Im Schatten der Dämmerung. Marc Lindner

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Im Schatten der Dämmerung - Marc Lindner


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angekündigt ließen die Wachen den Handwerker mit dem Zwerg allein und verschlossen die Gittertür sorgsam, während der Zwerg wie üblich starr in den Raum blickte.

      So wie der Steinmetz den Zwerg das erste Mal positioniert hatte, war dieser wortlos und ohne die geringste Regung verharrt. Während die Statur die Züge des Zwerges annahm, fragte der Mann sich allmählich, wer von beiden eigentlich aus Stein war.

      Mit dem Wunsch seine Arbeit so schnell wie möglich zu beenden, begab sich Tibur gleich an seinen Auftrag. Anfangs war es ihm schwer gefallen sich mit der Figur des Zwerges anzufreunden, doch inzwischen hatte er sich an die Merkmale gewöhnt, die diese Rasse ausmachte, und so ging er mit der gleichen Selbstverständ­lich­keit an das zu bearbeitende Objekt, wie er es bei Menschen tat. Nur eines war anders – und es war ihm schon einige Male aufge­fallen – er musste sich eingestehen, dass es ihm Freude bereitete in die Züge des Zwerges einzutauchen und somit irgendwie auch dessen Volk verstehen zu können. Denn für einen guten Bildhauer reichte es nicht, das Offensichtliche in den Stein zu hauen. Selbst, wenn man es schaffte, eine Figur zu erschaffen, die dem Original glich wie ein Tropfen dem anderen, so konnte es dennoch sein, dass es einen nicht berührte, da die Seele fehlte. Eines faszinierte Tibur besonders, und das war das steinerne Ausharren des Zwerges, das er versuchte in die Nachbildung mit einfließen zu lassen.

      Es war eine Sache zu versuchen, dem Stein aufzuzwingen, die weichen Züge einer Frau anzunehmen, doch nun sollte er diese unzerbrechlichen Züge des Zwerges zum Ausdruck bringen. So schnell er auch von hier verschwinden wollte, so war er dennoch nicht bereit, seine Arbeit übereilt zu beenden. Es war seine Faszination, die ihn mit dieser Kunst verband, die ihn den Ort um ihn herum vergessen ließ. Es gab so viel, was er in den Stein legen musste, um diesem einen Wesen gerecht zu werden. Selbst seine anfängliche Angst vergaß er gar. Das Gesicht des Zwerges war so reich, dass er immer wieder seinen Blick auf dessen Gesicht ruhen ließ. Einzig dem Zauber dieser harten und doch seltsam warmen Züge erlegen.

      Tibur war beinahe selbst von seiner Handfertigkeit überrascht und erstaunt, wie viel von dem Zwerg bereits in dem Stein weilte.

      „Wer ist sie?“, störte plötzlich eine dunkle Stimme die Stille und riss den Mann aus den tiefen Gedanken, in die er versunken war.

      Der alte Mann brauchte eine Weile, bis er realisierte, dass der Zwerg eben gesprochen hatte. Zumal er dessen Stimme noch nie vernommen hatte. Tibur war so in seine Leidenschaft vertieft gewesen, dass er vergessen hatte, dass er nicht allein war. Das Schweigen des Zwerges war so selbstverständlich geworden und dessen Regungslosigkeit so vollkommen, dass nichts vermuten ließ, dass dieser lebte oder überhaupt jemals gelebt hatte. Es waren zwei steinerne Zeugen gewesen, mit denen er diesen Raum und seine Tage teilte. Eine fertige Statur und eine, die er dabei war zu erschaffen. Aber eine davon erlaubte sich auf einmal zu sprechen.

      Tibur starrte auf den Mund des Zwerges, darüber verwundert, dass dieser sich bewegt haben sollte. Doch er konnte erkennen, dass auch der Zwerg ihn beobachtete.

      „Wer ist sie?“, fragte der Zwerg erneut und seine Stimme war frei von jedem Groll. „Das Mädchen, dessen Statue ich sah?“, ergänzte der Zwerg, als er merkte, dass Tibur ihn entgeistert anstarrte, als würde dieser ihn zum ersten Mal sehen.

      Tibur wunderte sich darüber, dass der Zwerg seine Sprache so gut sprach, auch wenn sie einen eigenartigen, aber nicht unangenehmen Nachklang hatte. Doch was ihn vom Antworten abhielt, war die Frage selbst.

      In Gedanken glitt er zurück in sein zugewiesenes Atelier, zog mit zittrigen Händen das Tuch von dem Tisch und enthüllte die Büste. Dort stand sie und schenkte ihm ein trauriges Lächeln, ein letztes, bis in alle Ewigkeit.

       Der Meißel lag ruhend in der Hand des Mannes und wieder war der Zwerg vergessen. Der Zwerg seinerseits wartete geduldig und betrachtete den Mann mit seinen kleinen dunklen Augen. Abermals erkannte er die Schwere, die auf diesem lastete.

      „Ostara“, sagte der Mann, als er sich erinnerte, dass ihm eine Frage gestellt worden war. Doch er sah nicht zu dem Zwerg, sondern irgendwohin in den Raum, dorthin wo die Öllampen nicht hinleuchten wollten. „Meine Tochter!“ Er sprach mehr zu sich, als dass er noch an den Zwerg dachte. Dieser war für ihn verschwunden, so wie es alles in letzter Zeit für ihn war. Mehr als sein alterndes Leben hatte er nicht mehr und so reiste er ständig in eine andere Welt, in seine Vergangenheit, oder einfach nur einen Traum – so recht konnte er das nicht länger unterscheiden.

      Der Gefangene betrachtete Tibur und fragte sich, welche Wunden er dort berührte.

      „Aber warum ist sie so traurig?“, fragte der Zwerg und seiner fremdartigen Stimme haftete etwas Mitfühlendes an.

      Tibur blickte langsam zum Zwerg hin und ein mattes Fragment eines Lächelns zog wie ein Schatten über sein Gesicht.

       „Sie war das glücklichste Kind, das ich jemals sah. Nie habe ich sie ohne ein Lachen in ihren blauen Augen gesehen. Sie war stets zufrieden und fand etwas, woran sie sich erfreuen konnte.“ Der Mann erzählte und sprach doch nur leise zu sich selbst. Als würde er sich an eine Geschichte erinnern, die ihm als Kind erzählt worden war.

      Der Zwerg fühlte sich unwohl, dass er diese nie geheilte Wunde mit frischem Blut füllte und wollte den Mann nicht allein in seiner Trauer lassen. „Welcher Krankheit ist sie erlegen?“ Der Zwerg wollte nicht, dass der Mann in sein leidendes Schweigen versank.

      „Krankheit?“ Tibur war verwirrt und wieder verzerrte ein Lächeln sein Gesicht, doch diesmal nährte es sich nicht aus einer längst vergangenen unbesorgten Zeit und so hatte sein Ausdruck etwas Unheimliches an sich haften. „Der Krankheit der Menschen“, sprach er weiter und sah den Zwerg diesmal direkt an.

      Tiefe Falten durchzogen die Stirn des kleinen gefesselten Mannes und sagten mehr als Worte es tun könnten.

      Der Handwerker lächelte dem Zwerg traurig zu und begann von Neuem dessen Bildnis in dem großen Stein zu verewigen.

      Es dauerte eine Weile bis sich die Falten auf der Stirn des Zwergs zurückzogen, doch ganz wollten sie nicht verschwinden. Kleinere Splitter sprangen vom Stein ab und wieder klang es mit jedem Schlag, als würde eine riesige Uhr die Zeit abzählen. Und lange Zeit war, außer dieser Uhr, nichts zu hören.

      „Was wünschst du dir?“ Es war der Zwerg, der erneut sprach.

      Tibur ließ in Gedanken seinen Meißel sinken und die Uhr verstummte. Wieder sah er den Zwerg nicht an, schien aber eine Weile über die Frage nachzudenken. Doch als er seine Arbeit erneut aufnahm, hatte er kein Wort gesprochen. Nur seine Schläge waren fester und die Miene hatte eine seltsame Mischung aus Leere und einer unergründlichen Finsternis angenommen. „Nichts“, stieß er hervor und fuhr prüfend über das steinerne Gesicht vor ihm.

      „Und was ist mit Freiheit?“, meinte der Zwerg, dem die Antwort des Mannes nicht gefiel.

      Erneut unterbrach dieser seine Arbeit. „Damit sie mir genommen werden kann?“ Tibur schüttelte leicht den Kopf. „Nein danke!“ Abermals wollte er seinen Meißel ansetzen, überlegte es sich dann aber anders. „Glaub mir, ich habe genug verloren, als dass ich noch irgendetwas besitzen wollte.“ Er versuchte den Zwerg mit einem Lächeln zu überzeugen. Doch das gelang ihm nicht im Mindesten.

      „Du gibst dein Leben auf? Du lässt deine Frau im Stich, wo sie doch auch den Verlust ihrer Tochter zu beklagen hat?“ Der Zwerg mischte sich in Dinge ein, die ihn nichts angingen. Doch er ärgerte sich zu sehr darüber, dass ein Mensch sich so hängen ließ, sodass er sich darum nicht scherte.

      Tibur sah auf und die Finsternis war wie aus seinem Gesicht verbannt. Selbst dessen Trauer konnte der Zwerg nicht mehr erkennen. Stattdessen war etwas wie Mitleid in dessen Zügen aufgetaucht. Aber das konnte sich der Zwerg noch weniger erklären. Er verstand es auch nicht, denn eigentlich hätte der Mann nun wütend sein müssen, ihn anschreien, ja, er hätte sogar verstanden, wenn dieser aufgesprungen wäre und ihn geschlagen hätte. Doch nichts davon tat dieser.

      „Sollte ich irgendwann ins Reich der Toten gelangen, so werde ich mich bei ihr entschuldigen, dass ich sie allein ließ“, versuchte der Mann zu lächeln, doch sein Schmerz verzerrte


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