Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland. Arthur Holitscher

Читать онлайн книгу.

Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Russland - Arthur Holitscher


Скачать книгу
bedaure es sehr, dass wir keinen Kodak zur Hand hatten, als wir die große Tuchfabrik in der Nähe von Moskau besuchten. Sie fabrizierte Militärtuch, außerdem Tuche für Männerbekleidung und das sogenannte „technische Filztuch“ für die Papierfabrikation. Die Herstellung dieses letzteren – eines schweren weißen Filzes von zwei Finger Dicke, der eine endlose Rolle darstellt – erfordert eine bestimmte Maschine zum Aufrauen des Stoffes. Diese Maschine heißt Rollkardenmaschine und stellt einen Zylinder aus Metall dar, an dem distelförmige biegsame Stachelspulen befestigt sind. Das Tuch wird über diese Disteln gezogen, die die Fasern des Tuches aufrauen. Die Maschinen, die aus Bury in England bezogen worden waren, waren nicht mehr zu gebrauchen. Die Arbeiter in der Fabrik zimmerten nun aus Holz ähnliche Zylinder zusammen und befestigten an ihnen wirkliche Disteln, die aus einem entfernten Gouvernement herbeigeschafft und natürlich einer raschen Abnutzung ausgesetzt waren. Diese Maschine, primitiv, naiv, wie von irgendeinem Robinson Crusoe zusammengesetzt, kam mir als rührendes Symbol der Not und der Tugend des neuen Russlands vor.

      Ich besuchte diese Fabrik mit dem ehemaligen Volkskommissar der ungarischen kommunistischen Regierung, dem ausgezeichneten Volkswirtschaftslehrer Professor Varga.

Grafik 37

      Varga Jenő – 1879 – 1964

      Wir fuhren unangemeldet dort hinaus und konnten einen genauen Einblick in das Getriebe so der Arbeit wie der Verwaltung gewinnen. Von 6.100 Spindeln arbeiteten zurzeit nur 3.000. 1.600 Arbeiter lebten mit ihren Familien auf dem Gebiet um die Fabrik. Viele Maschinen standen still, weil es an Werkzeugen mangelte, die fehlenden Bestandteile zu erneuern. So z. B. musste der endlose Filz, von dem ich sprach, da die Maschinen zum Zusammenweben des Filzes nicht funktionierten und nicht zu ersetzen waren, von Hunderten von Arbeiterinnen zusammengewebt werden. Da saßen sie nun auf langen Bänken in einer Reihe und fügten mühselig Faden um Faden der beiden Enden des Tuches zusammen. Eine unendlich monotone und mühselige Arbeit, bei der es zu vermeiden war, dass Knoten in das Tuch gelangten, weil dann das Papier, das über diese Tuche laufen muss, natürlich zerrissen wäre. Mir fiel bei dieser Verrichtung ein Wort ein, das ich in Moskau gehört hatte: „Wenig Maschinen, viel Menschen – viel Maschinen, wenig Menschen. Unser Problem ist einfach: wir haben enorme Mengen Menschen, wir brauchen die Maschinen nicht.“

      Die Arbeiterinnen dieser Fabrik hatten pro Tag ein Minimum von 7½ Arschin Gewebe abzuliefern, erhielten dafür einen Minimaltagelohn von 121 Rubeln 20 Kopeken. Um die Produktion zu heben, wurde ein Prämiensystem eingeführt, welches die Bezüge bis zu 400 Prozent des Lohnes steigern konnte. Zu Zeiten der erhöhten Produktionsnotwendigkeit wurden 40 Überstunden monatlich bei 25 monatlichen Achtstundentagen geleistet. Vor der Einführung des Prämiensystems hatte bei den männlichen Arbeitern die tägliche Produktion einen Durchschnitt von 12 Arschin betragen, nach der Einführung des Prämiensystems betrug der Durchschnitt 15 bis 17 Arschin. Jeder Beamte und Arbeiter hat pro Kopf seiner Familie Anspruch auf 11 Szazn Landes zur eigenen Bebauung im nächsten Umkreis der Fabrikniederlassung. Das hatte seine Vorzüge und Nachteile. Da die Lebensmittelbelieferung oft eine gänzlich ungenügende war und zumal die Arbeiterinnen vor Unterernährung und Müdigkeit kaum mehr zu arbeiten vermochten, durfte man nichts dagegen haben, dass sich ein Teil des Betriebspersonals halbe Tage lang unentschuldigt auf den Feldern umhertrieb, um Rüben, Kartoffeln und andere Erdfrüchte anzubauen, zu pflegen und einzuheimsen. Gegen diese notgedrungene Sabotage der Produktion half nur das mechanisch erhöhte Prämiensystem. Doch war die Stimmung unter der Arbeiterschaft eine vorzügliche. Sie wussten ja, dass etwas sich geändert hatte, dass sie für sich arbeiteten, und das half ihnen über manche Entbehrung, Müdigkeit und Kummer hinweg.

      Eine Schar hübscher, gut gekleideter und fröhlicher Kinder stand um unser Automobil, als wir kamen und gingen. Im Klubzimmer, in den Speisesälen, in dem Kinderklub der Arbeiterheime hingen Bilder und Fahnen mit Wahlsprüchen an den Wänden; ein Theater sah man, dessen Dekorationen von den Arbeitern selbst gemalt worden waren. Das Programm der letzten Aufführungen zeigte Stücke von Tschechow und Tolstoi. In einem kleinen Atelier standen naive Ton- und Holzskulpturen, die begabte Arbeiter in ihren Mußestunden ausgeführt hatten. Ein Sanatorium mit vorzüglich gehaltenen Räumen für Operationen, Wöchnerinnenstuben und Apotheke wies erstaunlich gut funktionierende Einrichtungen auf, der Oberarzt verfügte sogar über chirurgische Geräte; wie uns im Vertrauen mitgeteilt wurde, waren diese durch den Schleichhandel erstanden; auch war, was in Russland noch seltener ist, Chloroform vorhanden.

      Im Betriebsrat saßen nur Arbeiter; kein Beamter. Der Vorsitzende war Kommunist. Doch ist das nicht unbedingte Regel. Es gibt Fabriken, in denen kein Kommunist im Betriebsrat sitzt; nur war diese eben eine der wichtigsten in der Nähe Moskaus und stand in direktem Zusammenhang mit der Zentralstelle für Textilversorgung des Landes. Uns hatten zwei Genossen begleitet, ein älterer, mit der Kontrolle dieser Fabrik im Moskauer Textilkomitee beauftragt, und ein jüngerer, der im Zentrotextil, der obersten Stelle für die gesamte Produktion des Reiches, die verantwortungsvolle Stelle des Leiters der gesamten Wollabteilung innehatte. Beide Genossen waren ehemalige Angestellte der großen Fabrik und standen noch in einem freundschaftlichen und vonseiten des alten, expropriierten Besitzers patriarchalischen Verhältnis zu ihrem ehemaligen Arbeitgeber.

      Weniger günstige Eindrücke hatten wir, als wir im Büro der Fabrik mit den führenden Beamten zu sprechen anfingen. Der Leiter des Büros, ehemaliger Direktor der Fabrik, seit zwanzig Jahren in derselben Tätigkeit, gab ohne weiteres zu, dass seine Bücher nicht ordentlich geführt seien; außerdem konnte er über die Produktionsmengen, die Rohstoffe, die Quantitäten der Verarbeitung nur vollkommen vage und verlegene Auskunft erteilen.

      Nach Iwanowo-Wosnessensk fuhr ich als Mitglied einer kleinen Gruppe, die unsere wunderbare Klara Zetkin begleitete. Iwanowo-Wosnessensk ist eine der größten Industriestädte Russlands, das Herz des revolutionären proletarischen Russlands. Hier herrschte unter der Arbeiterschaft Jubel ob des Besuches der seltenen Frau.

Grafik 39

      Clara Zetkin – 1858 – 1933

      Auch Angelika Balabanoff befand sich in unserer Gesellschaft.

Grafik 41

      Angelika Balabanoff

      Wir wurden mit militärischen Ehren empfangen. Die Rote Armee stand auf dem Bahnhof, die Militärkapelle spielte die Internationale, und wir nahmen eine Art Parade ab. Weinende Frauen begrüßten und küssten Klara und Angelika, die vom Trittbrett des Waggons Ansprachen an die Versammelten hielten.

      Die Fabrik, die wir am nächsten Tage besichtigten, hatte im Frieden enorme Mengen von Kattunstoffen nach dem näheren und weiteren Orient geliefert. Die Musterbücher der Fabrik wiesen eine schier unglaubliche Fülle von buntesten Drucken auf. Alle Urformen indischer, chinesischer, persischer Dekoration fanden sich in diesen Musterbüchern vereinigt. Jetzt wurden natürlich Varianten von nur ganz geringer Zahl ausgeführt. Doch fanden wir schon neue Zeichnungen in einem sauberen, volkstümlichen Stile, der dem Geschmack des Proletariers angemessen schien. Im Hofe der Fabrik, die seit zwei Wochen erst wieder in Gang gesetzt worden war, im Frieden 4.500, jetzt nur 2.000 Arbeiter beschäftigte, lagen noch Berge von Granaten. Die Fabrik war nämlich im Kriege auf diesen angenehmen Produktionszweig umgestellt worden. Das ganze Teufelszeug rostete nun unter der dreimal wiederholten Schneeschicht. Iwanowo-Wosnessensk besitzt 210 Fabriken und ist, wie gesagt, das Zentrum der Kattunfabrikation Russlands. Durch die neue Produktionsweise sind jetzt alle für die Fabrikation von Textilwaren bestimmenden Bearbeitungsstellen vereinigt, während früher der unsinnige Zustand herrschte, dass man einen Stoff, der an einem Ort gewebt wurde, Tausende von Meilen weit an einen anderen Ort zur weiteren Bearbeitung, dann wieder quer durchs Land zum Dekatieren usw. herumschicken musste. Von den 210 Fabriken sind es zwanzig große, die gegenwärtig in Betrieb stehen. Kleine Betriebe sind natürlich gesperrt, da die Konkurrenz der Fabrikanten und die Privatinitiative mit dem Privateigentum aufgehört haben.

      Auch hier sahen wir viel Heroismus der Arbeit und viel rührendes Elend. Blasse Frauen stürzten auf unsere Zetkin zu, zeigten ihre Bastschuhe – draußen hatten gerade


Скачать книгу