel, dessen steckengebliebener Teil mit dem Schlüsselbart nicht aus dem alten Schloss herauszuholen war. Vater Lehmann läutete die Kirchenglocke zu den Gottesdiensten, den Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen; ihm oblag die Führung des Taufregisters, in das er mit größter Sorgfalt und pedantisch ausgeführter Schönschrift seine Eintragungen machte und das Register wie den eigenen Augapfel hütete. Oswald, sein Sohn, war mit siebzehn auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen. Tochter Emilie blieb unverheiratet und im Dorf, sie lebte nach dem Tode des Vaters mit der Mutter zusammen, die seit Jahren an asthmatischen Hustenanfällen litt, bei einem Anfall von der Stufe stürzte und sich das rechte Handgelenk brach, das der Hausarzt in den ersten Wochen übersah, so dass das Gelenk in Bajonettstellung schief verheilte.
Fritz setzte die Kutschermütze auf, nahm dem Pferd den Hafersack ab, strich ihm über den Nasenrücken, fuhr ihm sanft über die linke Nüster und hob sich auf den Kutschersitz. Der Oberlehrer Dorfbrunner und sein Sohn August Emanuel hatten auf der gepolsterten Sitzbank Platz genommen und sich zurückgelehnt. Als Fritz die Zügel in die Hand nahm, setzte sich der gescheckte Schimmel in B ewegung und zog den Einspänner vom Vorplatz der Schule, ohne dass Fritz das Kommando sprach. Die schmiedeeisernen Radbänder knirschten durch den grobkörnigen Sand oder schlugen hart gegen größere Granitbrocken, die zur Befestigung in den Boden versenkt wurden. August Emanuel sah, bevor der Einspänner den Platz verließ, noch einmal zum Haus zurück. Er sah die Mutter im Eingang stehen, war von ihr gerührt, wie sie mit leicht erhobener rechter Hand nachwinkte, um dem Sohn Glück zu wünschen und ihrem Mann, dem Oberlehrer, Talent beim Gespräch mit der nötigen Geduld im Zuhören. Denn, wie bei vielen Lehrern jener Zeit, war es mit dem Zuhören nicht immer zum besten bestellt, als wäre ihnen das Zuhören wie ein altes Notizbuch aus der Tasche gefallen, das Mehrsagen auf den Leib geschrieben und das letzte Wort von innen ans Stirnbein gemeißelt. Kutscher Fritz saß mit dem verkürzten Oberkörper wie ein Zwerg auf dem Fahrerbock, dem der rechte Rückenbuckel durch die zugeknöpfte Kutscherjacke drückte. Im Geradeausblick hielt er die Zügel locker in der linken Hand. Der Oberlehrer Dorfbrunner ließ sich das Grüßen der entgegenkommenden Erwachsenen und winkenden Kinder gern gefallen, das er von oben mit nickendem Kopf majestätisch erwiderte. Dabei fuhren seine Lippen mit einem Brummlaut unentschieden hin und her, ohne dass ein Wort der Bestimmtheit, der ausgesprochenen Begrüßung über seine Lippen kam. So knirschten und schlugen die Räder, holperte der Einspänner durchs Dorf, dass die sitzenden Körper auf der Polsterbank auf und ab wippten und die Köpfe auf den gestreckten Hälsen in alle Richtungen wackelten. Sie kamen an der Kirche vorbei, in der einst der Reformator das Wort hatte. In der Kirche selbst hatte sich nach der Wendung des sächsischen Kurfürsten zum katholischen Glauben so gut wie nichts verändert. So wurde der Beichtstuhl