Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien. Leo Deutsch
Читать онлайн книгу.Sachen beschloss ich zu verstecken, und zwar so, dass ich bei günstiger Gelegenheit davon Gebrauch machen könnte während des Transports in Deutschland oder in Russland. Der Wächter an meiner Tür ließ mich nicht aus den Augen, aber es gelang mir trotzdem, die genannten Dinge in meinem Anzuge derart zu verbergen, dass sie bei den bevorstehenden körperlichen Untersuchungen nicht gefunden werden konnten und sie leicht zu erreichen waren, wenn ich sie brauchen sollte. Alle diese Vorbereitungen waren die Hoffnung eines Ertrinkenden, der nach dem Strohhalm greift. Ich täuschte mich nicht darüber, dass man mich scharf bewachen werde, und dass jede Aussicht auf Rettung in der nächsten Zeit verloren war. Aber in solcher Lage haben selbst die nutzlosesten Beschäftigungen wenigstens den Vorteil, dass sie eine Ableitung für die Gedanken schaffen. Und meine Gedanken waren nicht die angenehmsten. Ich wusste, was mir bevorstand; ich malte mir die Zukunft aus: lange, lange Jahre im Kerker, begraben bei lebendigem Leibe, dem Leben entrückt, und das eben drückte mich nieder. Ich glaube, der Gedanke an den Tod wäre mir leichter gewesen als der Gedanke an dieses Los. „Was nützt mir jetzt noch das Leben?“ fragte ich mich, und die Antwort war trostlos genug...
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Gefängnis
V. Nach Russland: im Viehwagen, im Frankfurter und im Berliner
Gefängnis
Der Abend kam, und ich wurde in einem geschlossenen Wagen in Begleitung von zwei Polizeimännern, die man in Zivilkleider gesteckt hatte, unter allen möglichen Vorsichtsmaßregeln fortgeschafft. Der Wagen hielt an einer Rampe der Eisenbahn irgendwo fern vom Bahnhofe; dort wurde ich mit samt meinen Begleitern in einen Waggon gebracht, einen gewöhnlichen Viehwagen. Als der Waggon an den Bahnhof gebracht wurde, wo man ihn an einen Personenzug hing, bemerkte ich auf dem Perron eine auffällige Bewegung, und meine Wächter, denen es gleichfalls nicht entgangen war, flüsterten eifrig miteinander. Aus den abgerissenen Worten, die ich auffangen konnte, ersah ich, dass jemand verhaftet worden war, und dachte gleich, dass der Vorgang wohl im Zusammenhang mit meiner Person stand. – Nach vielen Jahren erfuhr ich dann, dass in der Tat damals auf dem Freiburger Bahnhof zwei meiner Kameraden verhaftet wurden, die beabsichtigten, den Zug zu benützen, um unterwegs einen Fluchtversuch meinerseits zu unterstützen. Dieser Versuch war also auch fehlgeschlagen. Die beiden Freunde wurden einige Tage in Freiburg in Haft gehalten und dann nach der Schweiz ausgewiesen.
Gegen Morgen kamen wir in Frankfurt am Main an, wo man mich wieder in ein Gefängnis brachte.
Der Verwalter dieses Gefängnisses erwies sich als ein ungemein liebenswürdiger und dienstbereiter Herr, der aber seine sehr feinen Hintergedanken hatte. Als ich ihn fragte, ob ich an meine Verwandten in der Schweiz eine Postkarte schreiben dürfe, versicherte er mir hoch und teuer, er würde sie sofort befördern, und schaffte mir alsbald Schreibzeug herbei. [Es zeigte sich später, dass er die Karte meinen Wächtern übergeben hatte zur Auslieferung an die russischen Behörden. Natürlich enthielt die Karte nichts weiter als einen Gruß an meine Freunde.] Auch die Zelle, die er mir anwies, war sehr bequem und lag nach einer lebhaften Straße; aber er platzierte mir zwei Schutzleute herein, die mich unterhalten sollten. Dann erhielt ich ein sehr gutes Mittagessen, oder wenigstens schien es mir gut, weil ich in den letzten Tagen infolge der Aufregung nichts gegessen hatte. – Da ich voraussah, dass die Reise sehr lange dauern werde, wollte ich mir einige Bücher besorgen, und der dienstbereite Herr erbot sich sofort, sie bei einem Antiquar zu kaufen, damit es billiger wäre. Ich erinnere mich, dass ich ein paar deutsche und französische Klassiker wählte, und er verschaffte mir die Werke richtig zu einem, wie mir schien, recht billigen Preise. Schließlich schlug er mir vor, mit ihm einen Spaziergang im Hofe zu machen. Als wir allein waren, begann er weitschweifig über seine Verhältnisse zu plaudern und versuchte dann in recht plumper Weise mich auszufragen, ob ich nicht etwa der berühmte Degajeff sei? Ich musste herzlich lachen, und die eifrige Freundlichkeit und Dienstbarkeit dieses Biedermannes, der sein Interesse hübsch wahrzunehmen verstand, erschien mir jetzt in ganz anderem Lichte. Abgesehen davon, dass ihm, wie mir später die in meiner Zelle mich bewachenden Schutzleute erzählten, sowohl der Einkauf der Bücher als auch das gelieferte Essen einen netten Profit abgeworfen hatten, ging er darauf aus, eine Belohnung zu ergattern, wenn er mir das Geständnis entlockte, dass ich Degajeff sei. Es handelte sich nämlich darum, dass für die Ergreifung dieses Mannes die russische Regierung eine hohe Prämie – zehntausend Rubel – ausgesetzt hatte, und der Name war damals in allen europäischen Zeitungen zu finden [Degajeff, ein gewisser Artilleriekapitän, war ein hervorragendes Mitglied der „Narodnaja Wolja“. Anfangs der achtziger Jahre verhaftet, wurde er bald zum Verräter und lieferte viele seiner ehemaligen Genossen aus. Auf diese Weise erzielte er nicht nur seine Befreiung, sondern erwarb auch das Vertrauen des damals berühmten und berüchtigten Oberhäschers, des Kommandanten der Petersburger „Schutztruppe“, des Obersten Ssudjeikin. Gewissensbisse oder auch die Furcht vor der Rache der Revolutionäre veranlassten ihn jedoch, im Jahre 1883 diesen gegenüber ein vollständiges Geständnis abzulegen, und zur Sühne erbot er sich, ihnen beizustehen, um Ssudjeikin umzubringen. Diesem war schwer beizukommen, weil er ungemein geschickt und vorsichtig war; dabei hatte noch keiner der Häscher den Revolutionären so vielen Schaden zugefügt als er. Der Vorschlag Degajeffs wurde angenommen. Im Winter 1883 also lockte Degajeff den Ssudjeikin unter dem Vorwände wichtiger Mitteilungen in seine Wohnung, wo zwei Revolutionäre ihm auflauerten und ihn niederschossen. – Die beiden wurden später verhaftet, zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt und in Schlüsselburg eingekerkert. Degajeff dagegen entkam ins Ausland und ist seither verschollen.] – Ich blieb bis zur Nacht im Frankfurter Gefängnis. Dann holten mich drei Schutzleute ab, die ebenfalls in Zivilkleidern steckten. Jedes Mal wenn die Wächter wechselten, wurde ich von neuem visitiert, aber man fand niemals etwas. Ehe mich die Frankfurter Polizisten abführten, legten sie mir Fesseln an, die nicht gerade dick und schwer waren und ganz unauffällig; sie wurden nämlich unter den Kleidern hindurchgezogen, waren also nicht sichtbar, hinderten aber an raschem Gehen und desto mehr am Laufen. Ich protestierte lebhaft gegen eine derartige Behandlung, doch die Leute erklärten mir, sie hätten gemessenen Befehl, mich zu fesseln, und meine Proteste würden zu keinem Ziele führen. Mir blieb nichts übrig, als mich zu fügen. Doch damit war die Fürsorge meiner Schutzengel nicht erschöpft: als wir den Bahnhof und den Perron passierten, nahm mich einer von ihnen, ein Hüne von Gestalt, freundschaftlich unter den Arm, einer ging einen Schritt vor mir und der dritte hinter mir; so machten wir auf Uneingeweihte den Eindruck einer Gruppe „guter Freunde“, die in „aller Gemütlichkeit“ daher schlendern. Wir platzierten uns in einem Wagen mitten unter das Publikum, wobei wir zwei Bänke besetzten, und wahrscheinlich dachte keiner von den Reisenden, dass in seiner nächsten Nähe ein schwerer, kettenbelasteter Staatsverbrecher transportiert werde. Mir fiel dabei die Redensart unserer russischen Bauern ein, wonach der Deutsche alles fertig bringt: „Selbst den Affen hat er erfunden!“
Ich will übrigens bemerken, dass meine Wächter im Allgemeinen durchaus korrekt, wenn auch strikte formalistisch, sich mir gegenüber verhielten; groben Übergriffen, wie in Freiburg, war ich kein einziges Mal mehr ausgesetzt. Soweit es ihre Instruktion zuließ, erwiesen mir die Leute gern kleine Gefälligkeiten, wenn ich etwas wünschte. In den „Begleitscheinen“, die ihnen mitgegeben waren, war ich als der „angebliche Buligin“ bezeichnet, und unter diesem Namen figurierte ich bis zur Übergabe an die russischen Behörden.
Von einem Fluchtversuch während der Reise konnte nicht die Rede sein. Meine Wächter ließen mich nicht eine Sekunde aus den Augen, wichen keinen Schritt von meiner Seite, beobachteten jede meiner Bewegungen. In Gespräche ließen sie sich mit mir nicht ein, und ich hatte auch nicht das geringste Bedürfnis, mit ihnen zu schwatzen. Ich fühlte mich niedergedrückt, abgespannt und erschöpft. Meine Gedanken schienen eingeschläfert, nichts fesselte meine Aufmerksamkeit während der ganzen Reise, ich sah und hörte nichts, was um mich vorging. Absolute Gleichgültigkeit und Apathie hatten mich erfasst. „Was wird, das wird“, sagte ich mir, wenn ein Gedanke an die Zukunft auftauchte. Auf die furchtbare Erregung der letzten Tage in Freiburg war die Reaktion eingetreten.
Als wir am folgenden Tage in Berlin eintrafen, wurde ich abermals in ein Gefängnis gesperrt. Welches es war, weiß ich nicht; doch erinnere ich mich genau, dass es einen unbeschreiblich deprimierenden Eindruck