Jenseits des Tweed. Theodor Fontane

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Jenseits des Tweed - Theodor Fontane


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hier vollkommen steil. Schwindelnd sah ich aus dem Fenster in die Tiefe hinunter. Die Königin muß starke Nerven gehabt haben, daß sie nicht vor dem Gedanken erschrak, ihr Kind diese grauenhafte Luftreise machen zu lassen. Daß der junge Prinz sie glücklich machte und wohlbehalten unten ankam, mag nachträglich wie ein Zeichen gedeutet werden, daß er, im Gegensatz zu den Geschicken seiner Familie, in der von jeher ein früher und unnatürlicher Tod die Regel war, bestimmt war, zu leben.

      Ich habe Edinburg-Castle mehrfach mit dem Tower verglichen und es gegen den letzteren zurückgestellt. Gewiß mit Recht. Aber eines hat es voraus, das ist die Schönheit seiner Lage. Auch vom Tower, zumal von den kleinen Ecktürmchen des White Towers aus, genießt man einer reizenden Aussicht auf die City, das Themsetreiben und die gegenüberliegenden Surrey-Ufer, aber auch der eingefleischteste »Cockney« – und wäre er aus dem vorschriftsmäßigen Bezirk, innerhalb dessen man die Glocken von Bow-Church hört – würde schwerlich den Mut haben, die Toweraussicht mit jenem Panorama zu vergleichen, daß man von Edinburg-Castle aus vor Augen hat. Zur Rechten stehen der Calton-Hill und die Salisbury-Crags wie ein paar Wächter unmittelbar vor den Toren der Stadt, linkshin dehnt sich eine lachende Landschaft aus; unten, den Fuß des Hügels mit einer Kurve fast umschreibend, ziehen sich die Linien der Glasgow-Eisenbahn, vor uns aber steigt die Neustadt mit ihren Plätzen und Palästen, mit ihren Kirchen und Statuen auf, bis endlich die dünner werdenden Linien sich in Villen und Gärten und freies Feld verlieren. An klaren Tagen wächst der Zauber dieses Bildes mit der Ausdehnung und dem Reichtum der Landschaft. Dann sehen wir jenseits der Gärten und Felder den blauen Wasserstreifen des Firth of Forth, die kleinen Felseninseln darin und blicken selbst über das blaue Band hinfort bis weit in die fruchtbaren und erinnerungsreichen Täler der Grafschaft Fife hinein.

      Wir standen auf der Halbmondbatterie und freuten uns des herrlichen Anblicks; Freund B., wie gewöhnlich, nahm sein Skizzenbuch aus der Tasche, um, seinem Gedächtnis bescheiden mißtrauend, das schöne Bild in Linien und Strichen festzuhalten. Neben uns, auf dem Wallrand, stand ein schottischer Matrose, ein altes Inventarstück des Schlosses, der an Königin-Geburtstag etc. die Salutschüsse abzufeuern hat, und sah von Zeit zu Zeit neugierig in das Skizzenbuch, drin allmählich ein niedliches Bildchen entstand. Als die Sache halb getan war, marschierte vom andern Ende der Bastion her eine Schildwacht auf uns zu, um uns, nachdem sie vorher mit andern Milizsoldaten, die harmlos umherlungerten, ein Gespräch gehabt hatte, das Zeichnen zu untersagen. »Dergleichen sei verboten«. Der Unverstand lag klar zutage; gewöhnt aber, gegen Schildwachtsermahnungen keine lange Opposition zu machen, klappte Freund B. sein Buch zu und schickte sich an, den Platz zu räumen. Nur der alte Matrose war indigniert. Nonsense! diese »young hands« (etwa soviel wie unser »diese Gelbschnäbel«) sind kaum zwei Stunden hier und wollen Ordres geben; Unsinn, wissen nichts vom Dienst etc. Das Komische war, daß sein schottischer Patriotismus diese Southrons wie Eindringlinge, wie Feinde behandelte, als ob ein Königreich Großbritannien gar nicht existiere und das siegreiche England nur wieder mal erschienen sei, um eine Besatzung in die eroberte schottische Hauptstadt zu legen. Diesem Gefühl eines Gegensatzes zwischen Sieger und Besiegten bin ich auf meinen Wanderungen durch Schottland außerordentlich oft begegnet. Die Engländer kennen diesen Spezialpatriotismus ihres nördlichen Nachbarn sehr wohl und lachen darüber; die Schotten aber, anstatt einzustimmen in die Heiterkeit, werden durch die gute Laune der Southrons (in die sich allerdings ein gut Teil Überlegenheit mischt) nur noch gereizter in ihrem Gefühl.

      Unsrem Matrosen indes war ein völliger Triumph über die »young hands« vorbehalten. Gleich nachdem wir die Bastion verlassen hatten, wandten wir uns an den wachthabenden Offizier, der eben von Posten zu Posten ging, um den ziemlich verlegen dreinschauenden Milizen die »Instruktion für Edinburg-Castle« vorzulesen. Das war just unser Mann. Auf unsre Beschwerde antwortete er mit vieler Artigkeit, daß er selber nicht wisse, was erlaubt und verboten sei, daß er indes höheren Orts anfragen und uns den Bescheid in wenigen Minuten zugehen lassen werde. Er kam dann selbst, um uns sein Bedauern auszusprechen, daß wir unter dem mißverstandenen Diensteifer der Schildwacht zu leiden gehabt hätten. Das Regiment käme von Dover, wo sie bis jetzt in Garnison gewesen wären; die Schildwacht habe ohne Not die strengen Instruktionen von Dover-Castle auf Edinburg-Castle übertragen. Dieser kleine Vorfall interessierte uns nach mehr denn einer Seite hin, besonders auch deshalb, weil also, den Worten des Offiziers nach zu schließen, in betreff der Kanal-Befestigungen »strengere Instruktionen« vorzuliegen scheinen als mit Rücksicht auf den minder exponierten Norden. Daß es übrigens hinsichtlich der Festungen an beiden Seiten des Kanals noch irgend etwas zu verraten geben sollte, darf billig bezweifelt werden. Ich glaube, man kennt Dover-Castle in Paris so gut wie in London.

      Wir nahmen jetzt unseren Stand auf der Halbmondbatterie wieder ein; die arme Schildwacht schlich verlegen um uns her, bis wir sie durch einige Gemütlichkeitsfragen von unsrer versöhnlichen Gesinnung überzeugt hatten. Die Skizze war längst beendet, als wir noch immer an der Brüstung standen und, hinausschauend, das zauberhafte Bild vor uns in seiner stets wechselnden Beleuchtung auf uns wirken ließen. Endlich rollten die Abendnebel langsam vom Meere aus auf die Stadt zu; immer dichter legten sich die Schleier über Land und Stadt, bis diese endlich, schwarz in grau, wie ein Schatten im Schatten verschwand.

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