Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland. Arthur Holitscher

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Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland - Arthur Holitscher


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Sommer dieses Jahres ein Zeitungskonzern aufforderte, nach Russland zu fahren und über meine Erfahrungen ein Buch zu schreiben.

      Wie sind die Berichterstatter beschaffen, die die Welt in das belagerte, vielverleumdete und vielgepriesene Land entsendet? Und auf welche Art und Weise kann man in Russland das Wesentliche erfahren? Das Mitglied der Partei kommt hier nicht in Frage – es betritt und verlässt Russland natürlich mit gebundener Marschroute. Ich kenne einige Bücher, eine Reihe von Aufsätzen über Sowjet-Russland, bin auch mit einem und dem anderen Berichterstatter persönlich bekannt und infolgedessen fähig, den Mann mit seiner Meinung wie mit den tatsächlichen Verhältnissen zu konfrontieren. Allerhand ehrgeizige Gesellen, heimliche Geschäftemacher, tückische Verräter tummeln sich auf dem heißen und bunten Boden herum. Der Wahrheitsbegierigen, der in gutem Sinne Wissensdurstigen, der Befugten und Berufenen, der Ernsten und Getreuen gibt es nicht gar viele. – (Von dem wüsten Chaos gröblicher Makulatur stechen da die Bücher einiger Engländer und eines Deutschen, Alfons Paquet, aus der ersten Zeit der bolschewistischen Revolution erfreulich ab.)

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      Alfons Paquet – 1881 – 1944

      Es lässt sich kaum beschreiben, mit welcher Verachtung die führenden Männer Russlands über jene spekulativ Verzückten urteilen, die in ihnen herrliche Heroen ohne Makel erblicken, auf speichelleckerische Art und Weise ihr Werk bewedeln und beräuchern. Für jene anderen, die aus schlotteriger Angst in Russland Begeisterung simulieren, um dann, über die Grenze zurück, in ihrer Heimat vor Verleumdung und Geifer überzufließen, hat man in Russland selbstverständlich nichts weiter als das Viertellächeln der Geringschätzung, wie sich's gebührt.

      Wahr ist es, dass jeder, der im Auftrage bürgerlicher Zeitungen, Zeitschriften oder Verbände nach Russland kommt, ohne sonderliche Liebe, dagegen mit unverhohlenem Argwohn empfangen wird. Eine gewisse, in entscheidenden Situationen erprobte Gesinnung gegenüber dem Sozialismus kann als Grundbedingung für die Gewährung der Einreise gelten. Aber ich habe es selber erfahren, auf welche Weise sich einer und der andere diese Einreiseerlaubnis erschlichen hat, der dann, kaum über die Grenze geraten, von den Russen erkannt und mit heftigem Griff in Gewahrsam genommen wurde. Besonders einigen mir gut bekannten Leuten, Herren und Damen, darunter Amerikanern, war es so ergangen. Ich war entsetzt, als ich bald nach dem Betreten russischen Bodens von ihrer Festnahme unterrichtet wurde. Kurz darauf erhielt ich untrügliche Beweise für das Doppelspiel, das sie getrieben hatten, und dessen sie überführt worden waren.

      Es kann wohl nur eine Meinung, nur ein Urteil geben über Menschen, die sich mit sorgfältig verheimlichten Aufträgen in ein blockiertes, von inneren Krämpfen und erbarmungslosem äußeren Krieg durchschütteltes Land, in dem eine neue Welt sich vorbereitet, in dem 150 Millionen Menschen geistig befreit worden sind von jahrhundertelanger dumpfer Unwissenheit, einschleichen, um ihre kleinen privaten Interessen zu befriedigen. Zehnfach aber, hundertfach muss man solches Treiben verurteilen, wenn sich Publizisten seiner schuldig machen. Die Publizistik dieser Zeit hat die Aufgabe, Klarheit zu verbreiten, schonungslos und getreu das Sublime wie das Entsetzliche, aus dem diese Zeit sich zusammensetzt, darzustellen und zu verkünden. Wer heute nicht wahr und klar zu reden weiß, mit geheimen Plänen und Instruktionen in der Tasche lächelnden Mundes sich unter ein gequältes Volk mengt, begeht das Verbrechen wider den Geist, für das Kerker nur eine gelinde Strafe ist. All dies muss ich voraussenden, weil ich selbst im Auftrage eines bürgerlichen Konzerns, des „United Telegraph“, der der großen amerikanischen Zeitungsorganisation „United Press“ affiliiert ist, nach Russland kam und die Zweideutigkeit, in die manche Vorgänger uns Nachfolgenden versetzt hatten, lange Zeit zu spüren bekam und zu büßen hatte.

      Hindernisse anderer Art türmten sich mir noch in den Weg. Ich will eines kurz schildern, weil es charakteristisch ist für die unvorhergesehenen Verquickungen und Verstrickungen, in die der ausländische Publizist gerät, der seinen rechten Weg gehen möchte. Mancher Schriftsteller gibt einem wohlfeilen feuilletonistischen Spieltrieb allzu willig nach, würzt seinen Bericht mit kleinen intimen Anekdoten, Witzen oder Seitenhieben, die der eine Mann im Kreml über den anderen Mann im Kreml dem Journalistenohr in einem Augenblick der guten Laune preisgegeben hat. Ich könnte ein Lied davon singen, in welche Kalamitäten mich noch vor dem Betreten Russlands und dann in den ersten Moskauer Wochen die scharfgespitzte Zunge Radeks gebracht hat. Radek hatte einem meiner entfernteren Vorgänger, einem Engländer gegenüber sich über ein großes Tier im russischen Auswärtigen Amt näher ausgelassen; er hatte dieses Tier unter die Langohrigen eingereiht. Der Vorgänger brachte die Äußerung wortgetreu und mit Nennung aller Namen in sein vielgelesenes Buch, und da ich als ausländischer Publizist dem Auswärtigen Amt unterstellt war, hatte ich als „Protégé Radeks“ natürlich die Folgen zu tragen. (Nicht ich allein.)

      Manch' einer hat sich eine Woche lang in Petersburg oder Moskau aufgehalten, ist dann nach Hause gefahren und hat ein Buch über Russland geschrieben. Es muss gesagt werden, dass die wenigsten unter uns, die Bücher über Russland geschrieben haben, der Sprache des Landes mächtig sind. Wie viele waren imstande, ihre Erfahrungen direkt aus dem Verkehr mit dem Volk zu schöpfen? Offizielle Vertreter der Staatsgewalt sind es zumeist, die den Fremdling über das System, die Zusammenhänge belehren. Die Volkskommissäre sind fast ausnahmslos ehemalige Emigranten und beherrschen die europäischen Sprachen glänzend. Sie sind mit Arbeit überbürdet, und man dringt nur zu kurzen Unterredungen bis zu ihnen vor. Der nächste Kreis um diese Führer ist aus verlässlichen Kommunisten gebildet, die zum überwiegenden Teil nur russisch sprechen. Man gerät nicht selten, und dies trifft besonders auf Ämter zu, die die sogenannten „Spezialisten“ beherbergen, an wortkarge, misstrauische und unwillige Funktionäre, aber auch an solche, die die Anwesenheit des Fremden gerne dazu benutzen, ihrem Groll gegen das System, dem sie sich, um leben zu können, zur Verfügung gestellt haben, einmal freien Lauf zu lassen. Viele unter diesen haben im Ausland gelebt und schweifen gerne vom Thema, das zu erörtern man zu ihnen kam, ab, um gierig Nachricht über das verschlossene Europa zu fordern. Lenkt man sie dann an die Stelle zurück, von der man ausgegangen war, da öffnet sich zuweilen ein Ventil, durch das lange zurückgepresster Dampf zischend hervorspringt. Aber dieses Ventil bleibt nicht lange offen. Die erschrockene Seele klappt es bald zu, und man erhält aus angstvoll verzerrtem Gesicht nichtssagende vage Redensarten.

      Solche Psychose verfehlt nicht ihre Wirkung auf den Fremdling, der sich, wenn auch nur für kurze Zeit, in Russland aufhält. In diesem von Not, Begeisterung und Verzweiflung geschüttelten Land erlebt jeder einzelne das Schicksal der unsicheren Zukunft, der brennend gefährlichen Gegenwart. Gleich nach dem Überschreiten der Grenze spürt man eine gewissermaßen atmosphärische Last der Unfreiheit und des Misstrauens sich drückend auf die Seele niedersenken. Wie gerechtfertigt dieses Misstrauen ist, welch' guten Gründe die Kontrolle hat, erwähnte ich bereits. Immerhin ist der Zustand, in dem zu leben man gezwungen ist, oft schwer, zu Zeiten vollkommen unerträglich. Und das liegt nicht an der Kontrollbehörde allein, sondern an den Scharen der zum Teil ganz zweifelhaften Elemente, deren sie sich bedient, um die nötige Kontrolle auszuüben. Leute der Ochrana (der inoffizielle Oberbegriff für die verschiedenen Geheimdienste und die Geheimpolizei im zaristischen Russland) befinden sich unter ihnen; aber auch manchem neugebackenen Spür- und Bluthund bin ich begegnet.

      Der Publizist mit ausländischem Auftrag lebt in Häusern unter militärischer Bewachung. Filzpantofflige Schufte schleichen durch die Korridore, und um das Schlüsselloch sammelt sich der fettige Abdruck ungewaschener Ohren. Man ist irgendwelchen Winkeltorquemadas ausgeliefert. Einmal hatte ich im Zimmer einer Dame ein Lehrbuch für erwachsene Analphabeten hinterlassen. Als die Dame verhaftet, ihr Zimmer versiegelt wurde, reklamierte ich bei der mir unmittelbar vorgesetzten Behörde, nämlich dem sogenannten Hauskommandanten, dieses Buch, das ich zu meiner Arbeit benötigte. Tags darauf wurde das Zimmer durch die Beamten jener Kontrollbehörde, der „Allrussischen Außerordentlichen Kommission zur Bekämpfung der Gegenrevolution und des Wuchers“ (nach den Anfangsbuchstaben Wetscheka genannt), geöffnet, die Habseligkeiten der Dame durchkramt, und als ich mein Lehrbuch zurückforderte, wurde mir mit höhnischer Miene erklärt: dass die Dame das „Buch für Anarchisten“, das ich ihr gegeben hatte, sehr sicher verwahrt habe, denn man könne es nicht finden. Dies ist nur ein kleines Missverständnis, aber an solchem Haken ist schon


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