China – ein Lehrstück. Renate Dr. Dillmann
Читать онлайн книгу.eindringlich davor, die Bedeutung zu unterschätzen: Zugang zu öffentlicher Auftragsvergabe, Subventionen, Kreditbedingungen, Zugang zu Handelsplattformen. Ausländische Unternehmen werden dabei „wie die chinesischen behandelt“; es sind also keine Privilegien für sie vorgesehen, was ebenfalls offenbar Anlass zu einiger Besorgnis ist. Vieles ist bei diesem Regierungsvorhaben noch nicht ganz klar. Das betrifft z.B. die Stellen, die berechtigt werden, Daten zu sammeln – dabei ist die Rede von verschiedenen Ebenen (Provinzregierungen, aber auch privaten Anbieter, teilweise von einem regelrechten neuen „Marktsegment“). Wie in China üblich, wird mit der Idee auch einfach mal experimentiert und ermittelt, welche (staats-)nützlichen Resultate dabei herauskommen oder eben nicht. Es kann sein, dass es sich – neben der oben behandelten volkserzieherischen Absicht – im Wesentlichen um eine Art staatlich betreuter „Schufa“ handelt, also einer Prüfanstalt bezüglich der Kreditwürdigkeit; so etwas gab es in China bisher nicht. Es kann aber auch sein, dass sich die Volksrepublik mit ihrem „Gesellschaftlichen Bonitätssystem“ eine neue und effiziente Methode der Marktsteuerung und Marktanpassung schafft.
Angesichts dessen, dass die nationale Akkumulation mehr und mehr in den Händen privater Investoren liegt37, bastelt sich die Kommunistische Partei eventuell einen neuartigen Hebel, eine „materielle Stimulation“ (wie es in den Zeiten sozialistischer Wirtschaftsplanung einmal hieß), um ihre Vorstellungen davon, was eine national erfolgreiche Geschäftstätigkeit berücksichtigen soll, zum Zug zu bringen – automatisiert, ohne Einfluss eventuell bestechlicher Beamter, per Änderung des Algorithmus jederzeit im Sinne einer neuen Problematik veränderbar.
„Das Gesellschaftliche Bonitätssystem verkörpert Chinas Vision, ein extrem leistungsfähiges und zugleich anpassungsfähiges Wirtschaftssystem unter politischer Führung zu schaffen. Wird das System wie geplant umgesetzt, kann es zu einem hoch komplexen und ausgefeilten Modell für eine IT- und Big-Data-gestützte Marktregulierung werden. Dies würde zum einen zu einer tiefgreifenden Umgestaltung der chinesischen Wirtschaft führen. Zum anderen erhielten die Entscheidungsträger in China hiermit ein Instrument, mit dem sie auf anstehende soziale und umweltpolitische Herausforderungen sowie auf neue Technologien und industrielle Entwicklungen wirksam und schnell reagieren können. Die chinesische Regierung wird versuchen, das Gesellschaftliche Bonitätssystem dazu zu nutzen, Investitionen in innovative Technologien zu lenken und Unternehmen zu einem Verhalten zu bewegen, das für die Lösung von sozialen und umweltrelevanten Problemen hilfreich ist. Dies wiederum könnte dazu führen, dass Entwicklungsstufen übersprungen, innovative Geschäftsaktivitäten forciert und die Fähigkeit der chinesischen Gesellschaft gestärkt wird, sich schnell an nicht vorhersehbare Veränderungen anzupassen. Im Vergleich dazu würden westliche Marktwirtschaften träge und hochgradig fragmentiert wirken mit einer geringen Beweglichkeit und Durchsetzungsfähigkeit sowie fehlender langfristiger Strategien. Dieser Vision der chinesischen Führung entsprechend, würden liberale Marktwirtschaften letztlich nicht mit Chinas einseitig ausgerichtetem Ansatz konkurrieren können.“ 38
Hier hört man jedenfalls deutlich die Befürchtung des deutschen Konkurrenten, dass man irgendwie ins Hintertreffen geraten könnte. Angst also, ein neues Erfolgsinstrument zu verpassen, und auch ein wenig Neid – das übersetzen Journalisten fürs Volk in die Horrordarstellung vom „irren Kontrollsystem“ …
Umfragen zufolge ist die chinesische Bevölkerung übrigens mehrheitlich für die Einführung dieses Systems. Das ist kein Wunder, denn in der Tugend, die Mitmenschen zu mehr Anstand zu erziehen – eine Tugend, die mit der zunehmenden Verfestigung einer kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft immer mehr gefragt ist! – steht die chinesische Bevölkerung der deutschen sicher in wenig nach. Und wenn den Staatsbeamten mehr auf die Finger geguckt und diese Figuren auch einmal abgestraft werden, freuen sich sowieso alle Untertanen dieser Welt. Dass aber auch die Unternehmer staatlich kontrolliert und gegängelt werden sollen – mit dieser Auffassung scheint Chinas Volk doch immer noch arg sozialistisch geprägt!
Finanzmarkt und Währung
Auch in dieser Sphäre haben wesentliche Veränderungen stattgefunden. Kurz zusammengefasst beinhalten diese:
Das Wachstum des chinesischen Kapitals beruht auf Krediten der großen Banken, der staatlichen Haushalte und der sogenannten „Schattenbanken“. Die Bedeutung der Schattenbanken (und damit die Rolle privater Kreditgeber) hat dabei stark zugenommen: Es handelt sich um Banken außerhalb des regulären Bankensystems (damit auch außerhalb staatlicher Vorgaben und Kontrollen), die ihre Kredite vor allem an private Unternehmen vergeben und bei denen sich McKinsey zufolge etwa 30 % der chinesischen Schuldforderungen versammeln.
Im Unterschied zu den ersten Jahren seiner „Systemtransformation“, in denen der Kapitalimport auf produktive Anlage beschränkt wurde, lässt China inzwischen ausländische Finanzanlagen an seinen Börsen in Shanghai und Shenzen zu.
Die chinesischen Bezahldienste Alipay (520 Millionen Nutzer) und Wechatpay (300 Millionen Nutzer) lösen Bargeldzahlungen in China mehr und mehr ab.
Die chinesische Währung darf inzwischen an einigen Finanzplätzen gehandelt werden, z. B. in Frankfurt am Main für die Eurozone, aber auch in Tokio.
China bereitet die Herausgabe einer staatlichen Krypto-Währung vor und experimentiert damit zurzeit in den Städten Shenzen und Suzhou. Die Analyse dieser Entwicklungen und ihrer Bedeutung (unter anderem: begriffliche Bestimmung einer staatlichen Krypto-Währung, der Krisenträchtigkeit des heutigen chinesischen Kredit- und Finanzsystems, der Staatenkonkurrenz in Sachen Kredit und Kreditgeld/Währung) soll allerdings vorläufig auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden – unter anderem deswegen, weil in diesem Bereich noch vieles „in der Schwebe“ ist.
Zwischenfazit:
China hat sich in nur vierzig Jahren vom Exportland für Textilien und Spielzeug über Haushaltsgeräte und Fernseher inzwischen zum Hochtechnologieland fortentwickelt, das den bisherigen führenden westlichen Kapitalen auf einigen Zukunfts-Feldern (E-Mobilität, Smartphones, 5-G-Technologie) bereits ebenbürtig wenn nicht voraus ist. Aus den einstigen Inseln kapitalistischer Produktion, den Sonderwirtschaftszonen, hat Chinas Regierung eine fast flächendeckende Akkumulation gemacht, die sie unter Einsatz der im Export verdienten Mittel zielstrebig ausweitet und vorantreibt. 775 Millionen Erwerbstätige stehen schon jetzt täglich an den Baustellen, Werkbänken oder in den Büros im Dienst am Profit ihren Mann bzw. ihre Frau.
China wird die USA in wenigen Jahren nicht nur nach Kaufkraftparität, sondern in absoluten Zahlen als größte Volkswirtschaft der Welt ablösen; seine durch die schnelle Bewältigung der Pandemie erhöhte Attraktivität für ausländische Direktinvestitionen (mit 169 Mrd. US-Dollar war China in 2020 erstmals das größte Empfängerland) beschleunigt diesen Trend noch.
Die Abhängigkeit ihrer Ökonomie vom Exportgeschäft hat die chinesische KP nach der Finanzkrise von 2007 erfolgreich vermindert. Den Höchstwert von etwa 36 % Anteil des Exports am BIP im Jahr 2004 hat sie inzwischen auf unter 17 Prozent im Jahr 2018 gedrückt.39
B. Außenpolitik, Geostrategie, Militär
Chinas außenpolitische Agenda ergibt sich aus seinen heutigen ökonomischen Zielen (die grundsätzlichen Bestimmungen werden in Teil 2, Kapitel 10 behandelt). Seine Unternehmen brauchen für ihr Wachstum den sicheren Zugriff auf Rohstoffe und Absatzmärkte; die chinesische Führung sichert diesen Bedarf diplomatisch, handelspolitisch und geostrategisch ab.
Seit 2013 hat Xi Jinping die Initiative „Neue Seidenstraße“ (Belt And Road Initiative, BRI) ausgerufen. Mit dem Namen soll an die mittelalterlichen Handelswege und ihren großen Nutzen für alle – Kaufleute wie Länder – erinnert werden.
In den USA und bei den Führungsmächten der EU wird die chinesische Offensive nicht nur nicht begrüßt. Sie ist vielmehr einer der Gründe dafür, China als ernsthaften Konkurrenten einzustufen, dem mit neuer Härte entgegengetreten werden muss. An der „Neuen Seidenstraße“ und den Reaktionen der westlichen Nationen darauf lässt