Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien. Leo Deutsch

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Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien - Leo Deutsch


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fragte er, und als ich das bejahte, fügte er zum Troste hinzu:

      „Nun, das ist ja schon so lange her. Das war doch zur Zeit des polnischen Aufstandes? – Da kommt Ihnen das Manifest zugute, man wird Ihnen nicht viel anhaben.“

      Zur Zeit des polnischen Aufstandes war ich noch nicht einmal acht Jahre alt! Das illustriert, wie wenig manche der Gendarmerieoffiziere über die politischen Prozesse Bescheid wissen, die doch ihr eigentliches Metier sind.

      Die freundliche Teilnahme hinderte ihn natürlich nicht, meinen Wächtern die strengsten Verhaltungsbefehle zu geben, was ich im Wagen sitzend belauschen konnte.

      „Habt mir gut Acht auf ihn! – Das Fenster darf nicht geöffnet werden; er darf den Wagen nicht verlassen. – Dass ihr nicht unterwegs schläft!“ flüsterte er.

      Die Gendarmen aber ließen sich dadurch nicht stören, behandelten mich nach wie vor mit aller Zuvorkommenheit und zeigten nicht die geringste Furcht, dass ich ihnen davonlaufen könnte.

      Als wir in Petersburg ankamen, erwartete uns ein Gendarmeriekapitän und führte mich in einer geschlossenen Droschke direkt nach der Peter-Pauls-Feste.

Grafik 53

      Peter-Pauls-Feste – Foto: Andrew Shiva

      * * *

      VI. Die Peter-Pauls-Feste

       VI. Die Peter-Pauls-Feste

      Ein sonderbares Gefühl beschlich mich, als ich sah, dass man mich nach diesem Kerker führte, den die Regierung der Zaren speziell für die Staatsverbrecher eingerichtet hat, den man von alters her in Russland nur mit Schaudern nennt. Düstere Gedanken waren es, mit denen ich ihm nahte, aber auch die Neugierde stellte sich ein. Ich wusste wohl, dass in dieser Feste ein grausiges Regime herrscht, aber ich war eigentlich neugierig, es persönlich kennen zu lernen. Die Wirklichkeit entsprach in der Tat meinen Vorstellungen.

      Kaum hatte man mich in irgendeine Kammer gebracht, als der Verwalter des Kerkers, Gendarmerieoberst Lesnik, mir befahl, mich bis auf die Haut zu entkleiden. Ein paar Gendarmen untersuchten mich aufs sorgfältigste und reichten mir dann, statt meine Sachen, Gefängniswäsche und einen gestreiften baumwollenen Kittel, wie sie in den Krankenhäusern üblich sind, und ein Paar Pantoffeln. Meine eigenen Sachen dagegen wurden fortgeschafft. Dann wurde ich in eine Zelle im Erdgeschoss eingeschlossen.

      Alles ging hier lautlos vor sich, ohne jedes Geräusch, ohne dass jemand ein Wort sprach. Es war, als ob hier nicht Menschen jahrelang lebten, sondern als ob man in einem Totenhause wäre. Einzig die Glockenschläge der Uhr unterbrachen die Stille, wobei jedes Mal die Nationalhymne erklang: „Ehre, Ehre sei dir, russischer Zar.“

       Die Zelle war geräumig, aber finster, da das Fenster ganz oben an der Decke sich befand; es war kalt hier, trotzdem es im Mai war; die Sonne drang hier niemals herein, und die Wände waren feucht. Außer der eisernen Bettstelle mit Strohsack, Kissen und dünner Baumwolldecke war ein gleichfalls eiserner Tisch und ein Sitzbrett vorhanden, beides an die Wand geschmiedet, und der übliche, einen Gestank ausströmende „Kübel“. Schon gegen 3 Uhr nachmittags herrschte hier Dunkelheit, obgleich in diese Zeit in Petersburg die bekannten „Hellen Nächte“ fallen, wo es überhaupt nicht dunkel wird. Vor allem aber machte sich die Kälte entsetzlich fühlbar, die wohl der Lage der Zelle zuzuschreiben war, besonders aber der unzureichenden Kleidung. Um mich zu erwärmen, marschierte ich bis zur vollsten Erschöpfung hin und her von einem Winkel in den anderen; kaum aber setzte ich mich auf einige Minuten nieder, so fror ich am ganzen Körper. Auch im Bette fühlte ich dieselbe durchdringende Kälte, weil die Decke gar zu luftig war. – Die Kost bestand aus einem Laib Kommissbrot von ungefähr zwei Pfund und dem Mittagessen aus zwei Gerichten, die nicht schlecht waren, doch war es zu wenig, und dazu waren die Speisen immer kalt, weil sie weit hergebracht wurden. Als Untersuchungsgefangener hätte ich mir aus eigenen Mitteln eine bessere Verpflegung verschaffen können, aber lange Zeit war es nicht möglich, weil die Gendarmen, die mich hergebracht, mein Gepäck und das Geld dem Gendarmerieoffizier übergeben hatten, und dieser hatte es an das Polizeidepartement abgeliefert. Am schlimmsten jedoch war, dass auch meine Brille auf diese Weise fehlte und ich somit nicht lesen konnte, was ebenfalls den Untersuchungsgefangenen gestattet wird. Es wurden mir daher die Tage und auch die Nächte unendlich lang. Ich versuchte alles Mögliche, um mir Beschäftigung zu verschaffen; ich versuchte Rechenexempel zu lösen, natürlich „Kopfrechnen“, weil Schreibzeug nicht bewilligt wurde, ich erzählte mir selber Geschichten und frischte alle Erlebnisse aus. Schließlich verfiel ich darauf, eine Zeitung „herauszugeben“. Wenn ich morgens aufgestanden und mich gewaschen hatte, aß ich ein Stück Brot, und dann „las ich meine Zeitung“. Erst kam natürlich ein „Leitartikel“ über eine höchst aktuelle Frage, dann die „Rundschau“, „Stadtnachrichten“, das „Feuilleton“ usw. Aber nach einigen Tagen war natürlich der Stoff erschöpft, und die „Spalten meiner Zeitung“ wurden recht uninteressant, dabei konnte dieses „Lesen“ nicht den ganzen Tag ausfüllen; übrigens war ich auch bei Nacht oft wach, weil die Kälte mich nicht einschlafen ließ; so lief ich denn auf und ab, auf und ab wie ein Tier in seinem Käfig.

       Die Spaziergänge brachten gleichfalls keine Abwechslung in das ewige Einerlei, weil sie nur jeden zweiten Tag stattfanden und sehr kurz dauerten: die Zeit zum Einkleiden und Auskleiden eingerechnet – es wurden die eigenen Kleider zu diesem Zwecke hereingebracht – nur eine Viertelstunde. Dabei fanden sie in einem von hohen Mauern eingeschlossenen Gefängnishofe statt, wo natürlich zu dieser Zeit außer Gendarmen und Schildwachen niemand zu sehen war. Mit den wachthabenden Gendarmen das geringste Gespräch anzuknüpfen, auch nur auf die einfachste Frage eine Antwort zu erhalten, war absolut unmöglich. Was man auch fragen mochte, sie starrten einem direkt ins Gesicht und schwiegen.

      Nach einigen Tagen fand ich jedoch einige Beschäftigung; ich vernahm ein leises und schwaches Klopfen, das irgend weither an der Wand vernehmbar war. Als ich einige Jahre vorher im Gefängnis saß, hatte ich gelernt, mich dieses Verständigungsmittels zu bedienen, und das verabredete Alphabet fiel mir sofort ein. [Für den deutschen Leser sei bemerkt, dass es sich um ein altes, von allen Staatsgefangenen oft angewendetes Mittel handelt. Die Buchstaben des Alphabets werden in eine bestimmte Anzahl Reihen gruppiert, zum Beispiel:

       a b c d e f

       g h i k l m

       n o p r s t

       u v w x y z

      Man bildet also Worte, indem man jeden einzelnen Buchstaben durch eine Anzahl Schläge an die Wand bezeichnet, und zwar bezeichnet man erst durch die Zahl der Schläge die horizontale Lage, in welcher der Buchstabe steht, dann seinen Platz in dieser Reihe. Um zum Beispiel das Wort „ich“ zu bezeichnen, klopft man zweimal, kurze Pause, dreimal, längere Pause; einmal, kurze Pause, dreimal, längere Pause, zweimal, kurze Pause, zweimal. Eine langwierige Prozedur, aber Eingekerkerte haben Zeit im Überfluss; ganze lange Erzählungen werden auf diese Weise mitgeteilt. Nicht nur die Zellennachbarn können sich derart verständigen, sondern der Schall ist oft in weitabgelegene Zellen, wenn sie eine gemeinsame Mauer haben, hörbar. Der Übersetzer.]

       Es ist schwer, meine Freude zu beschreiben, als ich die wohlbekannten Laute vernahm und glaubte, dass sie mir galten. Aber ich sollte mich bitter täuschen. Als ich durch Klopfen antworten wollte, sah ich alsbald, dass es nicht mir galt, sondern dass zwei Freunde sich hier unterhielten und auf meine Versuche, mich ihnen „vorzustellen“, nicht antworteten. Dieses Klopfen war in der Feste streng verboten, und die beiden wollten einen dritten, ihnen Unbekannten nicht in ihre Gesellschaft aufnehmen, weil sie fürchteten, bloßgestellt und der Möglichkeit, miteinander zu verkehren, beraubt zu werden. Ich musste mich darauf beschränken, zuzuhören, was sich die beiden in ihren kurzen Gesprächen mitzuteilen hatten. Es waren stereotyp wiederkehrende Sätze: „Guten Tag!“ – „Wie hast du geschlafen?“ – „Was treibst du?“ – worauf die Antwort erfolgte: „Guten Tag!“ – „Gut.“ – „Trinke Tee.“ Aber selbst um den Austausch derart nichtiger Phrasen beneidete ich die beiden. Ich erfuhr nicht einmal, ob da ein Mann und eine Frau miteinander sprachen oder zwei Männer.


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