Skizzenbuch. Mark Twain
Читать онлайн книгу.nichts herausgekommen war. Mein Argwohn erwachte; ich begann mich nach jemand umzusehen, der bei dieser Lotterie einen Treffer gezogen hatte. Zwar fand ich viele Leute, die ihr Geld darin anlegten, aber keinen Menschen, der je einen Unfall gehabt oder einen Cent damit verdient hatte. Nun kaufte ich keine Unfallbillete mehr, sondern begab mich ans Rechnen und kam zu einem erstaunlichen Ergebnis: Die Gefahr lag nicht im Reisen sondern im Zuhausebleiben.
Ich verschaffte mir statistische Berichte und fand zu meiner Überraschung, daß nach all den fettgedruckten Zeitungsüberschriften, welche Eisenbahnunfälle ankündigten, doch nicht einmal dreihundert Menschen während der letzten zwölf Monate wirklich ihr Leben durch solche Unfälle verloren hatten. Die Eriebahn war die mörderischste auf der ganzen Liste. Sie hatte sechsundvierzig oder sechsundzwanzig Menschen umgebracht – ich erinnere mich nicht mehr genau an die Zahl, nur soviel weiß ich, daß sie doppelt so groß war, als auf jeder andern Bahn. Doch fiel mir dabei sofort ein, daß die Eriebahn eine ungeheure Länge hat und den größten Geschäftsbetrieb von allen Bahnen des Landes; da ist es leicht begreiflich, daß sie noch einmal soviele Tote aufweisen kann als die übrigen.
Als ich weiter rechnete, fand ich, daß zwischen Newyork und Rochester auf der Eriebahn täglich acht Personenzüge hin- und zurückfahren, also zusammen sechzehn, welche durchschnittlich sechstausend Reisende befördern. Das beträgt in sechs Monaten etwa eine Million – soviel als Newyork Einwohner hat. Nun denn: die Eriebahn tötet von ihrer Million zwischen dreizehn und dreiundzwanzig Personen in sechs Monaten und in der gleichen Zeit sterben von der in Newyork wohnenden Million dreizehntausend in ihren Betten! –
Mich überlief eine Gänsehaut, die Haare standen mir zu Berge. »Wie entsetzlich!« rief ich aus. »Nicht das Reisen auf der Eisenbahn bringt die Menschen in Gefahr, sondern daß sie sich den totbringenden Betten anvertrauen. Nie wieder will ich in einem Bette schlafen!«
Hiernach wird es der Leser nur natürlich finden, daß ich dem Billetverkäufer am Schalter die obenerwähnte Antwort gab. Mit den Betten, vor denen mir graut, will ich es nicht noch einmal versuchen; für mich sind die Eisenbahnen gut genug.
Auch ist mein Rat für jedermann: Bleibt so wenig zu Hause wie irgend möglich; aber wenn ihr einmal durchaus zu Hause bleiben müßt, dann kauft euch ein Paket Versicherungsbillete und legt euch nachts nicht schlafen. Man kann gar nicht vorsichtig genug sein.
Die Moral dieses Aufsatzes ist, daß Leute, die sich nicht die Mühe geben nachzudenken, ganz unbilligerweise über die Eisenbahnverwaltung der Vereinigten Staaten murren. Wenn wir uns überlegen, daß das ganze Jahr hindurch, Tag und Nacht, mehr als vierzehntausend Eisenbahnzüge der verschiedensten Art, mit Menschen beladen, deren Leben oder Tod in ihrer Gewalt ist, durch die Lande donnern und jagen, so werden wir uns nicht darüber wundern, daß sie dreihundert menschliche Wesen in einem Jahr umbringen, sondern vielmehr darüber, daß ihnen nicht dreihundert mal dreihundert zum Opfer fallen.
Brüder, knipst ein!
Darf ich den gefälligen Leser bitten, einen Blick auf nachstehende Verse zu werfen und mir zu sagen, ob er etwas besonders Gefährliches darin entdecken kann?
»Schaffner, knips' ein das Fahrpapier,
Zahlt die Taxe der Passagier.
Acht-Cents-Fahrt ein blau Papier,
Sechs-Cents-Fahrt ein gelb Papier,
Drei-Cents-Fahrt ein rot Papier.
Zahlt die Taxe der Passagier,
Knips' ein, knips' ein das Fahrpapier!«
Chor der Schaffner:
»Zahlt die Taxe der Passagier,
Brüder knipst ein das Fahrpapier!«
Kürzlich stieß ich zufällig in einem Tageblatt auf dies Reimgebimmel und las es ein paarmal durch. Augenblicklich war ich davon wie besessen; es schwirrte mir beim Frühstück fort und fort durch den Kopf und als ich meine Serviette zusammenlegte, wäre ich nicht imstande gewesen zu sagen, ob ich etwas gegessen hatte oder nicht.
Ich trat nun an das Schreibpult, um mein Tagewerk zu beginnen, wie ich es mir schon am vergangenen Abend vorgesetzt hatte. In dem Roman, an welchem ich schrieb, war ich gerade bei einer erschütternden Tragödie angekommen. Ich griff nach der Feder, um den blutigen Auftritt zu schildern, aber ich dachte nichts als: »Schaffner, knips' ein das Fahrpapier.« Eine Stunde lang kämpfte ich aus allen Kräften dagegen an, allein umsonst.
»Acht-Cents-Fahrt ein blau Papier. Sechs-Cents-Fahrt ein gelb Papier u. s. w. u. s. w.« summte es mir im Kopf ohne Rast und Ruh. Von Arbeiten konnte keine Rede sein, das lag auf der Hand. Ich gab es auf und schlenderte in der Stadt umher, aber bald merkte ich, daß meine Füße nach dem Takt jenes Reimgeklingels marschierten. Auf die Länge ward mir das unerträglich; ich änderte meinen Schritt, allein das half nichts. Die Verse paßten sich sofort der neuen Gangart an und verfolgten mich nach wie vor.
Ich kehrte um und ertrug das Leiden zu Hause den Vormittag über, es quälte mich beim Mittagessen, welches ich mechanisch und ohne Genuß verzehrte, den ganzen Abend hindurch bimmelte es mir in den Ohren, ich ging voll Jammer zu Bett, und während ich mich ruhelos hin und her warf, wälzten sich mir immer wieder die Verse durch das Hirn, bis ich gegen Mitternacht wie wahnsinnig aufsprang und zu lesen versuchte. Aber die Buchstaben tanzten vor meinen Augen und alles was ich sah war: »Schaffner knips' ein das Fahrpapier.« Bei Sonnenaufgang hatte ich den Verstand verloren und meine Angehörigen horchten mit Staunen und Bekümmernis auf meinen Blödsinn. »Knips' ein, o, knips' ein das Fahrpapier,« faselte ich immer von neuem.
Zwei Tage später, am Sonnabend Morgen, erhob ich mich – eine jammervolle Ruine – schwankend vom Lager. Ich suchte den Pfarrer N., meinen werten Freund auf, um mit ihm, wie wir verabredet hatten, einen Spaziergang von zehn Meilen nach dem Talcott-Turm zu unternehmen. Er sah mich mit großen Augen an, lieh jedoch seiner Verwunderung keine Worte. Wir machten uns auf den Weg. Der Pfarrer sprach und sprach und sprach, wie es seine Gewohnheit ist. Ich erwiderte keine Silbe, ich hörte nichts.
»Mark, bist du krank?« fragte mein Freund endlich, als wir eine Meile gegangen waren. »Du siehst entsetzlich abgehärmt und angegriffen aus. Thu mir doch die Liebe und sprich einmal ein Wort.«
Mit trübseliger Miene versetzte ich eintönig: »Schaffner, knips' ein das Fahrpapier – Zahlt die Taxe der Passagier.«
Der Pfarrer starrte mich verwirrt an:
»Ich verstehe nicht recht, was das heißen soll, Mark. Mir scheint, was du da sagst, ist weder außergewöhnlich noch besonders betrübend – und doch – es lag vielleicht an deinem Ton – klangen die Worte so sterbenstraurig, wie mir im Leben noch nichts vorgekommen ist. Was hast du nur?«
Aber ich hörte längst nichts mehr. Ich war schon in weiter Ferne, bei der nicht endenwollenden, unabwendbaren »Acht-Cents-Fahrt ein blau Papier. – Sechs-Cents-Fahrt ein gelb Papier – Drei-Cents-Fahrt ein rot Papier – Zahlt die Taxe der Passagier – Knips' ein, knips' ein das Fahrpapier.« – Was während der übrigen neun Meilen geschehen ist, weiß ich nicht.
Plötzlich jedoch legte mir der Pfarrer die Hand auf die Schulter und schrie mich an:
»Wach auf, wach auf, ich beschwöre dich! Du schläfst ja mit offenen Augen. Dort liegt der Turm vor uns; ich habe mich taub, blind und stumm geredet und du giebst keine Antwort. Sieh dich doch um in der herrlichen Herbstlandschaft. Schau hin und weide deine Blicke daran. Du bist weit gereist und hast die gepriesensten Naturschönheiten mit eigenen Augen gesehen. Nun sage einmal deine Meinung – was hältst du von diesem Landschaftsbild?«
Ich seufzte tief und murmelte: »Sechs-Cents-Fahrt ein gelb Papier – Drei-Cents-Fahrt ein rot Papier – Zahlt die Taxe der Passagier – Knips' ein, knips' ein das Fahrpapier.« Der Pfarrer stand still und sah mich lange mit ernsten, teilnahmvollen Blicken an.
»Mark,« sagte er endlich, »ich kann aus der Sache nicht klug werden. Sind das nicht dieselben