Geschichte meines Lebens. George Sand

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Geschichte meines Lebens - George Sand


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es stand ein kleiner Ofen in unserer Stube, die mehr als bescheiden war und deren mit Leimfarben in länglichen Quarrés gemalte Wände ich noch immer erblicke. Ein anderer Umstand, dessen ich mich erinnere, obwohl ich diese Wohnung seit dem Alter von vier Jahren nicht mehr betreten habe, ist, daß der Alkoven durch eine Gitterthür von Messingdraht mit grünen Gardinen verschlossen werden konnte. Außer einem kleinen Vorzimmer, das als Speisesaal diente und einer kleinen Küche, die mein Arrestlocal war, gab es kein anderes Gemach, als dieses Schlafzimmer, das am Tage als Salon benutzt wurde. Man sieht, daß dies nicht sehr luxuriös war. Abends wurde mein kleines Bett vor den Alkoven gestellt, und wenn meine Schwester, die damals in Pension war, zu Hause schlief, wurde neben mir auf dem Kanape ein Bett für sie zurecht gemacht. Dies Kanape war mit grünem Utrechter Sammet bezogen; alle diese Einzelnheiten stehen mir klar vor der Seele, obwohl ich in dieser Wohnung nichts Bemerkenswerthes erlebt habe; aber wahrscheinlich hat sich mein Geist in jener Zeit emsig arbeitend in sich selbst vertieft, denn es scheint mir, als wären alle jene Gegenstände von meinen Träumereien erfüllt, und als hätte ich sie durch meine immerwährende Betrachtung abgenutzt. Vor dem Einschlafen hatte ich noch eine besondere Unterhaltung; sie bestand darin, das Messinggitter der Alkoventhür neben meinem Bette mit den Fingern zu streichen. Der schwache Ton, den ich dadurch hervorbrachte, erschien mir wie eine himmlische Musik und meine Mutter pflegte dabei zu sagen: „Da spielt Aurora wieder das Gitter!“ Doch ich kehre zu meinem Polichinell zurück, der mit dem Rücken auf dem Ofen liegend, mit seinen gläsernen Augen und häßlichem Lachen die Decke des Zimmers betrachtete. Ich sah ihn nicht mehr, aber meine Einbildungskraft zeigte mir ihn noch — ich schlief ein, während ich mich mit dem häßlichen Wesen beschäftigte, das mir mit den Augen in alle Winkel des Zimmers folgen konnte und während der Nacht hatte ich einen schrecklichen Traum. — Polichinell war aufgestanden, sein mit einer Weste von rothem Goldbrokat bekleideter Buckel hatte auf dem Ofen Feuer gefangen; er lief überall umher und verfolgte bald mich, bald meine Puppe, die entsetzt vor ihm floh, während uns die langen Feuerstrahlen erreichten, die er auf uns abschoß. Meine Mutter erwachte von meinem Geschrei und meine Schwester, die nahe bei mir schlief, sah, was mich ängstigte und trug den Polichinell in die Küche, indem sie bemerkte, daß er eine häßliche Puppe für ein Kind meines Alters sei. Ich sah ihn nicht wieder, aber ich behielt noch einige Zeit das imaginäre Gefühl der Brandwunde, die ich im Traume erhalten hatte, und statt wie bisher, gern mit Feuer zu spielen, setzte mich schon der Anblick desselben in Schrecken.

      Bald darauf gingen wir nach Chaillot, um meine Tante Lucie zu besuchen, die dort ein kleines Haus nebst Garten besaß. Ich konnte schon gehen, wünschte aber, fortwährend von meinem Freunde Pierret getragen zu sein, für den ich von Chaillot bis zu dem Boulevard eine ziemlich schwere Last wurde. Um mich Abends auf dem Nachhausewege zum Gehen zu bewegen, stellte sich meine Mutter, als wollte sie mich allein auf der Straße zurücklassen. Es war an der Ecke der Straße von Chaillot und der Champs-Elysées, wo gerade in diesem Augenblicke eine kleine, alte Frau die Straßenlaternen anzündete. Ueberzeugt, daß man mich nicht allein lassen werde, blieb ich, entschlossen nicht zu marschiren, ruhig stehen, und meine Mutter entfernte sich mit Pierret einige Schritte, um zu sehen, was ich bei der Aussicht, allein zu bleiben, thun würde. Da die Straße fast menschenleer war, hatte die Frau, welche die Laternen anzündete, unsern Streit mit angehört— sie drehte sich jetzt nach mir um und sagte mit zitternder Stimme: „Nimm Dich in Acht vor mir — ich nehme die kleinen unartigen Mädchen mit und sperre sie die ganze Nacht in die Laterne.“

      Es schien, als hätte der Teufel der guten Frau den Gedanken eingegeben, der mich am meisten schrecken konnte. Ich erinnere mich nicht, je wieder ein ähnliches Entsetzen empfunden zu haben, wie das, welches sie mir einflößte. Die Laterne mit ihrem blitzenden Reflector nahm für mich phantastische Formen an, und schon sah ich mich in dieses krystallne Gefängniß eingeschlossen und von der Flamme verzehrt, welche nach dem Willen des Polichinell im Unterrocke aufleuchtete. In ein durchdringendes Geschrei ausbrechend, lief ich hinter meiner Mutter her. — Ich hörte die Alte lachen, und das Schnarren der Laterne, die sie wieder hinaufzog, verursachte mir einen nervösen Schauder, als ob ich mich mit von der Erde aufgezogen und in der höllischen Laterne aufgehangen fühlte.

      Die Furcht ist, glaube ich, das größte moralische Leiden der Kinder. Sie zu zwingen, den Gegenstand, der ihnen Furcht einflößt, nahe zu besehen oder zu berühren, ist ein Heilmittel, mit dem ich nicht einverstanden bin. Man muß sie vielmehr davon entfernen und sie zerstreuen, denn das Nervensystem beherrscht ihre Organisation, und wenn sie ihren Irrthum erkannt haben, haben sie doch, während man sie dazu zwang, so viel Angst ausgestanden, daß sie das Gefühl der Furcht nicht wieder verlieren. Es ist zum physischen Uebel geworden, das ihre Vernunft nicht mehr bewältigen kann. — Dasselbe ist es mit den nervenschwachen und ängstlichen Frauen. Man thut unrecht, sie in ihrer lächerlichen Schwäche zu bestärken, aber es ist noch schlimmer, ihnen rauh entgegen zu treten, und der Widerspruch bringt oft wirkliche Nervenzufälle bei ihnen hervor, selbst wenn die Nerven anfänglich nicht ernstlich im Spiele gewesen wären.

      Meine Mutter hatte nicht diese Grausamkeit. Wenn wir an der Dampfmaschine vorübergingen, und sie sah, daß ich erblaßte und mich kaum noch aufrecht zu erhalten vermochte, gab sie mich dem guten Pierret auf den Arm — er verbarg mein Gesicht an seiner Brust und das Vertrauen, das er mir einflößte, beruhigte mich. Es ist besser für das moralische Uebel ein moralisches Mittel zu suchen, als der Natur Gewalt anzuthun und das physische Leiden durch ein noch größeres physisches Leiden zu heilen.

      In der Rue Grange-Batelière fiel mir ein alter kurzer Auszug aus der Mythologie in die Hände, den ich jetzt noch besitze und dessen große Kupfertafeln das Drolligste sind, was man sich denken kann. Wenn ich mich an das Interesse und an die Bewunderung erinnere, mit welchem ich diese grotesken Bilder betrachtete, scheint es mir, als sähe ich sie noch so, wie sie damals erschienen. Dank diesen Bildern lernte ich, ohne den Text zu lesen, bald die Hauptzüge der Mythologie kennen und das interessirte mich ungemein. Man führte mich zuweilen nach dem chinesischen Schattenspiel des „ewigen Seraphin,“ und zu den Zaubertheatern des Boulevards. Dann erzählten mir meine Mutter und meine Schwester die Märchen von Perrault, und wenn diese verbraucht waren, nahmen sie keinen Anstand, neue zu erfinden, die mir nicht minder interessant schienen. — Man erzählte mir vom Paradiese und regalirte mich mit dem Frischesten und Hübschesten der katholischen Allegorie, und die Engel und Amors, die heilige Jungfrau und die gute Fee, die Polichinells und Zauberer, die Teufelchen im Theater und die Heiligen der Kirche vereinigten sich in meinem Kopfe zu dem sonderbarsten, poetischen Mischmasch, den man sich denken kann.

      Meine Mutter hatte religiöse Ideen, die niemals durch einen Zweifel berührt wurden, denn sie prüfte dieselben nie — sie nahm sich also auch nie die Mühe, mir die wunderbaren Geschichten, die sie mit vollen Händen ausstreute, als wahr oder als symbolisch darzustellen. Sie war selbst Künstlerin und Dichterin, ohne es zu wissen, und glaubte als solche an Alles in ihrer Religion, was gut und schön erschien, und stieß alles Finstere und Drohende zurück. Sie erzählte mir mit ebenso großem Ernste von den drei Grazien und den neun Musen, als von den christlichen Tugenden und den weisen Jungfrauen.

      War es nun Erziehung, Einflüsterung oder eigne Anlage, gewiß ist, daß sich eine leidenschaftliche Liebe zum Roman meiner bemächtigte, ehe ich noch vollständig lesen gelernt hatte — und zwar auf folgende Weise:

      Ich vermochte die Feengeschichten noch nicht zu lesen. Die einfachsten gedruckten Worte blieben fast ohne Sinn für mich, und erst durch die Erzählung wurde mir verständlich, was man mir hatte lesen lassen. Aus eignem Antriebe las ich nichts, denn ich war meiner Natur nach träge, und es ist mir nur mit großer Anstrengung gelungen, mich selbst zu überwinden. Ich suchte also in den Büchern nur die Bilder — aber Alles, was ich mit den Augen und Ohren lernte, drang siedend in meinen kleinen Kopf, und meine Träumereien ließen mich oft den Begriff der Wirklichkeit verlieren, in deren Mitte ich mich befand. Da ich, wie ich schon bemerkte, lange Zeit sehr gern mit dem Feuer im Ofen spielte, so konnte meine Mutter, die keine Magd hatte und immer mit Kochen oder Nähen beschäftigt war, sich meiner nicht anders erwehren, als daß sie mich in ein Gefängniß sperrte, das sie für mich erfunden hatte, und das aus vier Stühlen bestand und einem Kohlenbecken ohne Feuer in der Mitte zum Sitzen, denn den Luxus eines Kissens kannten wir nicht. Die Stühle hatten Strohsitze und ich beschäftigte mich damit, diese mit meinen Nägeln aufzulösen — ich glaube, man


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