Der Mord bleibt ungesühnt. Walter Brendel

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Der Mord bleibt ungesühnt - Walter Brendel


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Verehrung, in Europa kommt ihr nur die spanische Bürgerkriegsheldin Dolores Ibarruri, genannt "La Pasionaria", gleich, die in Spanien Kultstatus genießt und mit 93 Jahren einen friedlichen Tod starb. Rosa Luxemburg aber ist durch die Ermordung zur Märtyrerin geworden, wie Ché Guevara dank seines gewaltsamen Todes in Bolivien zum Märtyrer wurde.

      Sie war vieles, was man zu ihrer Zeit besser nicht war: eine Revolutionärin, als Frauen noch nicht das Wahlrecht besaßen; eine Polin, als Polen geteilt war; eine Jüdin zu Zeiten wiederkehrender Pogrome; zusätzlich hinkte sie, weil das eine Bein nach einem frühen Hüftleiden kürzer geriet als das andere.

      Rozalia Luksenburg, so hieß sie ursprünglich, stammte aus einer jüdischen Familie, in der man Polnisch sprach und Jiddisch fluchte. Ihr erstes Pogrom erlebte sie 1881 in Warschau, da war sie zehn Jahre alt. Das Gymnasium durfte sie besuchen, weil sie den Numerus clausus erfüllte, der den Anteil jüdischer Schüler begrenzte.

      Als sie 1888 studieren wollte, musste sie ihr Land verlassen. Frauen waren an den polnischen Universitäten nicht zugelassen, und überdies suchte die zaristische Geheimpolizei nach ihr. Polen war, eine stete Demütigung für den romantischen Nationalismus dieses Landes, zwischen Österreich, Preußen und Russland geteilt. Warschau gehörte zum Beutegut des Zarenreiches - und die berüchtigte Polizei Alexanders III. jagte die junge Sozialistin. Rozalia hatte sich einer Gruppe um den Dachdecker Marcin Kasprzak angeschlossen, die eine sozialdemokratische Partei nach deutschem Vorbild aufbauen wollte und vom friedlichen Zusammenleben der Völker träumte.

      Kasprzak organisierte ihre Flucht. Einem katholischen Pfarrer erzählte er, die junge Frau sei vom tiefen Wunsch beseelt, zum Christentum überzutreten, gegen den Willen ihrer Eltern. Der Kirchenmann schmuggelte sie versteckt im Stroh seines Fuhrwerks

      über die Grenze nach Westen.

      Die 18jährige ging nach Zürich, dem Sammelplatz für sozialistische Emigranten vornehmlich aus Deutschland und Russland. Sie agitierte für den "Sturz des Zarentums".

      Nebenbei studierte sie Staatswissenschaften an der Zürcher Universität. Sie war 22 Jahre alt, als sie mit ihrem Freund Leo Jogiches, einem introvertierten Unternehmersohn aus Wilna, und Adolf Warszawski, dem Ehemann einer Schulkameradin, die "Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen (SDKPiL)" aus der Taufe hob. Der jungen, schwungvollen Frau oblag es bald, die Parteizeitung herauszugeben.

      Die SDKPiL gehörte in die Reihe linksdoktrinärer Politsekten, die in der Emigration aus dem Boden schossen. So ziemlich sämtliche Gründungsmitglieder fanden später Aufnahme ins Pantheon des Welt-Kommunismus: Felix Dserschinski rief die sowjetische Terrorpolizei Tscheka ins Leben, den Vorläufer des KGB, Warszawski war bis in die dreißiger Jahre Vorsitzender der polnischen KP, Luxemburg und Jogiches riefen in den Wirren der Nachkriegszeit 1918 die KPD aus.

      Unter den Emigranten galt Rosa Luxemburg als brillante Theoretikerin. Die kleine, charismatische Frau mit dem großen Kopf und den leuchtend schönen Augen zog die Menschen wie ein Magnet an.

      Über den ersten Auftritt der damals 22 Jahre alten Studentin auf einem internationalen Arbeiterkongress 1893 berichtete später Karl Kautsky, die theoretische Eminenz der SPD, dass die junge Frau "begeisterte Zustimmung, ja schwärmerische Bewunderung derjenigen gewann, deren Sache sie vertrat". Er berichtete aber auch vom "bittersten Hass derjenigen, gegen die sie den Kampf aufnahm". Zeit ihres Lebens löste sie diese extremen Gefühle aus.

      Für eine leidenschaftliche Sozialistin, die um die Jahrhundertwende die Revolution vorantreiben wollte, war Deutschland der Mittelpunkt der Welt. Keine europäische Partei konnte sich mit der SPD messen.

      Um einen deutschen Pass zu erhalten, ging sie eine Scheinehe mit dem Schriftsetzer Gustav Lübeck ein. Die beiden sahen sich nach der standesamtlichen Trauung in Basel erst fünf Jahre später wieder, bei der Scheidung.

      Am 16. Mai 1898 traf Luxemburg um 6.30 Uhr morgens mit dem Schnellzug in Berlin ein. Sie mochte weder die Metropole Preußens, die vor Vitalität und Selbstbewusstsein förmlich explodierte, noch die Deutschen, die Kaiser Wilhelm II. zujubelten und dem Imperialismus anhingen. "Ich hasse sie aus ganzer Seele", schrieb sie an Jogiches, "es soll sie der Schlag treffen."

      Luxemburg nahm sich ein Zimmer am Tiergarten, sie lernte das Wahlhandbuch der SPD auswendig und kreuzte in der Parteizentrale in der Katzbachstraße auf, wo Wahlkampfhektik herrschte, denn am 16. Juni 1898 standen Reichstagswahlen an.

      Im Wilhelminischen Reich lebten am Ausgang des 19. Jahrhunderts 3,5 Millionen Polen; unter ihnen wollte Luxemburg für die SPD und die Weltrevolution werben. Ihre Wahlkampftournee durch Schlesien geriet zum Triumphzug.

      Sie schrieb Artikel für den "Vorwärts", das Kampfblatt der frühen SPD, und für die "Neue Zeit", das Theorie-Organ der Partei. Mehr als Journalistin denn als Politikerin nahm sie teil an der großen theoretischen Debatte, ob der gesellschaftliche Fortschritt in Deutschland besser mit einer Reform oder einer Revolution herbeizuführen sei, die die SPD auf Jahrzehnte beseelte und zugleich lähmte.

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      Trauerzug für Luxemburg und Liebknecht: Diese Aufnahme von der Beisetzung des ermordetem KPD- Führers Karl Liebknecht und anderer Opfer des Spartakus-Aufstandes wurde auch als Postkarte verbreitet. Die sterblichen Überreste von Liebknechts Mitstreiterin Rosa Luxemburgs wurden erst am 1. Juni 1919, fast ein halbes Jahr nach der Tat, aus dem Landwehrkanal geborgen

      Eduard Bernstein, ein ehemaliger Angestellter des Bankhauses Rothschild in Berlin,

      hielt den Kapitalismus für reformfähig und die Weltrevolution für eine Chimäre. Sein

      Widerpart war Karl Kautsky, der Lordsiegelbewahrer der reinen Lehre. Ihm zur Seite

      trat Luxemburg, die Bernstein "vulgärökonomische Schnitzer" vorwarf und ihn am liebsten aus der Partei geworfen hätte.

      Die Revisionismusdebatte machte Luxemburg berühmt und zu einer Wortführerin der Parteilinken. Autogrammjäger umlagerten sie auf den Parteitagen, sie werde, berichtete sie stolz ihrem Geliebten Jogiches, "die Göttliche" genannt. Die Pressekommission der SPD machte sie zur Chefredakteurin der "Sächsischen Arbeiterzeitung".

      Keiner Frau vor ihr, keiner nach ihr wurde diese Ehre zuteil.

      Als die bundesdeutsche Frauenbewegung 70 Jahre später nach Vorbildern in der Geschichte suchte, stieß sie zwangsläufig auf die Journalistin, Theoretikerin und Revolutionärin Luxemburg. Sie behauptete sich in der patriarchalischen SPD, sie war

      emanzipiert, führte ein freies Liebesleben, einer ihrer Männer war 15 Jahre jünger als

      sie. Von schieren Frauenthemen hielt sie jedoch wenig, sie lästerte im Gegenteil über

      die Treffen "dieser Glucken", wie sie die Zusammenkünfte der Suffragetten nannte.

      Ganz kleinbürgerlich träumte sie, die weitgehend vom Geld ihrer Männer lebte, von einem geordneten Leben ohne Politik in einer Wohnung mit "hübschen Möbeln", Ferien auf dem Lande und "dazu ein kleines, klitzekleines Würmchen", wie sie an Jogiches schrieb, dem die Revolution erheblich wichtiger war als das kleine private Glück.

      Die Briefe Luxemburgs mit teils poetischen, teils kitschigen Passagen zählen zu den

      Juwelen der romantischen Briefliteratur aus dem Geiste des Sozialismus. Späte Bewunderer stilisierten Luxemburg zu einer Heroine der Menschlichkeit, weil sie solche Sätze niederschrieb wie: "Mir ist der Friede und der einfache Wunsch jedes anderen Menschen ein Heiligtum, vor dem ich lieber zusammenbreche, als es roh anzutasten."

      In ihren moralisierenden Herzensergüssen rückte sie Hedwig Courths-Mahler nahe: "Gut sein ist die Hauptsache! Einfach und schlicht gut sein."

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      Rosa Luxemburg auf einem SPD-Parteitag: Die spätere Mitbegründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) forderte im sogenannten Revisionismusstreit, der um die Wende zum 20. Jahrhundert unter den Sozialdemokraten tobte, mit harten Formulierungen die Ächtung des pragmatischen Parteigranden


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