Geschichte meines Lebens. George Sand

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Geschichte meines Lebens - George Sand


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griechische, von der er gar nichts weiß; um seinen Geschmack zu bilden: um eine klare Ansicht der Geschichte zu gewinnen; um das häßliche Siegel zu verwischen, das eine traurige Kindheit und die Verdummung der Knechtschaft auf seine Stirn gedrückt haben; um endlich wieder frei umherzuschauen und den Kopf wieder hoch zu tragen. Und dann erst wird er seine Mutter lieben — aber schon bemächtigen sich die Leidenschaften seiner Seele und er hat nie die engelhafte Zärtlichkeit gekannt, die ich zu schildern versuchte, und die für die Seele des Mannes wie ein Ruhepunkt ist, wie eine entzückende Oase zwischen der Kindheit und dem männlichen Alter.

      Uebrigens soll dies kein Ausspruch gegen die öffentliche Erziehung sein; dem Princip nach erkenne ich alle Vorteile des gemeinschaftlichen Unterrichts, sehe ich aber, wie dieser in Wirklichkeit geleitet wird, so muß ich sagen, daß jede andere Erziehungsweise besser ist — selbst das Verziehen im Hause.

      Es kommt hier aber auch gar nicht darauf an, aus dem einzelnen Falle einen Schluß zu ziehen. Eine Erziehung, wie sie mein Vater erhielt, kann niemals als Vorbild dienen, denn sie war zu gleicher Zeit zu schön und zu mangelhaft. Zweimal wurde sie unterbrochen, das erste Mal durch die krankhafte Schwäche meines Vaters; dann durch die Schrecken der Revolution, und ihre Vervollständigung verhinderten die Unsicherheit und Zusammenhanglosigkeit des damaligen Lebens. Aus dieser Erziehung ging jedoch ein Mann von einer unvergleichlichen Reinheit, Tapferkeit und Güte hervor. Sein Leben war ein Roman voll Kampf und Liebe; es wurde im dreißigsten Jahre durch ein unvorhergesehenes Ereigniß geendet, und durch diesen frühen Tod ist seinem Bilde in der Erinnerung Aller, die ihn gekannt haben, die Jugend erhalten. Ein junger Mann mit heldenmüthigem Sinne, dessen ganzes Leben von einer der thatenreichsten Geschichtsepochen umrahmt wird, ist jedenfalls eine interessante Gestalt — und welch einen herrlichen Vorwurf zu einem Romane würde mir sein Leben geben, wären nicht die Hauptpersonen mein Vater, meine Mutter und meine Großmutter. Aber obgleich es meiner Meinung nach nichts Ernsteres giebt, als einen Roman, den wir aus Liebe und Andacht schreiben, so dürfen wir doch weder die Wesen, die wir lieben, noch die, welche wir hassen, darin einführen. Ich werde viel darüber zu sagen haben, und ich hoffe, daß ich Allen, die mich beschuldigen, sie in meinen Büchern geschildert zu haben, eine offne Antwort geben kann. Hier ist jedoch nicht die Zeit dazu, und ich beschränke mich darauf, die Versicherung zu geben, daß ich nicht gewagt haben würde das Leben meines Vaters zum Gegenstande einer Dichtung zu machen. Das Warum wird man später verstehen.

      Ich glaube übrigens nicht, daß dies Leben im Gewande einer kunstgerechten Form interessanter gewesen wäre. Erzählt wie es war, ist es von größerer Bedeutung, und stellt in einigen sehr einfachen Zügen die sittliche Geschichte der Gesellschaft dar, in welcher es sich bewegte.

       Fünftes Kapitel.

       Nach der Schreckenszeit. — Ende der Gefangenschaft und des Exils. — Unglücklicher Einfall Deschartres. — Nohant. — Die terroristischen Bürger. — Geistiger Zustand der wohlhabenden Klassen. — Musikalische Leidenschaft, — Paris unter dem Direktorium.

      Am 4. Fructidor (August 94) wurde meine Großmutter endlich wieder mit ihrem Sohne vereinigt. Das schreckliche Trauerspiel der Revolution verschwand für einen Moment aus ihren Augen. Sie gaben sich Beide ungetheilt dem Glücke des Wiedersehens hin; die zärtliche Mutter sowohl als der vortreffliche Sohn vergaßen Alles, was sie gelitten, verloren und erfahren hatten. Alles, was noch bevorstehen konnte, und betrachteten diesen Tag als den schönsten ihres Lebens.

      Getrieben von dem Verlangen, ihren Sohn in Passy zu umarmen, wartete meine Großmutter nicht auf die Scheine, durch welche ihr die Erlaubniß gegeben werden mußte, die Barrieren von Paris zu überschreiten. Um nun aber am Thore von Maillot nicht aufzufallen, verkleidete sie sich als Bäuerin, bestieg, um die Seine zu überfahren, ein Schiff am Quai der Invaliden, und wollte sich dann zu Fuße nach Passy begeben. Dies war für sie eine große Aufgabe, denn sie hatte nie weitere Fußtouren gemacht und war, vielleicht aus Mangel an Uebung, vielleicht aus organischer Schwäche, vollständig ermüdet, wenn sie eine Gartenallee durchschritten hatte. Und doch war sie schlank, gut gewachsen, vollkommen gesund und von einer frischen, ruhigen Schönheit, die allen Anschein der Kraft besaß.

      Doch jetzt eilte sie vorwärts, ohne sich selbst zu beachten, und ging so rasch, daß Deschartres, dessen Kleidung der ihrigen entsprach, kaum zu folgen vermochte. Aber bei der Ueberfahrt hätte ihnen beinahe ein unbedeutender Umstand neues Unglück zugezogen. Das Schiff war mit Menschen aus den niedern Ständen besetzt, welche die weiße Haut und die zarten Hände meiner Großmutter bemerkten. Ein wackrer Freiwilliger der Republik stellte laut seine Betrachtungen darüber an. „Seht mal das kleine, hübsche Frauchen,“ sagte er, „das hat gewiß nicht oft gearbeitet.“ Deschartres, der immer mißtrauisch und ungeschickt in seinem Benehmen war, antwortete mit einem: „Was geht's Dich an!“ das sehr übel aufgenommen wurde. In demselben Augenblicke ergriff eine der Frauen, die im Schiffe waren, ein blaues Packet, das aus Deschartres Tasche guckte, hob es in die Höhe und rief: „Es sind flüchtende Aristokraten! wenn es Leute wären wie wir, würden sie kein Siegellack verbrennen.“ Und eine andere, die mit der Taschendurchsuchung des unglücklichen Pädagogen fortfuhr, entdeckte eine Flasche Eau de Cologne, welche den beiden Flüchtlingen einen Hagel bedrohlicher Spöttereien zuzog.

      Der gute Deschartres, der trotz der Rauhheit seines Wesens, die zarteste Aufmerksamkeit besaß, war diesmal für die Verhältnisse zu zart und aufmerksam gewesen. Er hatte geglaubt, etwas Außerordentliches zu thun, indem er sich heimlich für meine Großmutter mit den kleinen Luxusartikeln versah, die sie in Passy nicht gefunden haben würde oder nicht herbeischaffen konnte, ohne Verdacht zu erregen.

      Als er nun sah, daß diese Sorgsamkeit verderblich zu werden drohte, verwünschte er seinen Einfall. Aber immer unfähig, sich zu fügen, sprang er auf, ballte die Fäuste, erhob die Stimme und drohte: Jeden, der seine, Gevatterin“ beleidige, in den Fluß zu werfen. Die Männer lachten nur über seine Prahlereien, aber der Schiffer sagte mit bestimmtem Tone: wir werden die Geschichte beim Aussteigen untersuchen. Worauf die Frauen Bravo schrieen und die verkappten Aristokraten heftig bedrohten.

      Die revolutionäre Regierung milderte freilich die Strenge ihrer Maßregeln von einem Tage zum andern, aber das Volk gab seine Macht nicht auf, und war immer bereit, sich selbst Recht zu verschaffen.

      In diesem gefahrvollen Augenblicke wurde meine Großmutter durch eine jener Eingebungen geleitet, die bei dem Weibe so mächtig sind. Sie setzte sich zwischen zwei der bösesten Weiber, die sie mit Schimpfworten überhäuften, ergriff ihre Hände und sagte: „Mag ich Aristokratin sein oder nicht, ich bin eine Mutter, die seit sechs Monaten ihren Sohn nicht gesehen hat, die schon fürchtete, ihn nie wieder zu erblicken, und die sich jetzt mit Lebensgefahr zu ihm begiebt. Wollt ihr mich verderben, nun wohl, so zeigt mich an, tödtet mich, wenn ihr wollt, nach meiner Rückkehr, aber hindert mich nur jetzt nicht meinen Sohn zu sehen; ich lege mein Geschick in eure Hände.“

      Und sogleich antworteten die Weiber: „Geh nur, Bürgerin, geh, wir wollen Dir nichts Böses thun! Du thust wohl, Dich uns zu vertrauen, denn auch wir haben Kinder, die wir lieben.“

      Als sie das Ufer erreichten, wollten der Schiffer und die andern Männer, die Deschartres Benehmen ärgerte, das Fortgehen der Beiden verhindern. Aber die Frauen hatten meine Großmutter unter ihren Schutz genommen, und erklärten den Männern: „Wir wollen das nicht, und verlangen Achtung für unser Geschlecht! lasset also die Bürgerin in Ruhe, und auch ihr Kammerdiener — so nannten sie den armen Deschartres — soll mit ihr gehen. Er beträgt sich albern, aber er ist nicht mehr ci-devant als ihr selbst.“

      Meine Großmutter umarmte die braven Weiber mit Freudenthränen: Deschartres nahm sein Abenteuer von der lächerlichen Seite; sie gelangten nun ohne weitere Hindernisse in das kleine Haus in Passy, und Moritz, der sie noch nicht erwartete, war ganz außer sich vor Freude, als er seine Mutter in die Arme schloß. Ich weiß nicht mehr, an welchem Tage das Verbannungsdecret wieder aufgehoben wurde, aber es muß fast zu derselben Zeit gewesen sein. Meine Großmutter ordnete nun ihre Papiere, und ich bin noch im Besitze ihrer Aufenthaltskarte und der Bescheinigung ihres „Bürgersinns“. Letzterer ist besonders


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