Der Fremde - Lich, 19. Januar 2022. Stefan Koenig

Читать онлайн книгу.

Der Fremde - Lich, 19. Januar 2022 - Stefan Koenig


Скачать книгу
wir schieben Wache wegen jenem Fremden, der sich in der Vernehmung mit dem Namen »Niko Lamor« vorstellte. Sie, verehrte Frau Meier und alle anderen Leserinnen, kennen ihn und seinen angeblichen Zwillingsbruder, Okin Ramol, bereits aus meinem Bericht »Sturm über Lich – 2022«. Aber jetzt erinnert mich Ben gerade an diesen herrlichen Vorweihnachtsmarkt in Laubach namens »Winterzauber«. Und er erinnert mich eben just an dieses Gespräch mit Ihnen, Frau Meier – jenes Gespräch über den Unterschied zwischen Taschenspielertricks und wahrer Magie.

      „Mir scheint es ein Jahrhundert her, dass wir dieses zauberhafte Event genießen durften – vorbei der Duft der Stollenspezialitäten aus dem Erzgebirge, der Lebkuchen und der gefüllten Spitzen aus der fernen Bäckerei und Konditorei. Vorbei die Zeit des leckeren finnischen Flammlachses, der frisch über dem Buchenholz geflammt wird. Ich glaube, es ist für immer vorbei, mein Freund …“ Dabei schaut mich Ben traurig an.

      „Jedenfalls wäre jetzt ein wärmender Punsch äußerst hilfreich“, antworte ich Ben – und nur für mich denke ich: Oder wäre selbst das jetzt nichts weiter als billige Magie? Ein wärmender Punsch statt der Befreiung von all der Last der letzten Tage?

      „Es scheint, als sei uns ein solcher »Winterzauber« in unserem ganzen Leben nicht mehr vergönnt, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts“, sagt Benjamin.

      Bis auf eine Wachmannschaft von zehn Leuten sind alle schlafen gegangen. Auch Frau Meier und alle anderen Leserinnen meines Thrillers „Freie Republik Lich – 2023“ schlafen jetzt tief und fest. Ben und ich haben angeboten, Wache zu schieben, obwohl wir bereits 24 Stunden auf den Beinen sind – aber jeder von uns hat vor einer Stunde einen Energy-Drink zu sich genommen, und so fühlen wir uns jetzt recht fit.

      Wir sitzen im Untergeschoss in einer Couch-Sitzgruppe, die im Eingangsbereich der großen Schlafräume steht. In der Sitzecke läuft mit leiser Lautstärke ein kleiner Fernseher, in dem es zum x-ten Mal um das Unwetter geht. Außer, dass sich der Sturm noch einmal steigern wird, erzählen uns die Wetterfrösche nichts Neues. Wir schalten innerlich ab, schauen aber dennoch zum TV hin, während wir uns unterhalten – eine unschöne Angewohnheit. Aber Sie kennen das gewiss: Ein laufender Fernsehapparat nimmt einen gefangen; ob man will oder nicht, man schaut immer wieder zum Bild. Nur wenn man das Gerät abschaltet, hat man wieder einen freien Blick zum Gesprächspartner.

      Ben interessiert sich für meine Diskussion mit jener Frau Meier und ich schildere ihm, wie es weiterging, als ich ihr im Herbst im Kunkel-Café im RUWE-Markt begegnet war.

      „Wir haben nicht groß herumdiskutiert oder irgendein Palaver wegen dieser verdammten Magie gehabt“, erkläre ich Ben. „Ich habe ihr gegenüber einfach meine Vermutung geäußert, dass sich Bühnenzauberer gewiss mit dem Witz über den Ortsfremden identifizieren können, der vor der Licher Brauerei steht und einen Ortskundigen fragt, wie er zur Brauerei kommt. »Üben, Mann, üben!, antwortet der Ortskundige.“

      Ben lächelt etwas unsicher und ich sehe ihm an, dass er nicht wirklich verstanden hat, was ich damit meine – nun ja, es ist bereits zwei Uhr morgens.

      „Verstanden?“, frage ich.

      Er schüttelt – trotz Energy-Drink – müde den Kopf.

      „Was ich damit meine: Dasselbe gilt auch für Schriftsteller.“

      „Du meinst: Üben, üben, üben?“

      Jetzt nicke ich, bemerke aber, dass er mich überhaupt nicht anschaut, sondern zu Jens Köller hinsieht, der sich gerade zehn Meter vor uns im Schlaf unruhig in seinem Feldbett neben dem Bett seiner Frau hin- und herwirft, als würde er etwas Beunruhigendes träumen.

      „Der hatte heute keinen leichten Tag“, sagt Ben, und ich stimme ihm zu.

      Ben sieht mich mit müden Augen an und sagt: „Du meinst also: Übung macht den Meister und nicht irgendeine Magie, stimmt‘s?

      „Nachdem ich seit zwanzig Jahren Unterhaltungsliteratur schreibe und von den intellektuellen Kritikern als billiger Schundschreiber abgetan werde – diese netten Intellektuellen scheinen Schundschreiber zu definieren als »Autoren, die verständlich schreiben und dessen Werk von zu vielen Leuten geschätzt wird« – kann ich nur bestätigen, dass handwerkliches Können dazugehört. Ja, der häufig nervtötende Vorgang von Niederschreiben, Umschreiben und nochmaligem Umschreiben ist erforderlich, um gute Arbeit hervorzubringen. Und nochmal ja: Harte Arbeit ist das einzig akzeptable Training für diejenigen unter uns, die ein gewisses Talent besitzen, aber wenig oder gar kein Genie.“

      „Danke für diesen privaten VHS-Vortrag, guter Freund, wie freue ich mich doch, bald abgelöst zu werden und schlafen gehen zu können“, murmelt Ben noch und keine fünf Minuten später hängt er längs auf der Couch mit abgeknicktem Kopf und schnarcht vor sich hin, während gegenüber immer noch das kleine Fernsehgerät läuft.

      Bei mir wirkt ein Energy-Drink zwei, drei Stunden lang – in Bens Adern dagegen versanden die wach haltenden Alkaloide der Teeblätter und Kaffeebohnen wohl schon nach einer Stunde. Sei’s drum. Ich war in Gedanken noch bei dem, was ich Frau Müller zu erklären versucht hatte. Sie brauche keine Angst davor zu haben, meine Anmerkungen zu lesen, weil sie denken würde, ich würde die Magie zerstören, indem ich ihr verrate, wie der Trick des Schreibens funktioniert. Echte Magie kennt keine Tricks. Wenn es um echte Magie geht, gibt es nur eines: die Geschichte.

      Natürlich ist es möglich, eine Geschichte zu verderben, bevor man sie gelesen hat. An Frau Meier gewandt hatte ich gesagt: „Wenn Sie zu den Leuten gehören (zu den grässlichen Leuten), die den Zwang verspüren, die letzten Seiten eines Buches zuerst zu lesen – wie ein eigensinniges Kind, das seinen Schokoladenpudding vor seinem Spiegelei mit Spinat essen will –, dann fordere ich Sie an dieser Stelle auf, sofort damit aufzuhören. Sonst werden Sie den schlimmsten aller Flüche erleben: Entzauberung.“

      Als ich jetzt darüber nachdenke, wird mir bewusst, wie hart diese dahingeschleuderten Worte in den Ohren der armen Frau Meier geklungen haben mögen und erst recht, wenn sie tatsächlich zuerst die letzten Seiten eines Romans liest, bevor sie vorne beginnt.

      Ich stelle meine Gedanken ab, jedenfalls so gut es geht. Neulich sagte mir Stella bei einem Glas Rotwein, als ich sie wieder einmal mit einer meiner Räuberpistolen zum »Logistikmonster auf dem Wüstenberg« belästigte: „Du bist das Opfer deiner Gedanken!“ Das gab mir zu denken – und ich denke bis heute darüber nach, was ich ihr in zirka zwölf Monaten darauf erwidern werde. (Und bis dahin heißt es: Üben, üben, üben.)

      Jetzt decke ich den sanft dahinschnarchenden Ben mit einer beige-farbenen Wolldecke zu, und mache einen Rundgang. Ich muss an Martha Weis denken – sie wurde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Niko Lamor erschlagen. Sein blutiger Merkurstock sollte Zeugnis genug sein. Ihr mit einem Tischtuch bedeckter Leichnam lag noch immer in ihrem Haus an der Wetter.

      Und dort würde die alte Pendeluhr jetzt zwei Uhr schlagen. Es sind die ersten zwei Stunden eines neu angebrochen Tages. Es ist Mittwoch, der 19. Januar 2022. Ich weiß nicht, wie ich gerade darauf komme: Aber an einem 19. Januar 1905 wurde in Wien das Kindertotenlied von Gustav Mahler uraufgeführt.

      Und an noch etwas denke ich.

      Ich denke an Peter Machey, der sich vor einigen Stunden erhängt hat und dessen Leichnam Hubert Seifried und ich in einen Läufer eingewickelt und am Hintereingang des Rathauses in einer weniger verschneiten Ecke abgelegt haben, damit die hier versammelte Bürgerschaft nicht unmittelbar mit diesem merkwürdigen Selbstmord konfrontiert ist – obwohl ich mir (ebenso wie Seifried) nicht sicher bin, ob es wirklich Suizid war oder ob Lamor seine Hände im Spiel gehabt hat.

      Die Außenwache hat sich vor einer halben Stunde hier im Inneren des Rathauses aufgewärmt und eine Thermoskanne mit nach draußen genommen. Ich habe meine Bedenken geäußert, mehr kann ich nicht tun, ich bin hier nur der Protokollant – aber ich finde den Außendienst äußerst riskant. Wie man mir berichtete, sind inzwischen die Schneewehen höher denn je und mehrere Schaufenster wurden von den Schneemassen eingedrückt. Die Straßen sind jetzt selbst für Geländewagen unpassierbar.


Скачать книгу